Heft 1/2001 - Artscribe


Nika Spalinger/Shelly Silver: Caché parmi les feuilles

14. Dezember 2000 bis 18. Februar 2001
Museum für Kunst und Geschichte / Fribourg

Text: Marion von Osten


Der Blick fällt auf eine Person, die vor uns im Tram sitzt und aus dem Fenster schaut. Nah sind wir ihr, so nah, dass wir ihre Nackenfalten beobachten können oder die Sommersprossen auf dem Arm. Eine ältere Frau, die wir nicht kennen, nicht kennen lernen werden, ein junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren. Sie sitzen vor uns, laufen vor uns her. Menschen, die uns auf einer Treppe entgegenkommen, auf einem Fahrrad die Straße entlang fahren. Eine Frau, deren hektisches Rauchen mit schwarzlackierten angenagten Fingernägeln durch ein Zugfenster beobachtbar wird für ein paar Minuten, bis der Zug anfährt. Bilder, die wir nicht entschlüsseln, denen wir keine lineare Geschichte zuordnen können. Bilder und Ereignisse, die uns bekannt sind, wenn wir uns in der Stadt bewegen, wenn wir den Zug, den Bus erwischen müssen, wenn wir aus einem Café schauen. Immer wieder Menschen und deren Handlungen, die an uns vorüberziehen. Fragmente. Drei Frauen, die an Haltstellen auf einer Bank sitzend warten, mit sich selbst beschäftigt, nervös in ihren Haaren fingern, rauchen. Auch Seltsames geschieht: Ein Kind wird von seiner Mutter am Kopf hochgezogen und dabei leicht vom Boden abgehoben und wieder abgesetzt, dann beginnt die Mutter wieder - und der Loop geht von vorne los.

Beunruhigend alltäglich sind die Videoloops, die die New Yorker Filmemacherin Shelly Silver und die Berner Künstlerin Nika Spalinger in einem gemeinsam gestalteten Environment im Museum für Kunst und Geschichte parcoursartig, fast wie in einem labyrinthischen Garten arrangiert haben. Wir passieren einen Gang und stoßen auf das nächste Videobild, einen Monitor beziehungsweise eine Projektion. Wir bewegen uns durch eine künstliche Passage und bleiben, nachdem wir über eine Treppe und einen nächsten Gang gegangen sind, bei einer kleinen Projektion hängen, die unseren Blick zurückwirft. Wir schauen auf die untere Körperhälfte eines kleinen nackten Mädchens, das im Sandkasten in einem öffentlichen Park oder Schwimmbad mit Wasser spielt. Die Kameraperspektive hat etwas Verbotenes. Wir sind zu nah dran an diesem Kinderkörper, das Wasser könnte Urin sein. Auf dem Rückweg, die Treppe aufwärts, stößt man auf den einzigen abgeschlossenen Innenraum, der sich durch die Installation der unbeleuchteten Gänge ergibt. Tritt man dort durch eine Tür, befindet man sich in einem kleinen Ausschnitt eines französisch anmutenden Platzes: Zwei weiße Bänke, Rücken an Rücken auf Kies gestellt, in einem überhell ausgeleuchteten weißen Raum, der wie ein Ausstellungssetting in einem Naturhistorischen Museum, oder vielleicht besser: wie ein Filmset wirkt.

Die Installation, die Nika Spalinger und Shelly Silver in den durchaus schwierig zu bespielenden Ausstellungsräumen im Museum Fribourg gemeinsam entwickelt haben, stellt nicht nur die Frage nach dem Verhältnis der AkteurInnen zum öffentlichen Raum und dem Ausbau von Sicherheits- und Kontrollapparaten und deren Effekten, wie es uns heute bekannt ist. Vielmehr thematisiert diese Arbeit die Position der ZuschauerIn, der ObservatorIn, der BeobachterIn selbst, ebenso wie die der Beobachteten, der/des Observierten. Ist diese Kameraperspektive voyeuristisch oder bin ich es? Ist der Raum, der nostalgisch seine weißen Holzbänke zum Verweilen anbietet, eine Überwachungssituation? Sind die Bilder, die ich sehe, gestellt oder real? Fühle ich mich im hellerleuchteten Raum mit den Sitzbänken wirklich unwohl? Die Installation beantwortet diese Fragen nicht einfach. Im dunklen Gang treten uns Ereignissfragmente entgegen, die durch die einfach Montage als Endlosloop fast mysteriös werden. Erst die Bewegung der BetrachterInnen durch die Installation kann die einzelnen Bilder vielleicht zu einer Geschichte zusammenfügen. Die vorgefundene Situation ist nicht abgeschlossen, sie muss aktiviert werden, um ihren Sinn zu entschlüsseln. Die Installation »Caché parmi les feuilles« (Verborgen zwischen den Blättern) stellt einerseits die Frage nach dem unangenehmen und peinlichen Gefühl, sich in eine beobachtende und beobachtete Situation begeben zu haben, andererseits offeriert sie uns aber auch auf derselben Matrix das Vergnügen gesehen zu werden und die lustvolle Neugier des Schauens.

Diese konzeptionelle Offenheit der Arbeit zwischen voyeuristischem Einblick und eigener Involvierung entspricht nicht nur den Arbeitsmethoden der Einzelarbeiten der beiden KünstlerInnen, die sich in New York kennen lernten und auf Einladung Nika Spalingers in Fribourg das erstemal zusammenarbeiteten, sondern auch dem Prozess einer solchen Kollaboration an sich: Das Unerwartete und noch Unbekannte kann zur Lust und im nächsten Moment zur Bedrohung werden.