Heft 1/2002 - Netzteil


Den Balkan verstehen

Eine kritische Standortbestimmung südosteuropäischer Identitäten

Ventsislav Zankov


Unter dem Motto »Understanding the Balkans« widmet sich das Contemporary Arts Center in Skopje seit einigen Jahren einem forcierten Networking unter künstlerischen und theoretischen Ansätzen der Region. Zentral ist dabei unter anderem die Frage nach lokalen, südosteuropäischen Identitäten, damit verbundenen Konflikten und darauf gerichteten Projektionen. Ein Beitrag zum letztjährigen Symposion folgte diesem Thema über den Umweg »globaler Strategien« und im Westen gespiegelter Sichtweisen. Schließlich geht es darum, wie sich diesem unabweislichen Spiegel ein selbstbestimmter kultureller »Underground« entgegenhalten lässt.

Der Balkan ist nun schon seit längerer Zeit auf der globalen Agenda. »Globale Agenda« - erinnert uns das nicht an etwas? Der Begriff ist nicht nur attraktiv, sondern strotz geradezu vor Modernität. Außerdem inkludiert er Einstellungen, die einst als »Ost-West- Paradigma« bezeichnet wurden - und das erschien, als der Begriff geprägt wurde, auch richtig so. Die wachsende Neugier nach einem besseren Verständnis der Leute, die in dieser Region leben - wir nämlich - ist ein anderer Aspekt dieses Phänomens. Wenn wir die Kräfte dahinter näher ergründen wollen, könnten wir den Balkan zuerst einmal als Sicherheitszone zwischen der westlichen Zivilisation und dem Islam denken - so etwas wie einen überlebensgroßen Prototyp des Gazastreifens, der sich über mehrere Jahrhunderte »erstreckt«. Diese Zeitspanne hätte es schließlich unserem »Feind« ermöglicht, uns schmutzig lächelnd zu unterwandern - eine Sichtweise, die man trefflich Balkannihilismus nennen könnte, wenn man so wollte. Es gibt aber viele Namen, mit denen man diese zwielichtige Zone fassen kann, die so stark an Konflikten ist und wo ethnische Spannungen unterschiedlichste Formen annehmen.

Eine unlängst in Skopje stattgefundene Konferenz hatte das faszinierende Motto »Den Balkan und die Globalisierung verstehen«1, was nicht nur Quelle der Empörung, sondern auch des Unwohlseins war. Die Versammlung von Vortragenden, die den Balkan für das Herzstück ihrer Weltanschauung halten (Motto: »Sie wurden am Balkan geboren, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute dort.«) und ihre lokalen und globalen Projektionen zum Besten gaben, schien irgendwie seltsam. Sie alle jagten verzweifelt diese große wilde Bestie, die wir »unsere Identität« nennen. Die Konferenzsprache (welche wohl? Englisch natürlich!) trug noch weiter zu Umfang und Wucht dieser Paradoxie bei.

Schon das Motto selbst deutet auf eine wartungsintensive, allumfassende Gigabyte- Perspektive hin, kurz gesagt: die »globale« Perspektive. So erlangte das Transzendieren der Balkangrenzen durch die KonferenzteilnehmerInnen zentrale Bedeutung. Das schizophrene Bemühen, gleichzeitig Jäger und Gejagter, Objekt und Subjekt dieser Identitätssuche zu sein, ist ja in der Tat dramatisch. Dabei kann unser Trieb, alles zu transzendieren, was um jeden Preis transzendiert sein will, unterschiedliche Formen annehmen. Eine davon ist der »wissenschaftliche Zugang« zur Geschichte des Balkans. Wirklich verbissen versuchten die Teilnehmenden an der Konferenz, eine plausible und legitime »westliche« Perspektive zu finden (nach dem Motto: »Aha, das soll also die Perspektive eines 'globalen Beobachters' sein, und so einer möchte ich ja sein. Ergo ist das die einzige Perspektive schlechthin.«) Das Ganze endete damit, dass man nicht mehr wusste, WAS sie denn aus dieser Perspektive eigentlich beobachteten. Es wäre nur zu verständlich, Leute vom Balkan unter dem Motto »Wir verstehen uns selbst« zu versammeln. »Den Balkan verstehen« aber ist wie eine Scheinschwangerschaft; man hat die Symptome, aber es kommt kein Baby heraus. So landet man sicher bei der sterilen Gewissheit, eine Theorie entworfen zu haben und nett zueinander gewesen zu sein. Das vermied die Geburtsschmerzen, lästige Konflikte und das ungute Gefühl, gleichzeitig transparent, hinreißend und verletzlich zu sein. Wenn es von Anfang an keine klaren Begriffe gibt, erspart man sich langfristig die ganze Identitätsgeburt. Die so dringend notwendige Diskussion unserer Balkanidentität hat in Skopje nie stattgefunden. Statt dessen wurden wir alle schwindlig von der Vogelperspektive: Der Balkan wurde komfortabel auf die Größe der Landkarte einer Halbinsel gestutzt, die zwar Ziel von geostrategischen Interessen ist, was aber wiederum nicht politisch korrekt genug für die Diskussion war. So verspeiste die »Geostrategie«, was immer das heißen mag, uns alle zum Frühstück. Na ja, ausgiebige Frühstücke sind fein; köstliche Leckerbissen für gemütliche Vormittage am Wochenende.

So weit, so gut. Ins Globale abzuheben ist aber offensichtlich nicht der erste Schritt zum neuen Ich. Also noch einmal: Wie fassen wir unsere Identität, und wie verhilft sie uns zum richtigen »Zuschnitt« für nachbarschaftliche Gespräche? Wie lange müssen wir noch lernen, wir selbst zu sein, wo wir doch so nahe beieinander wohnen? Es stellt sich also heraus, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben ... und wir den Abstecher über das globale Dorf nur genommen haben, um bei unseren Nachbarn zu landen. Die Globalisierung bringt uns also näher an unsere Nachbarn, schließlich ist alles ohnehin nur einen Steinwurf entfernt. Es scheint, als bräuchten wir die Globalisierung nur zum Regeln unserer nachbarschaftlichen Beziehungen. Wir werden zu KosmopolitInnen, nur um uns einen festen legitimen Halt in der Welt zu verschaffen, besonders gegenüber unseren lokalen Nachbarn! Und ganz beiläufig verlieren wir in diesem Prozess unser Unterscheidungsvermögen zwischen »Globalisierung« und »Verwestlichung«. Wir vergessen, dass die Werte der »westlichen Zivilisation« einen drastischen Sprung gemacht und alle ethischen, moralischen und ästhetischen Grenzen überschritten haben, um ein globales Ausmaß zu erreichen - egal, was es kostet. Der elfte September hat uns einen kleinen Vorgeschmack auf den Preis für diese Überschreitung gegeben.

Eine legitime Frage bleibt also unbeantwortet: Was wäre denn eine sinnvolle Taktik, um unsere Identität wiederzugewinnen? Meiner Meinung nach wäre es eine Art alchemistischer Prozess, der nur in einer gemeinsamen Diskussion mit unseren Nachbarn entstehen kann. Die potenzielle Gefahr, sich zu verlieren, ist immer da, und nur die Zentrifugalkräfte der eigenen Individualität verhindern das Auseinanderfallen. Aber es gibt auch Zentripetalkräfte, die eine/n dazu bringen, seine Unterschiede zu definieren, indem man den gemeinsamen Boden anerkennt und respektiert, auf dem man selbst und die Nachbarn stehen.

Entwicklungspsychologisch gesehen beginnt die Identitätsbildung auf einer Stufe, die Jacques Lacan das »Spiegelstadium« nennt. In diesem Stadium erkennt das Kind erstmals sein eigenes Spiegelbild. Wenn man dieses Kind vor dem Spiegel fragt, wo seine Mutter sei, zeigt es auf einen Punkt außerhalb des Spiegels, weil die Mutter die höchste Autorität darstellt, die bestätigt, dass das Spiegelbild auch tatsächlich das Kind selbst darstellt. Anders als eine Zeichnung erscheint das Spiegelbild vollständig und ganz. Das identitätsstiftende Abbild ist aber in Wirklichkeit eine Spaltung: »genau das Abbild, das das Kind verortet, spaltet sein Ich entzwei.« Ich habe das qualvolle Gefühl, dass wir uns im Sozialisierungsprozess auf dem Balkan in einem solchen »Spiegelstadium« befinden. In dieser Metapher spielt der »Westen« die Rolle des Spiegels. Tatsächlich sehen wir im »Westen« nicht nur das Spiegelbild unserer Gedanken und Einstellungen, sondern auch das Spiegelbild der aufmerksamen Augen unserer Nachbarn, die auf der Suche nach Legitimation ihre Blicke ebenfalls auf den Spiegel richten. Unsere neu entstehenden demokratischen Institutionen (mir fallen als erstes Stiftungen, Verbände und andere stipendienvergebende Organisationen ein) übernehmen die Rolle der Mutter, jener seltsam in Hartwährung umzumünzenden Autorität, die uns versichert, dass unser Spiegelbild echt ist, ja dass es WIR sind dort im Spiegel. Letztlich sind wir also doch noch erwachsen geworden. Es ist nur ein etwas verwirrender Gedanke, dass links jetzt rechts ist und umgekehrt. Aber es gibt immer noch die Möglichkeit, nicht in den Spiegel zu blicken - und damit sein Bild, seine Identität und damit seine Erfolgschancen wieder zu verlieren und ein »globaler« Nichtsnutz zu werden.

Ich möchte an dieser Stelle ein paar wichtige Frage stellen: Wie wäre es, wenn wir selbst mit unseren Nachbarn sprechen? Wie steht es um unseren Willen, alternative Kunstformen außerhalb der Institutionen zu entwickeln? Wie kann unsere Motivation und unsere Denkart in ihrer regionalen, lokalen Besonderheit verstanden, anerkannt und geschätzt werden, wenn die Bezugspunkte so hartnäckig »westlich« bleiben? Wie können wir dem »Underground« auf dem Balkan noch eine Chance geben? Wie sollen wir diesen bilden, ohne dass ihm der Westen seinen institutionellen Stempel aufdrückt? Und wie lässt sich in einer Region, in der es leichter fällt, mit Nachbarn aus Deutschland als mit jenen vom Balkan abzuhängen, verhindern, dass dieser Underground zur nächsten Mafia verkommt? Ich nenne diese Fragen »Zweifel in Aktion«. Aus dem bisher Gesagten folgt jedenfalls: Alternatives Handeln setzt die Fähigkeit zur kritischen Beurteilung von impliziten und expliziten Werten und von sozialen Handlungen voraus. Da das zu selten der Fall ist, werden die schüchtern vorgebrachten Alternativen zur herkömmlichen etablierten Kunst schnell vom internationalen Publikum überrannt und verlieren so üblicherweise ihr Profil. Als nächstes degenerieren sie dann zu »Projekten« für die Verbesserung der Minderheitenlage, für Geschlechtergerechtigkeit, gegen Drogenmissbrauch, für regionale Zusammenarbeit und ein paar andere »heiße Themen« (Die EU und ihre kulturellen Satelliteninstitutionen kaufen dieses Zeug doch gerne, oder?). Das ist also der Weg zu politisch korrekten Einstellungen und Gruppenselbstzensur. Fragen wir lieber nicht, was aus den vielen Kunstinitiativen geworden ist, die die Anforderungen der Förderinstitutionen nicht erfüllt haben.

Zuletzt: Hat der »Underground« auf dem Balkan überhaupt noch eine Chance? Es kommt darauf an. Kommen wir umhin, uns alle möglichen Sichtweisen da draußen einzuverleiben? Können wir die möglichen Gewinne auf dem harten Weg zu einer neuen Identität überhaupt abschätzen? Oder unsere Verluste? Wir können es nur versuchen.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

1 Understanding the Balkans - The Balkans and Globalization, 1.-2. Dezember 2001, Museum of Macedonia, Skopje
http://www.scca.org.mk/utb/index.htm

http://www.ctrl-z.org/zankov