Heft 1/2001 - Netzteil


Das Leben zurückgewinnen

Über das Projekt »life_sharing« der Gruppe 0100101110101101.ORG

Marina Grzinic


Das Internet-Kunstwerk oder, wenn man es anders sagen möchte, World Wide Web-basierte Projekt »life_sharing« präsentiert einen ungewöhnlichen Paradigmenwechsel - nicht von der langweiligen Eintönigkeit des Lebens zur ekstatischen Welt der Internetkunst, sondern im Gegenteil eine radikale Abkehr von den unzähligen aufregenden formalen Möglichkeiten des Web-Designs, den innovativen Homepages und Interfaces, die uns zu unterhalten versuchen, hin zur langweiligen, eintönigen Existenz selbst, zur lähmenden Eintönigkeit des Lebens, zur drögen Stumpfheit der alltäglichen Bürokratie, der elektronischen Korrespondenz, des langwierigen Aushandelns neuer Projekte.

Was es hier gibt, sind Übersichten und Unterverzeichnisse, Dutzende verschiedenartiger Dokumente, E-Mails, Entwürfe für laufende Projekte von 0100101110101101.ORG, Archive mit Texten von anderen Autoren mit Kommentaren der Gruppe, und so weiter. Es gibt Archive mit zahllosen E-Mails, halbfertigen Dokumenten und persönlichen Anmerkungen, dazu eine Auswahl theoretischer Essays - eine ganze Bank mit virtuellen Texten. Mit dieser Geste, die uns Einblick in jemandes Privatleben verschafft, wenn wir uns nur die Zeit nehmen, all die Pfade und Texte durchzuschauen - wer weiß, wie lange das dauern wird und wohin es uns am Ende noch führt -, erzeugen 0100101110101101.ORG ein Loch im Hirn der Maschine, eine fremdartige Situation, eine Irrealisierung des Computersystems und der Inhalte des sogenannten alltäglichen Lebens. So als hätten wir mit einem Mal Zugang zu dem konstant mikroskopisch verkleinerten Informationsspeicher eines Individuums bekommen, in der ganzen Schmutzigkeit und Geschäftigkeit von jemandes Leben. Als hätte er/sie uns die Möglichkeit verschafft, alles unter seiner/ihrer Haut zu sehen, sozusagen die Innereien seines/ihres Körpers, und auch die Innereien seines/ihres Computers. Eine anstößige und abstoßende, zugleich aber auch eine sehr machtvolle Geste.

Im Gegensatz zur obskurantistischen New-Age-These, das Internet und das World Wide Web würden uns neue Möglichkeiten bieten, Kunst auf natürliche Weise zu verbreiten und eine perfekte Form der Kommunikation zu finden, zeigt das Projekt »life_sharing« unmissverständlich, dass das Leben nicht aus tiefgründigen Erlebnissen besteht, sondern ein Artefakt ist, das selbst aus anderen Artefakten zusammengesetzt ist. Im Gegensatz zu der in den Massenmedien propagierten Idee, das Leben verwachse mit den Neuen Medien zu einer natürlichen Ganzheit, betonen die Visualisierungsprozesse von »life_sharing« die künstliche, mediatisierte, konstruierte und unnatürliche Beschaffenheit des menschlichen Lebens, der Gedanken und Emotionen. Zirkelstrukturen und Recycling-Methoden implizieren eine radikale Infragestellung von Originalität und Wiederholung, Realität und medialer Simulation.

Die besondere Technik von 0100101110101101.ORG besteht darin, zwei inkompatible Bereiche so zu überlagern, dass sie sich gegenseitig durchdringen: den symbolischen Bereich der Repräsentation, etwa ein Internet-Kunstprojekt mit einer bestimmten Struktur, und den Bereich des Lebens selbst, die unmittelbaren Nähe des Lebens, den unbehaglichen Punkt des permanenten Eindringens in jemandes Leben, die Teilhabe an allen Geheimnissen, die hier offen sichtbar und als Projekt vorgelegt sind. Das Alltägliche des Materials in »life_sharing« gewinnt eine fragmentierende, zersetzende Kraft gegenüber dem Leben selbst.

Im Gegensatz zum makellos reinen Raum der virtuellen Realität war die materielle Realität des Lebens schon immer ein Gegenstand des Unbehagens und der Abscheu, weil sie sich kaum in die Matrix des Cyberspace integrieren lässt. Die Kultur, das Heilige muss sich, wie Julia Kristeva erläutert, von dem Materiellen reinigen, es ausgrenzen und verbannen, um sich in der universalen Logik der Katharsis als das Unbefleckte und Reine darstellen zu können. Im Cyberspace ist das Materielle kein Gegenstand (Objekt), sondern ein Verworfenes (Abjekt); seine Existenz reduziert sich auf eine sinnlose, obszöne Intervention. »life_sharing« ist ein solches Abjekt - es erweckt den Eindruck, als wäre das, was man sieht, das Resultat eines Fehlers, eine sinnlose Situation. Etwas fehlt hier: das Hochglanz-Design, die kitschige Umgebung. Statt dessen sieht man nur Listen von Verzeichnissen und Dateien.

Eine solche sinnlose Intervention bezwecken auch jene Fehler, die in der Netzkunst als Konzept oder Strategie eingesetzt werden. Das Einfügen von Fehlern in perfekte simulierte Umgebungen kann daher als ein Anhaltspunkt für die Entwicklung neuer ästhetischer und konzeptueller Strategien gesehen werden, da der Fehler als ein Gegenstand des Unbehagens und Abscheus nicht in die Matrix integrierbar ist. Ein solcher Fehler im System ist schon der Name der Gruppe: 0100101110101101.ORG. Er zwingt die BesucherInnen der Website zu einem Prozess des endlosen Kopierens. Dieser fremdartige Name lässt kaum eine andere Wahl, als ihn immer wieder zu kopieren und einzufügen ? er ist zu schwierig, um sich ihn exakt zu merken. In diesem Namen zeigt sich also der Beginn von 0100101110101101.ORGs konstant eingehaltener Strategie der Erforschung von Methoden der Repräsentation im World Wide Web und der Artikulation des World Wide Web als ein (sinnloses) Archiv, verbunden mit der Frage der Autorschaft und des Kopierens, Einfügens, Entfernens und Löschens.

Um das Projekt oder die Projekte von 0100101110101101.ORG besser zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte der Organisation. In der Netzkunst-Community machten 0100101110101101.ORG erstmals mit dem »Raub« der privaten, geschlossenen Netzkunst-Galerie Hell.com auf sich aufmerksam: An einem Wochenende luden sie die gesamte Hell.com-Website herunter und übertrugen sie auf ihren eigenen Server, wo sie allen BesucherInnen zur freien Verfügung gestellt wurde. 0100101110101101.ORG machten auch »Versionen« oder »Remixe« anderer bekannter Netzkunst-Sites, zum Beispiel »Ars.Teleportacia«. Beeinflusst von den Methoden der Situationisten und vor allem der Neoisten (in den letzten Jahren mehrten sich in Italien Aktivitäten unter dem neoistischen Pseudonym) übertrugen sie deren Arbeitsweise auf das Internet.

Der undurchdringliche Code-Name 0100101110101101.ORG ist selbst eine künstlerische Praxis, die uns dazu drängt, die Matrix des Computergedächtnisses ständig zu wiederholen, die Nullen und Einsen, die Gehirnstruktur des Computers, wenn man so will, und die Offenheit der Internet-Maschine nachzumachen, in der es darum geht, die Geschichte, das Leben zu kopieren und wiederzuverwenden. Das Projekt um den gefaketen Künstler Darko Maver war auch eine solche Konstruktion. Darko Maver war aus Fotos konstruiert, oder genauer gesagt: aus fotografischen Dokumenten von realen Greueln, die in Mavers »Heimat«-Region in Ex-Jugoslawien verübt worden waren. Die Geschichte von Darko Mavers Leben und Tod begann 1998 in dem Web-Zine »Degenerated Art«, das 0100101110101101.ORG als Vehikel benutzten, um Informationen über einen mysteriösen Performance-Künstler zu verbreiten, der kreuz und quer durch Ex-Jugoslawien reiste, in Motelzimmern und leerstehenden alten Häusern wohnte, als ein Teil von inszenierten (wie wir heute eindeutig wissen) Berichten über Greuel und ethnische Säuberungen. Maver wurde 1962 in der Nähe von Belgrad geboren, er verließ die Kunstakademie und zog nach Ljubljana, später auch nach Italien. Er wurde im Laufe der Zeit mehrmals in Serbien und im Kosovo verhaftet und wieder freigelassen, immer unter dem Vorwurf anti-patriotischer Propaganda, und schließlich Anfang 1999 inhaftiert. Im Mai 1999 wurde bekannt gegeben, dass Darko Maver im Gefängnis unter rätselhaften Umständen zu Tode gekommen war.

Die Ähnlichkeit des Darko Maver-Projekts mit »life_sharing« besteht unter anderem in der Spannung, die dadurch erzeugt wird, dass man (infolge der offensichtlichen Vermischung von gefaketem Leben und wirklichen Orten und Daten) die Kunst wieder an das Leben zurückbindet. Wir erkennen hier, dass das Internet die Stelle des unmöglichen, realen Objekts des Begehrens einnimmt. Dem Internet eignet jedoch nichts Sublimes; es besetzt nur den strukturellen Platz, den verbotenen Ort der Lust. Verfügbarkeit, Unoriginalität und Reproduzierbarkeit sind die charakteristischen Eigenschaften, die wir ihm zuschreiben sollten, lautet die Botschaft von 0100101110101101.ORG. »life_sharing« entfaltet seine Stärke mehr auf der libidinösen als auf der konzeptuellen Ebene, mehr in Bezug auf die Art, wie wir unsere Unterdrückung »begehren«, als auf unsere rationalen Überzeugungen. Das Projekt zielt nicht darauf zu zeigen, dass das Leben etwas anderes sei, es soll vielmehr die Idee veranschaulichen, mit Widersprüchen zurechtzukommen, mit ihnen zu leben, sie auszuleben. Das heißt, dass es nicht darum geht, das Leben zu verlieren, sondern im Gegenteil es zurückzugewinnen, indem man den Ort neu durchdenkt und analysiert, an dem es erzeugt wurde/wird. 0100101110101101.ORG benutzen extreme Gegensätze, um aufzuzeigen, dass das Leben vollständig vermittelt, konstruiert, fabriziert ist und dass es eine spekulative Identität des Computerparadigmas mit dem Leben selbst gibt. Dass das Leben keine substantielle Kraft ist, sondern ein Puzzle aus Klischees - denn was sonst sind diese Massen von E-Mails, virtuellen Arbeitspapieren und so weiter? Sie erzeugen zusammengenommen keine neue Identität, sondern etwas viel Radikaleres: den absoluten Verlust der Identität. Das Subjekt ist gezwungen anzunehmen, dass es nicht der- oder diejenige ist, der/die es zu sein glaubte, sondern jemand/etwas anderes.

 

Übersetzt von Christoph Hollender

 

http://www.0100101110101101.org
Das Projekt wurde vom Walker Art Center, Minneapolis, in Auftrag gegeben und angekauft.

Literatur:

Marina Grzinic: »Video Processes of Re-appropriation«, im Buch zur CD-ROM-Edition »Artintact 4«. Karlsruhe, Stuttgart 1997.

Julia Kristeva, zitiert in: Mark Lajoie: »Psychoanalysis and Cyberspace«, in: Rob Shields (Hg.): »Cultures of the Internet«. London 1996, S. 165.