Heft 1/2002 - Kartografien


Das dritte Asien

Aufzeichnungen über die sich neu formierende Kunstszene Zentralasiens

Julia Sorokina


In tagebuchartigen Aufzeichnungen erzählt Kuratorin Julia Sorokina über die sich neu formierende junge Kunstszene Zentralasiens und ihre Orte. Ein Auszug.

Eines der Lieblingslieder meiner Kindheit in der Sowjetunion war »Meine Adresse hat keine Hausnummer und keinen Straßennamen, meine Adresse ist die Sowjetunion«. Es war ein enthusiastisches Lied über das Reisen und die Möglichkeit, neue Städte zu bauen, neue Straßen. Jetzt fühle ich mich selbst, als wäre ich zur Heldin dieses Liedes geworden, aber meine Adresse ist das dritte Asien. Mir kommt vor, dass es im Moment vor allem zwei Arten gibt, Asien, besonders Zentralasien, wahrzunehmen: Erstens das Asien der Legenden und Märchen, voll von Zärtlichkeit und mysteriösen Dingen. Zweitens ein Asien der wilden und brutalen Terroristen und unterdrückten Frauen, vor dem Hintergrund einer goldgelben Wüste, das unberührt ist von den Errungenschaften moderner Zivilisation.

Mein Asien hingegen schaut aus wie ein Polygon für verschiedene Arten von Experimenten. Von diesen Polygonen gab es in der Sowjetunion eine ganze Menge. Sie hatten seltsame Namen, die Nummern enthielten. Man konnte dort ohne spezielle Dokumente nicht hingehen. Sie wurden »Strategische Objekte« genannt und die Bewohner dieser Polygonstädte arbeiteten in speziellen Fabriken, in denen verschiedene Arten von Waffen, Weltraumtechnologie und Flugzeuge entwickelt wurden. Ich stelle mir Zentralasien wie einen Polygon für zukünftige Kreativität vor, als einen experimentellen Raum, um eine multikulturelle Gemeinschaft zu entwickeln, um eine neue Generation von Reisenden, Wanderern und Nomaden zu beherbergen. Das ist eine ganz andere Vorstellung von Asien - meine eigene Vorstellung eines dritten Asiens.

Almaty (Voyager)

Hier in Almaty gibt es eine ganze Menge tatkräftiger und kompetenter Frauen. Man trifft sie in ganz verschiedenen Berufsfeldern, auch in dem der zeitgenössischen Kunst. Zum Beispiel Irina Yuferova, die Direktorin meines Lieblingskunstraumes, der Galerie »Voyager«. Sie ist wunderbar! Im Russischen nennen wir solche Frauen »Ein General in einem Rock«. Sie kann jedes komplexe Problem lösen. Wenn sie eine Anordnung auf einem Gebiet trifft, für das sie Verantwortung übernommen hat, gibt es da niemanden, der das Bedürfnis hätte, sich zu widersetzen. »Voyager« ist ein Ort der Kommunikation, ein Ort, wo eine Menge Projekte verschiedenster KünstlerInnen und Institutionen stattgefunden haben. Und wenn man einmal keinen Raum hat für eine Ausstellung oder ein anderes künstlerisches Event oder auch nur über irgendeine Idee oder ein Problem nachdenken will, dann geht man zu »Voyager«. Irina Petrovna versucht immer, Dinge miteinander in Verbindung zu bringen. Zum Beispiel in der Ausstellung »The Past ist over here«. Es war eine Präsentation mit KünstlerInnen, die normalerweise mit Installationen oder Videos arbeiten, von Zeit zu Zeit aber auch zeichnen oder malen. Es gab Bilder und Skulpturen im Raum zu sehen, aber das zentrale Objekt war ein Tisch mit Lebensmitteln aus unserer sowjetischen Kindheit: billiger Alkohol, Konservendosen mit Fisch in Tomatensauce, spezielle Süßigkeiten ... Die KünstlerInnen und die BesucherInnen kamen in Kleidern aus ihrer Jugend und wir spielten die Lieblingsspiele aus unserer Kindheit, saßen um den Tisch, genossen das Essen aus der Kindheit, zeigten uns alte Fotos, erzählten uns Geschichten? so in der Art. Mir gefiel auch der Katalog der Ausstellung. Er war handgemacht, ein kopiertes Buch mit Texten von KünstlerInnen. Es gibt nur eine Sache, die mich dazu bringt, von diesem Ort in der Nähe des Nikolski Basars wieder wegzugehen: Irina Petrovna hasst Computer und neue Medien. Wenn ich also mit meinen geliebten »Cyborgs« kommunizieren will, bewege ich mich von Almaty aus in Richtung Nordwesten in die Stadt der Kohlenbergwerke: Karaganda.

Karaganda (»Just Cy«)

Ich bin hierher gekommen, um ein kleines, etwas abenteuerliches Projekt gemeinsam mit meinem Lieblingsfotografen Sasha Malgazhdarov im neuen »Desht-e-Art«-Zentrum zu realisieren. Ich hielt für 20 junge KünstlerInnen einen Workshop ab - so in der Richtung »Wie verhalte ich mich im Bereich zeitgenössischer Kunstproduktion?« Darüber hinaus fand als Resultat eine kleine Ausstellung statt. Wir nannten sie »just Cy«, und jede(r) der KünstlerInnen hat anhand von »technologischen« Mitteln (Fotografie, Video, etc.) auf einfache und deutliche Weise über sich selbst erzählt. Mir haben die Titel der einzelnen Arbeiten gefallen: »Autherportret« von Lali Modebadze, »Laziness« von Valeri Kaliev, »Socks« von Kamilla Aubakirova & Roma Zhidkih, »Repair« von Iliya Kazakov, »Natural Soya« von Zhenya Sushkova, »I Open...« von Unkas, »I Can Not Do« von Mark Urnyavichyus, »Prilipaly« von Natasha Sorokina und andere. Natasha Kim (»Rezinka«) hat ein Projekt durchgeführt mit dem Titel »I like Naomi, Naomi likes fruits«, eine andere hieß »sweety-morning-dream in the toilet«, ein Video, das sie in einem rosa Pyjama auf der Toilette sitzend zeigt. Yuri Dvinyaninov (»Gnom«) hat eine Jux-Anzeigenkampagne in lokalen Zeitungen geschalten, wo er behauptet, dass ihm verschiedene Preise zugesprochen worden sind. Die zwei jungen Architekten Alexander Popov (»PopoShusha«) und Maxim Glebov (»Meex«) haben unter dem Titel »I love Tamagotchi« eine Liebesgeschichte von zwei Jungs und einem Harem aus bunten Tamagotchis ironisch erzählt und das Display der Ausstellung mitentwickelt. Die 18 Beiträge wirkten wie ein Spiel, also entschieden wir uns, alle Projekte in alten Kindermöbeln zu präsentieren und stellten alle Tische, Schränke, ein Klavier, Boxen, Lautsprecher und TV-Monitore und Computer in die Mitte der kleinen Halle eines Kindergartens. Früher waren in Karaganda die stalinistischen Lager, in denen ab den 30er Jahren bis in die 50er Jahre die intelligentesten der kreativen Leute aus der Sowjetunion als Gefangene gehalten wurden. In den 50er und 60er Jahren haben sie in Karaganda Schulkinder unterrichtet.

Es gibt in dieser Gegend ganze Landstriche voller riesiger Pappeln. Jeder dieser Bäume ist wie ein Symbol für das Leben eines Gefangenen, da viele aus den Lagern Bäume gepflanzt haben. Manche dieser Bäume tragen eingeritzte Namen derer, die sie gepflanzt haben. Heute sind die Hauptgebäude der Lager - im Dorf Dolinka - öffentlich zugänglich. Die Stadtverwaltung lässt dieses zweifelhafte Erbe verfallen. Nur einige wenige engagierte Leute versuchen, diese Erinnerung zu bewahren. Larisa Pletnikova and Dana Sapharova, die Co-Organisatorinnen des »Desht-e-Art« Zentrums, sammeln Dokumente dieser Zeit und sind gerade damit beschäftigt, einen Katalog über die unterdrückten KünstlerInnen aus Karlaganda zu publizieren.

Astana (Museum)

Niemand weiß, warum Präsident Nasarbajew Astana zur Hauptstadt von Kasachstan erklärt hat. Im Vergleich mit Almaty schaut Astana - das einmal Celinograd hieß und die Hauptstadt von Celina war, einem neugewonnenen Land für Landwirtschaft und Getreideanbau mitten in einem weitläufigen Steppengebiet - einfach aus. In den 60ern waren eine Menge Leute aus der ganzen Sowjetunion hierher gekommen oder umgesiedelt worden, um dieses gigantische Experiment zu verwirklichen. Jetzt kommen Scharen an Verwaltungsbeamten und daraus ergibt sich die seltsame Mischung einer Bauern/Beamten-Mentalität.

Im zentralen Einkaufszentrum »Millennium« stolpert man über absurde »natürliche« Installationen wie etwa Modepuppen in Uniformen. In Astana steht das Staatliche Museum für zeitgenössische Kunst, das einzige in Kasachstan! Ein sehr ehrgeiziges Projekt, eine Sammlung der wichtigsten offiziellen kasachischen Maler und Bildhauer. Ich habe die Direktorin des Museums, Nelli Shivrina, gefragt, warum sie nicht wirklich zeitgenössische Kunst ausstelle und sie sagte, genau das sei die größte Herausforderung im Moment: das aggressive Intervenieren der »StaatskünstlerInnen« aus Almaty hier in der Kunstszene von Astana. Das Team des Museums versucht, durch rasch wechselnde Ausstellungen ein Gleichgewicht zu finden. Wir beschlossen, dass es an der Zeit war, neue Beziehungen aufzubauen zwischen dem Museum und zeitgenössischen KünstlerInnen und, als Anfang, Vorträge über zeitgenössische Kunst zu organisieren.

Almaty (Sergei Kalmykov)

Mein Lieblingsbezirk in Almaty ist ein alter Stadtteil, den wir »Kompott« nennen, mit kleinen alten Häusern, kleinen grünen Straßen, die Namen tragen wie »Grushovaya« (Straße des Birnbaums), »Vishnevaya« (Straße der Kirsche), »Yablochnaya« (Straße des Apfelbaums). Nicht weit von »Kompott« entfernt befindet sich das Zentrum: der Basar. Den größten Basar nennen wir »Zelenyi« (»Heilung«), weil es dort das ganze Jahr über jede Menge Gemüse, Obst und Gewürze gibt. Sergei Kalmykov war einer der seltsamsten Bürger dieser Stadt. Er war immer ganz komisch angezogen, mit handgefertigten und aufwändig dekorierten Kleidern, und wenn ihn die »grauen« BürgerInnen der Sowjetunion gefragt haben, warum er sich so seltsam verhielt, sagte er nur: Wenn einmal die Fremden aus dem All auf die Erde kommen, wie würden sie sich sonst für die menschliche Zivilisation entscheiden? Er war ein Unberührbarer für das KGB, ein wunderbarer Künstler, ein Künstler des Wunderbaren. Er hat ein wunderbares Erbe hinterlassen: Malerei, Zeichnungen, Erinnerungen über seine »Aktionen« und »Performances«, die eigentlich mit seinem Leben ident waren. Das war auch das Leben unserer Eltern, die Zeit der Schwarzweißfotografien und Schwarzweißfilme mit Live-Musik. Jene Zeit, als Almaty Alma-Ata war und Bishkek Frunze genannt wurde und Leute aus Kirgiz und Kazakh waren BürgerInnen eines Landes. Gott sei Dank können wir auch jetzt noch unsere Nachbarn in Bishkek ohne Visum besuchen fahren.

Bishkek (»Zamana«)

Nach Bishkek kommt man mit dem Bus von Almaty aus in ungefähr vier Stunden. Es ist ein sehr meditativer Ort. Wichtig ist auch, dass hier das Preisniveau für Druckkosten oder Flugtickets viel niedriger als in Almaty ist. KünstlerInnen aus Bishkek nehmen an allen wichtigen kulturellen Events in Almaty teil, da sich dort sehr viel mehr abspielt. Die umtriebigste Person in Bishkek ist der Architekt Ulan Djaparov. Er ist Kurator des »Museum« Studios. Ich habe selbst an einer seiner Ausstellungen im staatlichen Museum für bildende Kunst teilgenommen. Es war eine Ausstellung über eine »innere Odyssee«, über das Reisen durch persönliche Mentalitäten. Die grundlegende Idee war es, »professionelle« KünstlerInnen mit Hobby-KünstlerInnen arbeiten zu lassen. Es gab auch einen kleinen Katalog, und es ist ein Rätsel für mich, wie er für all diese Aktivitäten Geld auftreibt. Djaparov hat auch einen eleganten Almanach mit Essays publiziert: »Urbi et Orbi«. Ulan hat an einigen Ausstellungen in Almaty teilgenommen zusammen mit der Gruppe »Zamana«. Gulnara Kasmalieva & Murat Djumaliev sind die beiden wichtigsten Mitglieder dieser Gruppe - Grafiker und Bildhauer -, sie arbeiten mit Videoinstallationen, schreiben Texte und fotografieren und retouchieren diese Fotos auf eine spezielle Art. Ira Dekker, Sasha U and Roma Moskalev wiederum drehen Filme mit alten Kameras, altem Filmmaterial und entwickeln sie selbst im Badezimmer. Die Qualität dieser Filme ist fantastisch. Sie waren das Hippste, was ich in den letzten Jahren gesehen habe.

Almaty (Silk Route)

Die Tashkentskaya Straße ist jene Straße, auf der man von Bishkek aus nach Almaty zurückkommt, und sie ist die wichtigste Geschäftsstraße in Almaty. Alle Warentransporte aus China, Indien und der Türkei führen über die Tashkentskaya. Es ist eine moderne Seidenstraße. Ich erinnere mich an eine Performance meiner Lieblingskünstlerin Almagul Menlibaeva. Sie zog sich ein Brautkleid an und spazierte allein im Zelenyi-Basar herum. Wenn sie die Leute fragten, wo denn ihr Bräutigam sein, sagte sie, sie sei die Braut des ganzen Universums und ihr Bräutigam sei überall in der Welt und sie sei zu ihm unterwegs. Aber die BewohnerInnen von Almaty fanden das ganz in Ordnung und fingen an, sie zu beglückwünschen und ihr Blumen zu schenken. Jetzt ist sie irgendwo in Holland oder vielleicht ganz woanders, ich weiß das gar nicht genau, aber wenn ihr sie trefft, sagt ihr bitte liebe Grüße von mir.1

 

Übersetzt von Hina Berau

 

1 Schreibt mir, wenn ihr Informationen braucht. Meine E-Mail lautet wie folgt: asiathe3@host.kz