Heft 1/2001 - Lokale Szenen


Hieroglyphen der Zukunft

Jacques Rancière und die Ästhetik der Gleichberechtigung

Brian Holmes


»Wir sind kein Restposten, wir sind ein Gewinn«. Diesen Slogan las man Mitte der 90er Jahre in Zeitschriften, auf Transparenten der demonstrierenden französischen Arbeitslosenbewegung und Flugblättern der politischen Künstlergruppe »Ne pas plier«. Er bündelte sowohl die kritische Kraft als auch die subjektiven Forderungen der Bewegung in einen einzigen Satz. In einer Gesellschaft, die die Arbeitslosen von der Öffentlichkeit ausschloss und zu einer Art unsichtbarem Rest machte, der in den Statistiken gerade mal als Minus verbucht wurde, bedeutete »ein Restposten sein« (ausgestoßen, überflüssig sein), auf Schweigen reduziert zu sein. Ausgeschlossen: Das hieß kurz gesagt, aus einem System entfernt zu sein, das auf dem rechtlichen Status der LohnarbeiterInnen aufgebaut ist. Dann aber schlossen sich die Arbeitslosen zusammen und besetzten im Winter 1997/1998 in einer landesweiten Protestaktion einige Arbeitsämter. Damit drehten sie den Spieß um, tauschten die Vorzeichen und gaben sich selbst einen neuen Namen und zwar in einer Öffentlichkeit, die sie selbst bestimmten. Die Besitzlosen stürmten also die öffentliche Arena. »Wir sind ein Gewinn«, sagten sie und drangen mit diesem Satz durchs Fernsehen in die Wohnzimmer der Nation ein. Darüber hinaus bedeutete der Satz auch: »Auch wir werden zu Weihnachten Champagner trinken«.

Eine Möglichkeit, die Sprache der französischen Sozialbewegungen der 90er, und auch der im Moment entstehenden transnationalen Bewegungen, in ihrer ästhetischen Dimension zu verstehen, finden wir in der Arbeit von Jacques Rancière, die sich mit der Politik der Gleichberechtigung beschäftigt. In »La Mésentente« (engl.: »The Disagreement«, 1995) stellt Rancière die Philosophie des Regierens dem Skandal des Politischen gegenüber.1 Die Regierung erfüllt die ideale Ordnung, wenn sie administriert, managt und sich um die gesamte Bevölkerung zu kümmern versucht; die Umsetzung in der Realität geschieht aber durch die Polizei. Die Polizei hält die BürgerInnen auf den ihnen zugewiesenen Plätzen, exekutiert die Kosten-Nutzenrechnungen und verteilt die Shares in der Gesellschaft. Das Politische hingegen ist ein gegenläufiger Prozess, und es ist selten. Das Politische passiert, wenn sich die Ausgestoßenen erheben, die Kosten-Nutzenrechnungen als falsch bezeichnen und wenn sie jene Namen und Plätze ablehnen, die ihnen zugewiesen wurden (»wir sind kein Restposten«), um sowohl ihre Anteile an der Gesellschaft als auch solche Namen verlangen, die nicht nur ihre Identität bedeuten, sondern auch die Forderung nach allgemeiner Gleichberechtigung (»wir sind ein Gewinn«). Denn die Gleichberechtigung eines sprechenden Individuums mit jedem anderen, die grundsätzliche Voraussetzung für eine Demokratie, existiert nicht bloß abstrakt. Sie wird jedes Mal allgemein, wenn sie effektiv in einer neuen Sprache und einem neuen Forum bewiesen wird.

Gleichberechtigung ist die nicht begründbare Forderung einer machtlosen Minderheit nach den Rechten jeder anderen Gruppe in der Gesellschaft, kurz: die Forderung des »demos«, das Volk zu sein. Das ist allerdings eine Forderung, deren bloße Faktizität alleine nicht ausreicht. Sie muss ausprobiert und öffentlich verifiziert werden. Das ist auch der Grund, warum das Politische immer die Form einer Demonstration annehmen muss. Das öffentliche Zeigen der Forderungen ist ein logischer Beweis gegen die allumfassende Logik des Regierungsapparates, ein Beweis in Form der mobilen Präsenz der Masse gegen den festen Rahmen der Institution.

Rancières Beschreibung des Politischen war auf der Höhe ihrer Zeit. Sie nahm den Generalstreik der französischen Staatsbediensteten im Dezember 1995 vorweg, der massiv von der Öffentlichkeit unterstützt wurde, und sie begleitete später die Revolten der Obdachlosen, der Arbeitslosen und der »Ausweislosen«, dem »mouvement des sans«, die alle eine Neuverteilung innerhalb des sozialen Gesamtsystems, außerhalb des industriestaatlichen Buchhaltungssystems, forderten. Sie war aber auch gleichzeitig ein Schlüssel, der die Druckkabine zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen von neuem öffnen konnte.

In einem Essay kurz nach der Veröffentlichung von »La Mésentente« erklärte Rancière, dass das Politische immer eine unmögliche Identifikation mit »den Grundlagen des anderen«2 erfordere. Diese unmögliche Identifikation verlange wiederum nach einer neuen subjektiven Art des politischen Engagements. Ihr paradigmatisches Beispiel in Frankreich ist die Identifikation einer ganzen Generation der Linken mit jenen algerischen Demonstranten, die 1961 von der Polizei brutal in die Seine geworfen worden waren. Sich mit den ermordeten Algeriern zu identifizieren, bedeutete nicht für diese zu sprechen, was ja zu einer Zeit absurd gewesen wäre, in der ihre Landsleute in Algerien gerade eine Revolution zu Ende brachten. Es bedeutete aber, anstelle von ihnen in Opposition zu einer staatlichen Institution weiter zu leben, die bestimmte Bürger ausschloss, nämlich jene der ehemaligen Kolonien. Solch eine unmögliche Identifikation ereignete sich erneut im Mai 1968, als StudentInnen den folgenden transnationalen und transhistorischen Spruch skandierten: »Wir sind alle deutsche Juden«. Und dann noch einmal im speziellen rechtlichen und politischen Kontext der späten 90er Jahre in Form des öffentlichen, oft in Theatern ausgeführten Akts der Parrainage oder Leihelternschaft, in dem man quasi-familiäre und quasi-rechtliche Verantwortung für ein ausweisloses Individuum übernahm.

Diese theatralische Fiktion zeigt ebenso wie die »Poesie« des 68er-Slogans den spezifisch künstlerischen Aspekt politischen Handelns, der von Rancière auf ein paar erstaunlichen Seiten in »La Mésentente« skizziert wird. Er beginnt mit einer Replik auf Habermas` Hypothese, dass die Überraschung der ästhetischen Erfahrung, dieses Sich-öffnen auf die Welt vermittels der Metapher, durch normative Regeln legitimiert werden muss. Statt dessen postuliert Rancière, dass die unsichere Realität der Kunst, diese die Kunst definierende Brechung oder Übertragung von Bedeutung, ein inhärenter Bestandteil jedes politischen Streits sei. Dieser Streit hänge wenn nicht von der Realität, dann zumindest von der Legitimität eines jener fundamentalen Elemente ab, die ihn selbst konfiguriere (ihr Platz, ihr Objekt, ihre Subjekte). Es sei die platztauschende Funktion der Metapher (etwas oder eine Person anstelle etwas anderem oder einer anderen Person), welche die Schaffung oder Erweiterung der Gemeinschaft sprechender Subjekte ermögliche. Genau diese mögliche Erweiterung der Gemeinschaft sei die notwendige Grundlage jedes Arguments für Gleichberechtigung. Deshalb, so fährt Rancière fort, hingen moderne Formen der politischen Gruppen- und Subjektbildung geschichtlich mit dem Auftreten einer eigenen ästhetischen Dimension zusammen, die von jeder praktischen Manipulation von Gebrauchsobjekten unabhängig sei. Diese ästhetische Dimension sei eine unberechenbare, unendlich ausdehnbare Sphäre, die »eine Welt der virtuellen Gemeinschaft« definiere, »ein Verlangen nach einer Gemeinschaft, die über der vereinzelnden Welt der Ordnungsgewalt steht und allem erst ihren Gebrauchswert verleiht«3.

Metaphern sind die Hieroglyphen einer unbekannten Sprache, das Bedürfnis nach einer noch ungehörten Gemeinschaft. Als 1994 die Gruppe Ne pas plier zusammen mit der Arbeitslosenvereinigung APEIS (Association pour l`emploi, l`information et la solidarité) Marc Patauts anonyme Porträts hoch über die Köpfe der Menge hoben und man dieser einzelnen Gesichter über dem Meer der demonstrierenden Menschheit gewahr wurde, stellte sich nicht die Frage, ob diese meterhohen, auf Holzgestellen getragenen Fotografien tatsächlich reale arbeitslose Menschen darstellten. Die Frage war, ob ein soziales Anliegen über Einzelfälle hinaus ausgedehnt werden könne: Es war der Ruf nach einem völligen Umbau der Gesellschaft. Die Frage war weiters, ob nicht jedes dieser namenlosen Gesichter potenziell das Gesicht des ganzen »Volks der Arbeitslosen« sei, das das Recht zu Sprechen einfordert und ob man die gestikulierenden Debatten auf der Place de la Republique mit den Debatten in der Nationalversammlung vergleichen könne. Kurz gesagt, es war die visuelle Ambivalenz und die metaphorische Möglichkeit des »Einen-für-den-anderen«, die mit einem politischen Argument über richtige und falsche Namen verbunden war, über die gerechte oder ungerechte Aufteilung der Ressourcen, der Rollen, der sinnlichen Realität sogar. Anstelle einer Antwort verwies die Frage selbst bereits auf eine mögliche Zukunft, die innerhalb der existierenden Teilungen der Welt durch argumentative Logik im Zweigespann mit künstlerischen Metaphern ermöglicht werden könnte.

Ein Regimewechsel

Rancières Gedanken zum Politischen formulierten sich in Frankreich während des langen Schlitterns in Rezession und Rassismus, als der Status von Lohnarbeit zusammen mit den Versprechungen des Wohlfahrtsstaats in Fetzen zerrissen wurde. Sie entstanden, als Einwanderer und Einwanderinnen im Namen von Gewerkschaftsjobs gesetzlos wurden und die Arbeitslosen zu unmöglichen politischen Subjekten erklärt wurden. Darüber hinaus erzeugte die Angst vor dem flexiblen, transnationalen und vernetzten Regime, vor dem so genannten »Wirtschaftshorror«, originelle Protest- und Diskussionsformen. Eine Wunde platzte wieder auf, was sich auf dem Feld der politischen Ökonomie im Buch »Misère du présent, richesses du possible« von André Gorz manifestierte. Durch eine Analyse der Gründe für die Aufrechterhaltung einer Politik der ökonomischen Knappheit im Rahmen einer Gesellschaft von automatisierter Produktion, warf Gorz dort die Fragen der flexibilisierten Arbeit und der Arbeitslosigkeit auf das gesamte System zurück.

Diese Wunde scheint sich heute wieder geschlossen zu haben. La Mésentente hatte bereits gezeigt, wie bestimmte Formen des politischen Konsenses soziale Identitäten einfrieren und die zersetzenden Forderungen nach Gleichberechtigung eliminieren können. Es gibt drei dieser Formen des Konsenses. Da ist einmal die wohlfahrtsstaatliche Idee der Gesellschaft als Wechselspiel von »Partnern« (Gewerkschaften, Unternehmen, öffentliche Einrichtungen); weiters gibt es das neoliberale Konzept, dass es die Gesellschaft gar nicht gebe, sondern nur ökonomische Subjekte mit Bedürfnissen; zuletzt haben wir die multikulturelle Vision von getrennten, »balkanisierten« Gemeinschaften, die alle durch ihre unterschiedlichen Glaubensgrundsätze geprägt sind. Gemeinsam ist allen Modellen, dass sie jenen politischen Konflikt ausschließen, der früher von einer Gruppe ausging, die man »das Proletariat« nannte. Letzteres ist jetzt die neue Bezeichnung für den altertümlichen »demos« oder das »revolutionäre Volk«. Die französische sozialistische Partei hat, nachdem sie vieles vom Rassismus der Front Nationale integriert hatte, einen originellen Mix aus den ersten beiden Modellen gefunden: Sie intensiviert das neoliberale Programm der flexiblen, transnationalen Arbeitsverhältnisse und hofft damit, zur jener Art Lohnarbeit zurückzukommen, auf welcher der nationalstaatliche Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit aufgebaut war! Es ist gerade so, als hätte es die Kritik des »mouvement des sans« nie gegeben.

Statt dessen expandieren heute mehrere, im Grunde ganz ähnliche Bewegungen. Sie wuchern beim Versuch, ihre Gegner auf einer anderen Ebene wieder zu treffen: auf der Ebene der transnationalen Konzerne. Dieses Wuchern beinhaltet ebenfalls die unmögliche Identifikation mit dem anderen, der allerdings auch unmöglich weit entfernt ist: der Landarbeiter in Chiapas, der brasilianische Automobilarbeiter, der nigerianische »Stammesbruder« oder der indische Bauer. Um aber herauszufinden, wie es zu dieser Unmöglichkeit kommen kann und welche Rolle die Kunst in diesen Bewegungen spielt, sollten wir lieber mit etwas viel näher Liegendem beginnen, mit jener Sprachmaschine nämlich, die das transnationale System zusammenhält: dem Internet.

Die Linke hat das Internet über weite Strecken zurecht als jene Infrastruktur bezeichnet, die für das verantwortlich ist, was man »digitalen Kapitalismus« nennt4. Was linke KommentatorInnen aber vergessen (man fragt sich eigentlich, warum?), sind die außerordentlichen Möglichkeiten, die die einfachste aller Internet-Anwendungen, E-mail, für »literarische Tiere« wie uns (Zitat Rancière) bietet. Dadurch, dass große Teile der ehemaligen ArbeiterInnenklassen nicht nur eine bessere Ausbildung haben, sondern auch industrielle Disziplin ablehnen und dadurch aus ihrer alten Position in der Hierarchie gefallen sind, wurden sie angesichts der Zustände flexibilisierter Arbeitsbedingungen zu »immateriellen ArbeiterInnen« .5 Allerdings fanden sie sich auch im Besitz der Möglichkeit eines neuen Schreibwerkzeugs wieder. Und als sie sich beibrachten es zu benützen und jeden Tag mehr und mehr Anwendungsmöglichkeiten erfanden, was forderten sie dann im Widerspruch zur herrschenden sozialen Logik? Dass in diesem Raum potenziell alle gleich sind. Die virtuellen Wirklichkeiten der 90er Jahre ermöglichten eine Rückkehr jener Utopie, deren Entstehung Rancière bereits in seinen Thesen über die Selbsterziehung der Handwerkerklassen des frühen 19. Jahrhundert aufgeschrieben hatte: »So können wir also von einer Gesellschaft emanzipierter Individuen träumen, die eine Gesellschaft von KünstlerInnen wäre. Eine solche Gesellschaft würde die Kluft zwischen den Wissenden und den Unwissenden bzw. den Intelligenten und Unintelligenten schließen. Sie würde nur aktive Geister fördern: Menschen, die handeln, die von ihren Handlungen sprechen und damit all ihre Arbeit in Zeichen transformieren würden, die die Menschlichkeit in ihnen selbst und überhaupt allen signalisieren«6.

Dieser Traum musste natürlich mit dem kollidieren, was Rancière »die Gesellschaft der Verachtung« nannte. Im späten 20. Jahrhundert nahm diese die übliche Form der Enteignung der Sprache des Volkes und deren Ersetzung durch manipulierte Simulakra an. Aber genau als die durch neue Computertechnologien verheerende Dominanz des Finanzkapitals klar wurde und die Figur des »Shareholder« als dem einzigen berechtigten Teilnehmer an der New Economy klar auftauchte, nahm der politische Aktivismus eine neue Wendung, und es zeigten sich Brüche in der sonst so glatten Rhetorik der Konzerne und Regierungen.

Seit 1993 lanciert die anonym agierende Künstlergruppe ®TMark laufend Parodien in diesen ideologischen Mischmasch. Es handelt sich dabei um Consulting und Sponsoring für Konsument-Produkt-Sabotage in der Tradition von Aktionen der relativ unbekannten »Barbie Liberation Organization«, direkte Email-Kampagnen für subversive Tätigkeiten wie den »Call-in Sick Day« zum Feiern des ersten Mai (der in den angelsächsischen Ländern kein Feiertag ist) oder pseudo-offizielle Webseiten wie gwbush.com, voteauction.com und gatt.org7. Die ®TMark Webseiten, die sich hinter Oberflächen im Stile unternehmerischer Bürokratie mit faden Logos, ausdrucksloser Grafik und pompöser Sprache verbergen, haben einen glaubhaften Beginn, schwanken im Mittelteil und enden mit skandalösen Denunziationen durch exzessiven Gebrauch liberaler Wahrheiten. Unlängst übernahm eine andere Bewegung »Kein Mensch ist illegal« mit ihrer Kampagne zur »Deportationsklasse« dieselbe Strategie. Es gab eine Webseite, einen Plakatwettbewerb, Infopäckchen, Meilensammeln für SuperaktivistInnen, lauter Dinge eben, die Lufthansa-Aktionären die Möglichkeit geben sich zu informieren, wie viel es ihnen kosten könnte, wenn sie weiterhin illegale Flüchtlinge für die Polizei ausfliegen würden. In weiterer Folge bildete sich, als Parodie der »Oneworld« Fluglinienallianz, die fiktive Gruppe »Deporatation-Alliance«, bestehend aus ®TMark und vielen anderen.
In der Zwischenzeit stolperte eine Gruppe österreichischer Anwälte über die Seite der gatt.org und versuchte WTO-Chef Mike Moore als Aufputz für ihr Treffen in Salzburg zu gewinnen. »Mike Moore« lehnte ab, entsendete aber zwei Stellvertreter, die sich später als die »Yes Men« herausstellen sollten. Diese präsentierten dann den unwissenden Anwälten ein weitreichendes, aber schockierendes Programm zur Ausweitung des freien Handels. Der ganze Vorfall wurde auf Video dokumentiert (als eine Art »taktische Störung«, wie das der Aktivist Jordi Claramonte gerne nennt).

Durch Verstellung und Imagination produzieren Gruppen wie ®TMark einen Kurzschluss im Kreislauf zwischen der anonymen, abstrakten Gleichberechtigung der immateriellen Arbeit und dem subjektiven Exeptionalismus von Kunst. »Die Verstellung verhilft dem >privaten< Prinzip von Arbeit zu einem öffentlichen Auftritt. Sie bildet eine gemeinsame Bühne mit dem, was eigentlich die Eingrenzung jedes einzelnen an seinem Platz sein sollte«, schreibt Rancière in »La Partage du sensible«. Diese »gemeinsame Bühne« ist aber nicht eine Szene erstickender Einheitlichkeit, sondern eine des Dissenses. Die Verstellung transportiert »ohne legitimen Vater zirkulierende Sprachblöcke«, also literarische und politische Statements, die sich »der Körper bemächtigen und von ihrem Ziel abbringen« und die »zur Bildung von zur Allgemeinheit Sprechenden beitragen, welche die Verteilung der Rollen, der Territorien und der Sprachen in Frage stellen, kurz: von politischen Subjekten, die die etablierte Aufteilung des Wahrnehmbaren umstürzen.«8.

®TMark oder die »Deportationsklasse« sind zwei Beispiele, wie immaterielle ArbeiterInnen ihre öffentliche Stimme einfordern. Sie sind nicht nur ein nichtökonomischer »Share« gegen die Aktienmarktgesetze der »Shareholder«- Gesellschaft, sondern auch Vektoren einer unmöglichen Identifikation. Das ist aber nur die Spitze des politischen Eisbergs, denn die Ehe zwischen Kunst und Arbeit beginnt wohl kaum im Internet. Sie reicht zu etwas zurück, was Rancière »das ästhetische Regime der Künste« nennt, welches nicht zufällig am Ende des alten Regimes während des Übergangs zu den Demokratien entstand.

»Ästhetik« ist der Name einer verweigerten Differenzierung, in der Fakten nicht von Fiktion zu unterscheiden sind und in der die Untersten die Höchsten werden können und umgekehrt. Das ästhetische Regime der Künste zerstört das klassische Regime der Repräsentation mit all seinen Hierarchien, seinem Dekor und der strengen Trennung der Genres. Es zerstört auch dessen aristotelische Unterscheidung zwischen dem Chaotischen und zufälliger Geschichtsschreibung einerseits und gut konstruierter, plausibler Fiktion andererseits. Indem das neue Regime zuerst mit mimetischen und testimonialen Techniken wie z. B. realistischer Literatur und Malerei, Fotografie oder Kino arbeitete, schuf es die paradoxe Schönheit des anonymen Subjekts, von wem auch immer oder was auch immer: »Als Ahnung des Wahren wird das Gewöhnliche schön, weil es abseits vom Offensichtlichen zu einer mythologischen und phantasmagorischen Hyroglyphe wird.«9 Vor jedem »modernistischen« und »postmodernen« Programm macht das ästhetische Regime »Kunst zu einer autonomen Lebensform und bestimmt damit gleichzeitig die Autonomie der Kunst und ihre Gleichsetzung mit einem Moment in einem Prozess der Selbstorganisation des Lebens.«10. Das Verständnis von aktivistischer Kunst beginnt genau hier: beim Begriff der Selbstorganisation des Lebens.

Vorstellbare Zukunft

Die Originalität der Arbeit Rancières über das ästhetische Regime besteht darin, dass es klar zeigt, wie Kunst historisch wirksam und direkt politisch sein kann. Die Kunst erreicht das durch Fiktionen, d.h. durch das Zusammenstellen von Zeichen, die zwar zur Realität gehören, aber gleichzeitig für die Person, die sich durch diese Realität bewegt, lesbar sind. Es ist, als wäre die Geschichte ein Film ohne Ende, eine dokumentarische Fiktion, in der wir gleichzeitig mitspielen und zuschauen.

So könnte man auch ein Ereignis wie den »Carnival against Capitalism« interpretieren, der am 18. Juni 1999 von zehntausend AkteurInnen von »Reclaim the Streets« in London aufgeführt wurde. Ausgestattet mit Masken in vier verschiedenen Farben strebten Gruppen auf unterschiedlichen Wegen einem Punkt in der Stadt zu. Sie hielten Spruchbänder hoch und webten ihre mobile Musik und Sprache ins städtische Realitätsgewebe. Damit strickten sie an einer anderen Welt, die sich mit jener des Finanzkapitals verhedderte (und mit der unmittelbaren Welt der Polizei). Dieser 18. Juni gab einen Ausblick auf eine neue Geschichte mitten im Zentrum des Großkapitalismus. Allerdings gab es keinen privilegierten Blickwinkel für diesen Film, von dem aus man die Gesamtheit dieses »Kunstwerks« erfassen und seine Widersprüche reduzieren konnte, denn diese Idee hatte sich bereits nicht nur über ganz Britannien, sondern die Welt ausgebreitet. Durch Flugblätter, Internet, Mundpropaganda, durch weitläufige Zusammenarbeit und spontane Einfälle hatte die »Desorganisation« von »Reclaim the Streets« und »Peoples` Global Action« bereits die Möglichkeit einer neuen Welt gezeichnet, in der Kollektive in über 70 verschiedenen Ländern gegen dieselben abstrakten Prozesse des neoliberalen Kapitalismus protestieren konnten, und zwar unter vollkommen unterschiedlichen lokalen Bedingungen, aber am selben Tag. Hat der »Film« von Seattle, Prag usw. genau zu dieser Zeit dort begonnen, bei diesem »künstlerischen« Ereignis? Aber wo ist dieses »dort«? Und was war eigentlich dieses »Ereignis« genau?

Wenn anarchische künstlerische Demonstrationen wie die am 18. Juni politisch sein können, dann sind sie es deshalb, weil sie einen Dissens beinhalten, eine direkte Konfrontation mit der existierenden Aufteilung der Güter sinnlicher Wirklichkeit. Wenn sie aber auch ästhetisch sind, dann weil sie für die »funktionierenden« Subjekte, Objekte und Orte der Debatte eine Wolke der Verwirrung mit sich bringen. Sie erschaffen eine andere politische Bühne, wenn z. B. die DemonstrantInnen in London einen Hydranten öffnen, um symbolisch einen schon lange vergrabenen Fluss an die Oberfläche zu bringen. Oder wenn die sozialen Kräfte in Porto Alegre, die das winterliche ökonomische Forum in Davos ins warme Sommerwetter des Südens transferieren, die Agenda und die Jahreszeiten der kapitalistischen Globalisierung auf den Kopf stellen.

Sicherlich müssen solche Konfrontationen präziser, überlegter und expliziter werden, wenn die Forderung nach Gleichberechtigung auch eine Wirkung auf die momentane Aufteilung der Welt haben soll. Der ästhetische »Gewinn« der Demonstrationen muss den Weg zurück in die Situationen vor Ort finden, die die Arbeits-, Obdach- und Ausweislosen als spezifische Rahmenbedingungen bestimmen.11 Das ist auf globaler Ebene das riskante Spiel der extremen Linken von heute. Aber explizit zu werden heißt nicht die Sprache der GegnerInnen zu sprechen, nämlich neoklassische Ökonomie, denn das würde immer bedeuten, mit schlechteren Karten in einem ungerechten Spiel zu verlieren. Statt dessen sollte man es mit flexibler Nachahmung versuchen, die ihre Forderung nach Gleichberechtigung in der Öffentlichkeit beweisen will, eine Nachahmung, die zugleich neue Zeichen erfindet, neue Wege durch die Welt, neue politische Subjektivitäten.

 

Übersetzt von Tatjana Raskolnikowa

 

1 La Mésentente (Paris 1995). (In diesem Text werde ich Ideen Jacques Rancières zitieren und umreißen. Für die zeitgenössischen Beispiele politischer und ästhetischer Praxis und die Schlüsse, die ich aus ihnen ziehe, bin ich jedoch alleine verantwortlich - BH)

2 »La cause de l`autre«, in: Aux bords du politique. Paris 1998.

3 La Mésentente, a.a.O., S. 88

4 Siehe weiter: Dan Schiller: Digital Capitalism. Cambridge 1999.

5 Über die Verweigerung industrieller Disziplin und das Auftauchen des Immateriellen konsultiere man die Argumente und Verweise in Kapitel 3.3 und 3.4 von Michael Hardt und Toni Negri: Empire. Harvard 2000.

6 Le maître ignorant. Paris 1987, S. 120f.

7 Die beiden erst genannten Seiten wurden gezwungen, ihre Namen zu ändern und befinden sich jetzt zusammen mit den anderen Projekten von ®TMark auf ®TMark.com

8 Le partage du sensible (engl.: The Sharing and Division of the Sensible. Paris 2000), S. 68 bzw. S. 63f.

9 Ebd., S. 52

10 Ebd., S. 37

11 Rancière selbst schließt in La Mésentente wie folgt: »Es gibt eine weltweite Polizei und sie kann Gutes tun. Es gibt aber keine weltweite Politik« (S. 186). Hier wird der Bezug zu den militärisch->humanitären< Interventionen der »Weltgemeinschaft« im Laufe der 1990er Jahre hergestellt. Ich behaupte dennoch, dass der jüngste Reigen von »Antiglobalisierungsdemonstrationen« einen echten politischen Versuch darstellt, Widersprüche innerhalb der internationalen Finanzinstitutionen zu erzeugen, die ja heute de facto als Administration der ganzen Welt gelten können.