Heft 1/2004 - Diadochenkultur?


»Sei nicht so ein Ost-Fetischist!«

Gegen die Idee einer »neuen postsozialistischen Kultur«

Nebojsa Jovanovic


Eröffnet die »Diadochenkultur« als Gegenstand dieser springerin-Ausgabe wirklich eine überzeugende Perspektive für die endlose Korrespondenz zwischen Euro-Westen und Euro-Osten in punkto zeitgenössischer Kunst oder allgemeiner (und hochtrabender) formuliert, in Bezug auf deren kulturelle Sphären? Die kurze Vorankündigung der Frühlingsausgabe, die zugleich als Einladung für die AutorInnen des Hefts diente, etwas zu diesem Thema zu schreiben, skizziert eine Reihe kurioser Begriffe, welche die Idee »einer neuen Diadochenkultur« zur Diskussion stellen.1

Ein paar der in dem Ankündigungstext angesprochenen Punkte möchte ich hier diskutieren. Zunächst einmal enthält der Text einige eigentümliche Ungenauigkeiten. Warum »ehemalige Machtblöcke«? Der Plural kann nur bedeuten, dass es hier um beide, die NATO und den Warschauer Pakt geht, allerdings liest sich der restliche Text so, als sei ausschließlich der ehemalige Ostblock gemeint. Des Weiteren fragt es sich, von welchen »unabhängigen Teilen« hier die Rede ist? Wenn es um die einzelnen Staaten geht, dürfen wir nicht vergessen, dass sich die jeweiligen Machtblöcke selbst während der bipolaren Zeit des Kalten Krieges aus unabhängigen Nationalstaaten zusammensetzten – ein Blick auf die heutigen NATO-Strukturen genügt, um diese recht offensichtliche Tatsache zu bestätigen. Andererseits haben wir es mit unklaren Vorstellungen von »Szenen im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion« zu tun. Geht es uns lediglich um die ehemaligen Sowjetrepubliken? Wenn nicht, müsste deutlich gemacht werden, welche Art von Einfluss uns hier vorschwebt.

Die Erlangung staatlicher Unabhängigkeit ist wohl kaum eine paradigmatische postsozialistische Erfahrung: Sind die Erfahrungen von Ungarn, Bulgarien, Polen oder – um ein völlig gegenteiliges Beispiel zu nehmen, das sehr schön zeigt, dass Unabhängigkeit nicht unbedingt ein zwangsläufiges Ergebnis der Zerschlagung der ehemaligen sozialistischen Regimes ist – der DDR weniger repräsentativ im Vergleich zu beispielsweise denen der Tschechischen Republik und der Slowakei? Wenn politische Unabhängigkeit nämlich eine Conditio sine qua non für »ein neues kulturelles Selbstbewusstsein« darstellt, würde das die polnische oder ungarische Erfahrung außerhalb dieser angeblich neuen »diadochen« postsozialistischen Kultur verorten. Wird aber von uns erwartet, dass wir nur von den in jüngster Zeit unabhängig gewordenen Staaten reden, muss klar sein, dass Lettland, Litauen und Estland nicht die gleiche Erfahrung teilen wie Kroatien, Slowenien oder Bosnien-Herzegowina; genauso, wie die UdSSR und die Tschechoslowakei nicht auf die gleiche Art und Weise zersplittert sind. Der Mikrokosmos der postjugoslawischen Staaten liefert dafür ein überzeugendes Beispiel: Obwohl Teile desselben sozialistischen Staates, haben zum Beispiel Kroatien und der Kosovo völlig unterschiedliche postsozialistische Wege eingeschlagen, wie auch die Erfahrung Sloweniens kaum vergleichbar mit der Bosniens und Herzegowinas war.2

Kurz gesagt, machen die vielen unterschiedlichen Erfahrungen nach dem Fall des Sozialismus in Osteuropa jede Möglichkeit zunichte, eine so weit hergeholte Idee wie die einer einheitlichen postsozialistischen Erfahrung einzuführen. Angesichts der Myriaden von unterschiedlichen und sich häufig widersprechenden politischen und wirtschaftlichen Phänomene im Euro-Osten kann man unmöglich erwarten, dass sich »ein neues kulturelles Selbstbewusstsein formiert« bzw. eine »postkommunistische«, neodiadoche Welt. Allein die Erfindung dieser angeblich neuen Kultur sagt wenig, wenn überhaupt etwas, über die postsozialistische Wirklichkeit Europas aus; sie zeigt vor allem, dass der Euro-Westen immer noch dazu neigt, sich neue Begrifflichkeiten für den Euro-Osten auszudenken. Es scheint, als könne die Geschichte dieser neuen kulturellen Befindlichkeit den Platz der bislang vorherrschenden Narrative zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Euro-Osten und Euro-Westen, das heißt, der Narrative des Übergangs, einnehmen.

Gemäß dieser Konzeptualisierung, die in den quasi wissenschaftlichen Diskursen der Übergangs- und Konsolidierungstheorie (transitology, consolidology) ihren Höhepunkt fand, muss der Euro-Osten einen Übergangsprozess durchmachen, währenddessen er vorgefertigte Injektionen westlicher Demokratie und kapitalistischer Ideologie verpasst bekommt. Dabei kann man sich die Bemerkung sparen, dass das Hauptproblem der Übergangsforschung in der dogmatischen Vorstellung begründet ist, Demokratie und Kapitalismus seien die einzig wahren Heilmittel für alle postsozialistischen Übel. Demnach lässt sich die übliche Kritik an der Transitologie wie folgt zusammenfassen: Ist die Transitologie nicht eine Neuauflage alter Vorurteile hinsichtlich der Überlegenheit des Westens gegenüber dem Osten/dem Orient/der Dritten Welt etc., oder, psychoanalytisch ausgedrückt, ein reines Phantasma, das eine Kluft zwischen dem Selbst und dem Anderen schafft – eine Kluft, die nie überwunden werden kann? Vom Anderen wird zwar erwartet, dem Westen entgegenzukommen, doch kann die perfekte Harmonie nie erreicht werden – eine gewisse asymptotische Distanz wird immer bestehen bleiben. Eine radikalere Lesart sollte darauf hinweisen, dass die Distanz zum Osten nur ein trügerischer Deckmantel für die Distanzen, Barrieren und Säumnisse ist, die den Westen selbst charakterisieren und somit als ein System enthüllen, das weder schlüssig noch frei von Antagonismen ist, sondern im Gegenteil heterogen und widersprüchlich.

Wendung der Fantasie

Die Idee einer neuen postsozialistischen Kultur sollte innerhalb desselben phantasmatischen Rahmens begriffen werden, aber mit der neuen, überraschenden inhaltlichen Wendung dieser Fantasie. Darin ist der Euro-Osten von einem Objekt, das von der westlichen demokratischen Ordnung kultiviert und aufgewertet werden soll, zu einem Lacan’schen Subjekt geworden, »dem Wissen unterstellt wird« (oder in Bezug auf die »neue Befindlichkeit« zum Objekt, dem ein »Fühlen« unterstellt wird). Während der phantasmatische Rahmen der Transitologie versuchte, dem Westen die Illusion zu bewahren, er selbst könne dem Osten nach der beschwerlichen Reise, die dieser im Zuge des postsozialistischen Übergangs auf sich genommen hat, festen Boden unter den Füßen bieten, kommt die neue Fantasie einer postsozialistischen Befindlichkeit mit einer Dosis fader Selbstkritik daher: Der Euro-Westen, das heißt, seine Kunstwelt, ist vollkommen ignorant, maßlos und dekadent geworden und nur noch mit ausschweifenden Kunstspektakeln beschäftigt – »[der] Kunstbetrieb, der von Messe zu Biennale zu Messe hechelt« –, wobei ihm diese Art von milder Selbstkritik offensichtlich ein narzisstisches Vergnügen bereitet. Der Euro-Osten dagegen hält den Schlüssel zu dem geheimen Wissen in der Hand, das durch irgendeine ungreifbare neue Befindlichkeit verkörpert wird und als Allheilmittel für die Euro-westlichen Kunstwehwehchen eingesetzt werden kann.

Natürlich lassen sich im Euro-Osten neue künstlerische Praktiken und Initiativen, neuartige Ansätze und originelle Vorgehensweisen finden. Aber findet man die nicht auch anderswo, und zwar als Merkmale der Kunst an sich, und nicht als exklusive Eigenart der Kunst des Euro-Ostens? Nichtsdestotrotz wird diese neue Befindlichkeit hier als die wichtigste Qualität des Euro-Ostens dargestellt. Der Grund dafür ist die fetischistische Struktur eben dieser Fantasie: »Ich weiß sehr wohl (dass dies nur ein gewöhnlicher Schuh ist), aber trotzdem (glaube ich, er ist irgendwie mehr als das – er ist der Schlüssel zur erotischen Erfüllung, er ist das wahre Objekt meiner libidinösen Investition).« Beziehungsweise wissen wir in unserem konkreten Fall alle sehr wohl, dass die Kunstwelt des Euro-Ostens sich in einem weit weniger beneidenswerten Zustand befindet als die westliche und dass die postsozialistischen Erfahrungen für die Kunst in den postsozialistischen Ländern alles andere als vorteilhaft waren.

Der phantasmatische Glaube versucht, eine Leere zu füllen, die ihre Ursache nicht in dem Bild hat, das sich der Euro-Westen vom Euro-Osten konstruiert, sondern in dem Bild, das einige der kultivierteren künstlerischen Ausnahmeerscheinungen von sich selbst haben. Das unheimliche Gefühl, dass an den bestehenden Kunstpraktiken und -theorien des Westens etwas faul ist, existiert durchaus, doch um den Grund für diese Angst zu artikulieren, reicht bloßes Konstatieren, im Westen hechele man von Messe zu Biennale zu Messe, bei weitem nicht aus. Hier ist eine radikale Selbstreflexion aufseiten des Euro-Westens gefragt, was eine gründliche Neuuntersuchung der politischen, ökonomischen und vor allem ideologischen Hintergründe seiner derzeitigen Position erfordern würde.

Entscheidend wäre dabei die Beantwortung folgender Frage: Können Euro-westliche KünstlerInnen und TheoretikerInnen westliche künstlerische Pluralität auf eine andere Art und Weise konzipieren denn als »Kunstbetrieb« oder »Kunstmarkt«? Mit anderen Worten, kann Kunst heute außerhalb des Einflussbereichs des Kapitals existieren? Meiner Prämisse folgend lautet die Antwort auf diese Frage NEIN, und aus genau diesem Grund darf eine Analyse und Kritik der Euro-westlichen Kunst diese nicht als Teil irgendeiner himmlischen Welt der reinen Kultur bzw. Kunst betrachten, sondern muss sie als wesentlichen Bestandteil der schmutzigen, irdischen Feldzüge der kapitalistischen Wirtschaft begreifen. Wenn also der Euro-Westen immer noch der Täuschung erliegt, im Euro-Osten gäbe es Formen neuer kultureller Befindlichkeiten, dann nur deshalb, weil der Euro-Westen völlig fehlgeleitet ist von einem naiven Glauben daran, dass der Euro-Osten von Kapital und Kommodifizierung noch nicht verdorben wurde, was der fast schon Rousseau’schen Überzeugung gleichkommt, die postsozialistischen Wilden seien vom Kapital noch nicht kastriert und somit ein Beispiel, von dem der Euro-Westen lernen könne, wie er dem vom Markt der selbstverliebten Kunstmessen eingeläuteten Kismet entgehen kann.

Im Kulturbereich kann der Euro-Westen heutzutage kaum etwas Radikales vom Euro-Osten lernen, das nicht schon innerhalb anderer bestehender Befindlichkeiten und Initiativen der westlichen Kunstszene zu finden ist. Dennoch bringen wir in aller Bescheidenheit vor, dass es für den Westen höchste Zeit ist, etwas über sich selbst und seine eigenen falschen Vorstellungen zu lernen. Man sollte nicht den Hegel’schen Umweg über den Irrtum machen, nach dem das Subjekt des Wissens (etwa wohlwollende TheoretikerInnen aus westlichen Metropolen) früher oder später die Wahrheit seiner eigenen Position begreifen wird, und erwarten, dass einige der derzeitigen, wechselnden Phantasmen über den Osten »das richtige« sein wird. Eine Lacan’sche Lektion zum Thema Fantasie lehrt uns, dass Fantasie nicht da ist, um interpretiert, sondern um durchquert zu werden: Die Durchquerung der Fantasie einer neuen postsozialistischen kulturellen Befindlichkeit wird sich am künstlerischen Euro-Westen orientieren, der wiederum mit seinen eigenen inneren Antagonismen konfrontiert ist, die größtenteils von der Tatsache angetrieben werden, dass die Logik des westlichen »Kunstbetriebs« nichts anderes ist als die Logik des Kapitals. Und kein neues »diadoches« oder irgendwie anders geartetes »schickes«, abstruses Gespenst kann uns davor bewahren.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Die Ankündigung/Einladung lautete: »Diadochenkultur? – Vom Kunstbetrieb, der von Messe zu Biennale zu Messe hechelt, weit gehend unbeachtet hat sich in den unabhängigen Teilen der ehemaligen Machtblöcke ein neues kulturelles Selbstbewusstsein formiert. In erster Linie betrifft dies die Szenen im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion. Hier ist eine Befindlichkeit entstanden, die sich mit den Kategorien des Postkolonialen nicht mehr ausreichend beschreiben lässt. Das erste Heft des Jahres 2004 versammelt Bilder und Stimmen aus einer postkommunistischen, neo-diadochen Welt.«

2 Leider ist die Liste der Kuriositäten in diesem Textauszug damit nicht zu Ende: Da wäre zum Beispiel die merkwürdige Diskrepanz zwischen dem Fragezeichen im Titel und dem Text an sich, der bezüglich der Existenz einer diadochen Kultur keinerlei Zweifel aufkommen lässt, sondern entschiedene Gewissheit an den Tag legt. Auch die Betonung auf »den Kategorien des Postkolonialen« ist nicht weniger symptomatisch: Es bleibt unklar, warum der postkoloniale Diskurs neben anderen als besonders geeignet für die Beschreibung dieser einzigartigen kulturellen Befindlichkeit angesehen werden sollte – warum sollten sich, sagen wir mal, der Marxismus oder die Psychoanalyse nicht ebenso oder sogar besser für eine Kritik dieses Phänomens eignen?