Heft 1/2001 - Lokale Szenen


Retranscrire une histoire passée

Interview mit dem französischen Künstler Olivier Zabat

Roger M. Buergel


Das Video »Zona Oeste« (1999) des französischen Künstlers Olivier Zabat feierte beim diesjährigen Filmfestival Rotterdam internationale Premiere. Wegen seiner 41 Minuten Spieldauer wurde es in einem Programm mit dem Film »If Only I« des Kanadiers Donigan Cumming gezeigt, der Sozialreportageschocker im klassischen Stil fabriziert: immer dicht dran am Geschehen, immer authentisch dank. Wackelkamera und schlechtem Ton. Auch »Zona Oeste« würde ausreichend Stoff für eine Sozialreportage bieten, dreht sich der Film doch um die alltägliche Gewalt in Brasilien. Zu Wort kommen in drei deutlich geschiedenen Teilen eine Gruppe jugendlicher Banditen, zwei Militärpolizisten und ein ehemaliger Prediger, der zur bewaffneten Kriminalität konvertiert ist. Alle Figuren sind vermummt und agieren in Innenräumen. Dank seiner Bildsprache aber unterläuft »Zona Oeste« jede sozialvoyeuristische Perspektive. Man kann sich das Geschehen nicht aneignen und daher auch nicht jenen Existenzmangel kompensieren, der die postdemokratischen ZuschauerInnengesellschaften westlicher Prägung kennzeichnet.

Roger M. Buergel: Was genau ist die Zona Oeste und wie wurde sie zum filmischen Sujet?

Oliver Zabat: Die Zona Oeste oder westliche Zone ist ein geografischer Teil von Rio mit einer hohen Dichte an Favelas. Sie ist kein Stadtviertel. Ich hatte mich 1996 in Frankreich um einen Platz in einem Auslandsprogramm mit dem Titel »Villa Mèdicis Hors-les-murs« beworben, weil ich in Brasilien gern eine Reihe von Interviews mit den EinwohnerInnen von Rio machen wollte. Mich interessierte der Kontrast zwischen dem Kult körperlicher Schönheit und der Gewalt, die in hohem Maße den Alltag bestimmt. All diese Interviews sind aber später weggefallen. Im Verlauf meiner Gespräche fiel mir auf, welche enorme Wichtigkeit die Figur des Banditen hat. Er verkörpert das Böse schlechthin. Ich bekam Lust, dieser Figur weiter nachzugehen.

Roger M. Buergel: Wie bist du in die Favelas gelangt?

Oliver Zabat: Durch Zufall oder Glück. Ich hatte bei den Interviews am Strand Leute kennen gelernt, die in den Favelas leben. Sie haben mich eingeladen. Ich bin sehr oft zu ihnen gegangen, auch zu ihren Familienfesten, aber ohne Interviews zu führen oder zu filmen. Durch sie bin ich dann mit einigen Banditen in Kontakt gekommen.

Roger M. Buergel: Der Titel des Films bezieht sich auf eine geografische Region, tatsächlich erfährt man aber nichts über diese Region im Sinne von Daten oder Informationen, ja man bekommt nicht einmal aufgeklärtes Zeitungswissen geliefert à la »Le Monde Diplomatique«. Die Kamera verharrt permanent in Innenräumen, manchmal in klaustrophobischer Nähe zu den Akteuren, manchmal bleibt sie an einer hellblau gekalkten Wand haften.

Oliver Zabat: Mir ging es in erster Linie darum, ein Empfinden auszulösen. Die Interviews selbst sind nichts weiter als die dokumentarische Grundlage zur Entwicklung eines Szenarios. Eine notwendige Grundlage allerdings, die integraler Bestandteil des Films bleibt, so dass die »filmischen« Formen auf dem gleichen Niveau repräsentiert werden wie die Informationsgehalte. Daneben dokumentiert der Film sicherlich auch die Einschränkungen, denen ich mich zu unterwerfen hatte: Es war klar, dass die Anonymität der Akteure gewährleistet sein musste, dass ich mich auf ihre Ansprüche einlasse und dass die Drehzeit äußerst begrenzt ist.

Roger M. Buergel: Im Gegensatz zu Anthropologen klassischen Typs, die ja häufig genug Sympathie für ihre Studienobjekte zeigen, werden deine Gesprächspartner und ihre Diskurse nie zu Gegenständen eines Wissens.

Oliver Zabat: Das liegt wohl daran, dass sie so offensichtlich agieren oder performen. Banditen haben eine Menge Tricks drauf; sie müssen wissen, wie man Leute erschreckt, wie man ihnen zusetzt. Zugleich haben zumindest die vier Jugendlichen und der ehemalige Prediger ein großes Bedürfnis, die Wahrheit über ihre Lebensverhältnisse zum Ausdruck zu bringen. Dazu greifen sie auf bestimmte Formen der Theatralisierung zurück, seien diese nun physischer oder verbaler Natur. Sie agieren wie Schauspieler. Das passiert aber weniger in den Momenten, in denen sie ihre Lebensumstände schildern, als in dort, wo sie Erlebnisse nachstellen, etwa bei der Reinszenierung der Morde, die sie angeblich begangen haben. Schließlich sieht man noch, wie sich die vier Jugendlichen am Ende ihrer Aufführung gegenseitig applaudieren. Da geht es nicht um Dokumentation, sondern um Mise en scène. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass es in diesem Milieu irgendeinen Raum zur Reflexion gibt. Dazu sind die Strukturen und Hierarchien zu rigide.

Roger M. Buergel: Kommen die beiden Militärpolizisten, die du im Mittelteil des Films interviewst, aus der gleichen sozialen Schicht wie die Banditen?

Oliver Zabat: Ja.

Roger M. Buergel: Man kann sich nicht recht vorstellen, dass die Polizisten ihren Diskurs über die Regulierung zynischer Verhältnisse in einem ähnlich mitreißenden, lyrischen Singsang vortragen könnten wie die Banditen.

Oliver Zabat: Das mag daran liegen, dass ich mit ihnen viel weniger Zeit verbracht habe.

Roger M. Buergel: Der Anspruch, dass die Schönheit auf Seiten der Wahrheit stehen muss, kommt im letzten Teil am deutlichsten zur Geltung. Der Prediger, der sich zu einem Leben als Bandit entschlossen hat, beherrscht die Kunst des rhythmischen, eindringlichen Vortrags vollkommen. Die Kamera läuft geradezu auf seine Seite über.

Oliver Zabat: Dieser letzte Teil des Films trägt den Titel »Disparos para o alto«, was soviel bedeutet wie »in die Luft schießen«. In einem herausgeschnitten Teil spricht der Prediger davon, dass man beim Beginn des Kokainverkaufs in die Luft schießen muss, um den Ansturm der Klientel zurückzuhalten. Das für mich Wesentliche war aber natürlich gerade die Konstruktion der Verbindung zwischen den geschäftlichen und den spirituellen Ambitionen.

Roger M. Buergel: Stehen die drei Teile - die jugendlichen Banditen, die korrupten Polizisten und der zum Banditentum konvertierte Prediger - zueinander wie These, Antithese und Synthese?

Oliver Zabat: Die drei Filme sind nicht im gleichen Zeitraum gedreht worden, es liegen vielmehr lange Intervalle dazwischen. Der erste Teil mit den vier Jugendlichen entspricht noch am ehesten dem Genre der Reportage, wo man die Leute nicht so gut kennt und die Fragen sehr allgemein gehalten sind. Aber ich habe für den Film kein Szenario entworfen. Die Teile verhalten sich eher wie Module, die in Form einer filmischen Collage miteinander verknüpft sind.

Roger M. Buergel: Stellt »Zona Oeste« ein Modell für künftige Produktionen dar?

Oliver Zabat: In meinem nächsten Projekt mit einem Mann aus Afrika, der Ende der Siebziger an verschiedenen Kriegen und Bürgerkriegen teilgenommen hatte und jetzt in Paris lebt, geht es mir noch stärker darum, zu einer gleichgewichtigen Beziehung zwischen Filmer und Gefilmtem zu kommen. Wie bei »Zona Oeste« geht es auch hier in hohem Maße um die Reinszenierung einer Geschichte und darum, die Rolle des Akteurs so auszugestalten, dass sie in die Autorfunktion einfließt. Diesen Übergang hat man beispielsweise in der Szene mit den jugendlichen Banditen, als sich die vier vor der subjektiven Kamera auf den Boden werfen. Die Szene wurde von mir konstruiert, aber es gab dann einen Punkt, wo sie alle zu lachen begonnen haben, ich die Kontrolle verlor und sie den Film übernahmen.

Roger M. Buergel: Wie entscheidend ist digitales Video für dein Verfahren?

Oliver Zabat: Abgesehen von der Frage der Produktionskosten, der Möglichkeit, allein zu arbeiten, spielt diese Technik eine entscheidende Rolle, weil sie kaum noch auffällt. Die Miniaturisierung der Technik gibt allen Akteuren mehr Raum und Mobilität, wobei ich keinen Wert darauf lege, die Kamera verschwinden zu machen. In »Zona Oeste«, aber auch im Projekt mit dem Afrikaner, ist das theatralische Benehmen der Akteure intim mit der Kamerapräsenz verknüpft.