Heft 4/2000 - Netzteil


»Nicht in Amerika«

Neue Medienkunst in Russland

Olga Goriunova


Jegliches Nachdenken über nationale Identität gelangt letztlich an einen absurden Punkt, wo der eigentliche Gegenstand dieser Überlegungen ungreifbar wird - das ist nicht weiter spannend. Dennoch werden KünstlerInnen, die in Russland leben, oder Kunstwerke, die hier entstehen, immer noch gerne als »russisch« bezeichnet, und das Etikett des »Anderen« klebt nach wie vor fest an der russischen Identität (obwohl sich niemand mehr an die Tradition des philosophischen Dialogismus erinnert, aus der es stammt - der Ausdruck selbst wurde mittlerweile zu einem Produkt der Massenmedien).

Doppelt absurd erscheint es, Netzkunst anhand der Nationalität der jeweiligen KünstlerInnen beschreiben zu wollen, da solche Versuche den Grundprinzipien der »net.art« an sich widersprechen: der Anonymität, dem Fehlen von Kultfiguren, dem Sich-Entziehen jeglicher Definitionen etc.1 Das Klassifizierungskriterium »Nationalität« fungiert als perfektes Manipulationsinstrument zur Unterscheidung zwischen »unserer« und »anderer« Kunst sowie als Grundlage für die Festlegung des jeweiligen Anteils, mit dem diese »Kunstarten« in Ausstellungen vertreten sein sollen, ebenso wie für die Kennzeichnung ausländischer KünstlerInnen, für die Bildung von Kuratierungseinrichtungen sowie für die begrenzten Möglichkeiten ausländischer KünstlerInnen im so genannten Westen.

Der Begriff der Nationalität entstand im Gefolge der Verbreitung der Drucktechnik am Ende des Mittelalters2 und wird durch die Neuen Medien möglicherweise eine dramatische Veränderung erfahren. Die Globalisierung schafft neue Formen von Identität (ein ergiebiges Thema für TheoretikerInnen der Neuen Medien)3, die geografische Identität wird obsolet.

Niemand kann genau sagen, was »russisch« eigentlich bedeutet. Meint es die Geografie, die lokale Situation (das klingt wie in einem Wetterbericht) oder - für ältere Menschen - die Relikte des Kalten Krieges? Die Neuen Medien richten sich an neue Menschen (nicht junge, sondern neue). Dieser Artikel befasst sich daher mit Netzkunst von Menschen, die in Russland geboren wurden und dort leben (mit Ausnahme von Pionieren wie Aleksej Shulgin) und geht auch auf die lokale soziale und wirtschaftliche Situation des Internet ein.

Die Entwicklung des russischen Netzes blieb lange Zeit reinen EnthusiastInnen vorbehalten, die Konzepte oder Sites erstellten oder sich nach der Arbeit noch in den IRC-Chat einklinkten. Der Kommerzialisierungsprozess - vor allem in Form der Vermarktung von bereits bekannten Sites (etwa www.anecdot.ru) - setzte später ein als in vergleichbaren Bereichen im Westen. Wirtschaftsunternehmen holten sich für ihren Einstieg ins InternetLeute, die mit den Kommunikationsaktivitäten im Netz sehr vertraut waren. (Die russische Cyber-Elite besteht vor allem aus wortorientierten Menschen und Personen von kultureller Bedeutung). Diese früher so enthusiastische Internet-Szene arbeitet heute zum Großteil für Finanzkonzerne oder politische Parteien und ist so indirekt in »schmutzige« politische Spiele verwickelt; dennoch versucht sie, den Anschein führender Autorität aufrecht zu erhalten. Die fließende, offene, freie Szene erstarrt immer mehr, weigert sich aber, dies zuzugeben. Aus den oben erwähnten Gründen sind in den letzten zwei Jahren mehrere ähnlich gelagerte Projekte entstanden4: »Physiognomien des russischen Internet« (http://www.ezhe.ru/FRI/index.html), »Die besten Leute im russischen Netz« (http://www.guelman.ru/obzory/gorniy.html#21), »Top 25« (http://www.inter.net.ru/13/6.html), »Dreißig Berühmtheiten« (http://cross.ru/ratings/pop100/pop-result2.htm).5 Auch zwei Internet-Akademien wurden gegründet (http://www.academia.ru/ und http://www.internetacademy.ru). Einige Personen, die beleidigt waren, weil sie nicht in die erste Akademie aufgenommen wurden, gründeten die zweite mit einer anderen Mitgliederliste.

Die NetzkünstlerInnen sind entweder bemüht, in diese geschlossenen, elitären Kreise vorzudringen, oder sie entziehen sich dieser Versuchung und richten ihre Aktivitäten ausschließlich an das anonyme Publikum im World Wide Web. Die erste Gruppe ist von geringem Interesse. Schauen wir uns lieber einige VertreterInnen der zweiten Gruppe an.

»The 21st century. The things long wished for« von Sergej Teterin (http://www.teterin.raid.ru/wishes) ist ein Multimedia-Projekt, das die Wünsche der Massen, den natürlichen Gang der Geschichte sowie Prinzipien wie Offenheit, Einfachheit und Kommunikation vereint. Die UserInnen waren aufgefordert, dem Künstler über Internet, E-Mail oder Pager ihre Wünsche für das nächste Jahrhundert zu schicken. So entstand mit dem Beginn des neuen Jahrtausends ein besonderer Raum der Kommunikation, der sich durch eine warme, gefühlvolle Atmosphäre auszeichnet. Die Site ist zwar voll mit allen möglichen Informationen, doch das Projekt an sich ist ziemlich simpel und nutzt einen primitiven Mechanismus, der auf der traditionellen Strategie der Massenmedien basiert: eine Idee verkünden, Menschen dafür interessieren, Rückmeldungen erhalten und diese nutzen. Heraus kam jedoch eine unerwartet reine und ehrliche Demonstration der utopischen Idee, dass Kommunikation und Offenheit die Menschen verbinden und »die Welt verändern« können. Tausende Wünsche wurden gesammelt, kategorisiert und auf der Projekt-Site veröffentlicht. Einer meiner Favoriten ist: »Ich möchte in Russland leben und nicht in Amerika.«

Namniyas Ashuratova (Andrej Velikanov)6 steht hinter zahlreichen Projekten, die sich ebenfalls mit kommunikativ-emotionalen Praktiken befassen. Beim »Enemy Processing System« (http://namniyas.org/enemy.asp) können UserInnen ihre Feinde definieren und ihrem Hass und Neid Ausdruck verleihen. Die im Durchschnitt meistgehasste Identität ist zur Zeit: männlich, Amerikaner, Deutscher oder Tschetschene, 16 bis 30 Jahre alt, Politiker oder Bandit. Ein weiteres Namniyas-Projekt ist das »Interactive Lexicon of JUXTA« (http://lex.namniyas.org/lexicon_e). Herkömmliche kulturelle Werkzeuge wie das Lexikon werden hier als interaktives spielerisches Interface eingesetzt, das den User in eine neumediale Version des Wort-Labyrinths versetzt - keine Chance, sich hier zu verirren. Die Arbeit setzt sich mit den Überschneidungen von Sprache und Internet auseinander und untersucht jene Worte, die die Menschen im Cyberspace benötigen und im Gedächtnis behalten.

»Koala« von Daniil Vasiliev (http://koala.mu.ru) ist ein Experiment mit einer speziellen, nicht-funktionalen Form von Web-Design mit witzigen Bildern. Daneben gibt es noch einige vorsichtige Ausflüge in die Ascii Art (http://www.uic.nnov.ru/~lmk). Wie überall, so findet man auch im ru-net Imitationen und Kopien herausragender Werke. Winking Pushkins Arbeit (http://www.sidor.ru/elka/pushkin) zeigt zum Beispiel einen offensichtlichen Bezug zur Form Art (http://www.c3.hu/collection/form). Sergej Teterin ging mit der Übersetzung eines Netzkunst-Projekts (http://art-online.ru/veress) noch einen Schritt weiter in diese Richtung: Zsolt Veress` Projekt des Geschichtenerzählens, das die Aktivitäten und Gedanken der ersten kreativen Internet-User veranschaulicht, ist heute fast völlig vergessen (ein Umstand, der einer gewissen Ironie nicht entbehrt).

Inzwischen ist eine jüngere Generation von neuen MedienkünstlerInnen auf den Plan getreten. Das Bildungsprogramm »Neue Technologien in der Kunst« des Instituts Pro Arte in St. Petersburg (http://www.proarte.spb.ru/index_eng.html), das vor einem Jahr als Nachfolgeinstitution des Soros Center for Contemporary Art gegründet wurde, beginnt nun Früchte zu tragen. Mit seinem »Antimgraphic«-Projekt hat Ivan Khimin eine neue Form der Bilderstellung erfunden (http://www.antimgraphic.narod.ru). Speziell verfasste Java-Scripts (die man mit Hilfe der Option »View Source« anzeigen kann) zeichnen Bilder, die weder gif- noch jpg-Format haben. Es sind einfach nur HTML-Tabellen, bei denen jeder Zelle unterschiedliche Farben zugewiesen sind. Sehr einfach und elegant. Die UserInnen sind eingeladen, eigene Arbeiten hinzuzufügen, die nach dem Beispiel von Ivans Bildern entstanden sind. Einen guten Schlusspunkt für meinen kurzen Überblick bildet das Manifest von Eldar Karhalev (http://www.karhalev.net/notepad.html), dessen optimistischer Stimme eigentlich nichts hinzuzufügen ist.

 

Übersetzt von Sabine Schmidt

 

1 Der Ausdruck »net.art« war ursprünglich eine Parodie auf die zahlreichen »-ismen«, die normalerweise als totalitärer Mechanismus agieren.

2 Laut Innis und McLuhan.

3 Zum Beispiel »Widerstandsidentität«. Vgl. Manuel Castells: The Power of Identity. Oxford 1997.

4 All diese Sites sind auf Russisch. Trotzdem kann man sich einen gewissen Eindruck verschaffen, wenn man die Namen und Fotos ansieht.

5 Ein frühes Alternativprojekt zu den Versuchen des Teilens und Herrschens im Internet ist das »Schwarze Quadrat« (http://www.lexa.ru:8101/lexa/black). Jedes Pixel des Quadrats bildet ein Hyperlink zu einem Server im .ru-Gebiet. Jede Site ist ein Punkt des Ganzen - Einheit, Gleichheit und Anonymität.

6 Sämtliche Informationen über Andrej Velikanov und seine Projekte finden sich unter http://velikanov.ru/default.asp.