Heft 1/2003 - Lektüre



Joe Sacco:

Palestine

London (Jonathan Cape) 2003 , S. 81

Text: Martin Reiterer


»Let’s face it, my comics blockbuster depends on conflict; peace won’t pay the rent.« Was Joe Saccos Comic-Buch über »Palästina« zu einem derart hervorragendem Werk macht, ist die Direktheit und Unverblümtheit, mit der es Subtexte thematisiert und in den Vordergrund holt, die Ironie und gleichzeitige Behutsamkeit, mit der es den Prozess der Annäherung an das Land der besetzten Gebiete beschreibt und den Blick auf die Ereignisse selbst mitzeichnet. Dadurch gewinnt die Comic-Reportage eine Vielschichtigkeit, die zugleich ein Höchstmaß an Schärfe bedeutet.
Erstmals erscheinen nun die neun Hefte von Saccos »Palestine« in einem Band. Ein Vorwort von Edward Said ist ihnen vorangestellt. Anfang der neunziger Jahre entstanden, reichen die Comics mit ihrem kraftvollen Witz und einem unglaublichen Augenmaß trockene Tatsachen und Herz zerreißende Berichte nach, die leider auch in politischer Hinsicht nichts an Aktualität eingebüßt haben. Im Winter 1991/92, am Ausgang der ersten Intifada gegen die israelische Besetzung, verbringt Sacco zwei Monate in den besetzten Gebieten. Ein Standbein des Autors und Zeichners ist Jerusalem: Oben, von den Schutzmauern der Altstadt aus, kann man auf die umliegenden annektierten Dörfer hinuntersehen. Vor kurzem wurden hier die BewohnerInnen von Silwan, einem arabischen Dorf, gänzlich vertrieben. Unten haben sich Menschen versammelt, Israelis, eine Demo gegen die Besetzung, für Friedensverhandlungen, findet statt. Ein sichtbarer Hinweis auf die staatsbürgerliche Verfassung des Landes: »It’s ›the Middle East’s only democracy‹!«
Doch nur kurz hält sich Joe, die Hauptfigur dieses Comic-Buchs, in diesem mehrfach abgesicherten Terrain auf. Mit seinem Zeichen- und Notizblock unterwegs, durchkreuzt er Ramallah, Nablus, Hebron, Balata (das größte Flüchtlingslager an der Westbank), Jabalia (»the must-see refugee camp of the Gaza Strip, the intifada’s ground zero, a Disneyland of refuse and squalor …«), trifft Augenzeugen und Opfer von unterschiedlichen Gewaltakten und Überfällen, Zeitzeugen von 1948, Verletzte der Intifada, besucht Schulen für behinderte Kinder, Frauen- und Selbsthilfeorganisationen. Wunden und Verletzungen, physischer oder psychischer Natur, werden bereitwillig hergezeigt: »You want to see more?« Freilich, Schusswunden, Knochenbrüche, Amputationen …! »I’m a journalist, a professional«. Bei seinem Krankenhausbesuch in Nablus posieren die Verletzten für Fotos, lassen sich dazu Palästinensertücher über den Kopf, um den Hals legen, doch einzelne lehnen ab: Irgendwo zieht sich eine Schmerzgrenze zwischen öffentlichen und privaten Wunden.
Es gibt Gratisfahrten der UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestinian Refugees) in die entlegensten und dunkelsten Gegenden der besetzten Gebiete. Dennoch, das bliebe ein verschleierter Blick, und Joe findet seine Guides, und über sie erhält er bislang vernachlässigte Einblicke. Es fehlt nicht an heavy facts in Saccos Buch: Die Schrecken der Übernachtverhaftungen, die Verhöre und alles, was auf israelischer Seite unter dem offiziellen Stichwort »Moderate Pressure« läuft, »enough stuff, in other words, for another comics series ...«. Das unbegreifliche Faktum eines Flüchtlingslands, das den Status einer »Art schäbigen Permanenz« erlangt hat.
Ein geradliniger Verlauf der Textsorte Reportage, dessen implizite Lesererwartungen und latente Suggestion von Objektivität, wird allerdings auf verschiedenen Ebenen unterlaufen. Zum einen durch die Figur Joe, seine subjektive Präsenz, durch die die unhintergehbare Fiktionalisierung des Blicks offen gelegt wird, und seine herausplatzenden Thematisierungen der Medien Comic/Reportage. Zum anderen ist es selbstverständlich das eigentümliche Ineinandergreifen von Reportage und Zeichnung, von Text und Bild, wie es im Comic immer schon abseits kanonisierter und sprachgeregelter Bahnen verlief. Auf die explosive und subversive Wirkung selbst konventioneller Comic-Hefte verweist auch Edward Said im Vorwort. Die unerschöpften kritischen Möglichkeiten des Mediums in der Annäherung an vollends ernsthafte Themen haben allerdings erst Autoren wie Art Spiegelman (»Maus. A Survivor’s Tale«) oder Sacco, der 2000 auch ein Buch über Bosnien (»Safe Area: Gorazde«) herausgebracht hat, gezeigt.
Saccos Schwarzweiß-Comics kennzeichnet eine außerordentliche Fülle an Details. Die Vielfalt der Gesichter und Gesichtsausdrücke, die lückenhaften Zahnreihen oder die glatte Ordnung der Zähne als Indiz für Gewalt und Bewaffnung. Die Übersprühungen der Wandbesprühungen an den Barackenwänden, der Müll, Reste von herumliegendem Stacheldraht, Tiere, Müll fressende Schafe. Oder der Schlamm, der das Gehen beschwerlich macht. Die Pfützen und Lachen: In ihren Spiegelungen sucht man nach Gegenindizien, aber sie spiegeln nichts anderes, als sich in dem Hier der Flüchtlingslager orten lässt. Durch ihre Verwandtschaft zu Such- und Vexierbildern stellen Saccos Comiczeichnungen ein wirksames Gegengewicht zu einer Fernsehästhetik der Reportage her und fordern den LeserInnen eine aktive Lektüre ab. Im Durcheinander der Bilder bieten die Details einen Leitfaden zur Rekonstruktion des Gesehenen selbst.
Am Ende mag man die Frage eines Palästinensers im Ohr haben: »What good does it do, your coming here to write about these things?« Die allzu berechtigte Skepsis, die sich darin ausdrückt, bleibt als melancholische Selbstreflexion von Saccos Unternehmen erhalten, wendet sich aber auch, appellativ, an die LeserInnen. Und die Frage zweier Israelis, warum der Autor nicht auch die israelische Seite mit in dieses Buch aufgenommen habe: Das habe er, allerdings durch die Augen der PalästinenserInnen.