Heft 4/2004 - Netzteil


Benachbarte Taktiken

Zum Ausstellungsprojekt »Hilchot Schenim« im Israeli Center for Digital Art, Holon

Nat Muller


Das im Jahr 2001 gegründete Israeli Center for Digital Art (Digital Artlab)1 in Holon ist in seiner Art einzigartig für die Region. Es fördert kreative und kritische (neue) Medienprojekte und Technikanwendungen, und pflegt zugleich Allianzen mit lokalen und internationalen MedienkünstlerInnen und Medienfachleuten. In dieser Hinsicht hat die Ausrichtung des Digital Artlab zwei Schwerpunkte: Einerseits beteiligt man sich am künstlerischen und theoretischen (neuen) Mediendiskurs im Ausland, andererseits blickt man nach innen und verortet die eigene Praxis innerhalb der komplexen israelischen Wirklichkeit. Das Digital Artlab betont, aus einer eindeutig lokal bezogenen Perspektive heraus zu arbeiten, die sich mit der physischen Präsenz der gesellschaftspolitischen Verflechtungen des Nahen Ostens auseinandersetzt – genau das macht seine Funktion so originär und notwendig. Ob nun mit einer großen internationalen Ausstellung, einer Vortragsreihe oder einer aktivistischen Veranstaltung, das Artlab betont immer die Aufgabe der Kontextualisierung als Hauptbedingung für Interpretationen. Die Idee, dass Technik oder Kunst neutral und allgemein gültig seien, ist natürlich schon lange überholt. Also wurde in den vergangenen Jahren viel aufgewandt, die Technik aus ihrer Blackbox und die Kunst aus ihrer weißen Zelle zu holen. In einer politisch instabilen Region wie dem Nahen Osten hat das Dekonstruieren dieser beiden »Behältnisse« und das Erkennen der in sie eingeschriebenen Ideologien eine noch bedeutendere Rolle.

Vergangenes Jahr startete im Digital Artlab ein Projekt, dessen Name »Hilchot Schenim« auf mündlich überlieferte jüdische Gesetze (halacha) verweist, die in der Mischna-Tora2 kodifiziert wurden und die das Verhalten gegenüber Nachbarn sowie die Aufteilung von Eigentum und territoriale Grenzen regeln. Die Wahl eines Projektnamens, der einerseits fest in der jüdischen Tradition verankert ist, andererseits aber sehr aktuell zur derzeitigen Situation im Nahen Osten und darüber hinaus passt, ist typisch für das Digital Artlab. Israel wurde im Vergleich zu seinen arabischen Nachbarn immer als Besonderheit betrachtet – eine kleine jüdische Enklave, umgeben von moslemischen Staaten. Für einige die »einzige Demokratie im Nahen Osten«, für andere wiederum eine »illegale zionistische Besatzung«, sind die Fragen nach der Identität Israels und nach seinen Beziehungen zu den Anderen scheinbar ebenso in Bewegung wie seine Landesgrenzen. Traditionell ist der Blick Israels westwärts gewandt, nach Europa oder den Vereinigten Staaten. Ersteres deswegen, weil zionistische Gründerväter aus dem »alten Europa«, besonders aus Osteuropa kamen, letzteres wegen der Verbundenheit mit dem Kapitalismus amerikanischen Stils und der starken jüdischen Lobby dort. Irgendwie hat sich Israel immer vom Nahen Osten distanziert, um die negativen Konnotationen des Orients zu vermeiden und sich vor einer Ansteckung durch die Anderen – die Nachbarn – zu schützen. In diesem Sinn vollzog und vollzieht Israel eine doppelte orientalistische Wendung: Vorrangig gegen die arabischen Nachbarn, die PalästinenserInnen und arabischstämmigen Israelis, aber auch gegen die aus den arabischen Ländern stammenden sephardischen Juden und Jüdinnen. In diesem Umfeld werden die Fragen dringlich, WER denn nun ein Nachbar ist und wie nachbarschaftliche Nähe definiert wird.
»Hilchot Schenim« ist in drei Kapitel unterteilt, wovon jedes eine umfangreiche Ausstellung sowie Vorträge, Performances und Workshops umfasst. Das erste Kapitel3 thematisierte Verbindungen zu KünstlerInnen aus anderen Mittelmeerländern oder aus dem, was man heute so elegant als »die Peripherie« bezeichnet. Hier soll jedoch das zweite Kapitel von »Hilchot Schenim« im Mittelpunkt stehen, das diesen Sommer stattfand. Dieser Teil B der Trilogie4 widmete sich der Untersuchung jener Strategien und Taktiken, derer sich KünstlerInnen und MedienexpertInnen bedienen, um Netzwerke und Kollaborationsprojekte zu schaffen. Mit bewusster Betonung des militärischen Untertons von Wörtern wie »Taktik« oder »Strategie« hält der Einleitungstext zur Ausstellung fest: »›Taktik‹ ist das Werkzeug der Machtlosen, ›Strategie‹ jenes des Staates, der mächtigen Entität. Diese Einteilung kann sich allerdings verändern, die Rollen können gewechselt werden. Nach De Certeaus Unterscheidung zwischen Taktik und Strategie gehört letztere zum Staat, zur wirtschaftlichen Macht, zur Rationalität; sie fußt auf einer klaren Vorstellung einer Grenze, die das Selbst vom anderen trennt und damit eine eindeutige Definition von Feind ermöglicht. Taktik hingegen kommt ohne Trennung und ohne Grenzen aus; sie braucht keinen Frontalangriff; und weil sie Grenzen nicht kennt, erlaubt sie Seitenwechsel und Abweichungen mithilfe von Tricks und Manipulationen.«
Angesichts des größeren politischen Kontextes stellt das staatliche Vorgehen, Grenzen durch Mauerbau zu kontrollieren, Kontrollpunkte zu schließen, Verdächtige zu verhaften und einzusperren eine typische Strategie dar. Das extremste Gegenbeispiel dazu ist selbstverständlich die Taktik der palästinensischen SelbstmordattentäterInnen, die weder geografische noch körperliche Grenzen respektieren und ihre abgerissenen Glieder und ihr Blut mit dem ihrer Opfer mischen. In diesem Sinn unterminieren sie die Trennung von Ich und Anderem auf grausame Weise. Der Ausstellungstext fährt fort:»Die ausgestellten Arbeiten bieten eine neue Agenda für KünstlerInnen, die um gesellschaftliche Reformen kämpfen – KünstlerInnen, die glauben, dass Kunst nicht bloß ein Spiegel der Gesellschaft, sondern ein aktiver Faktor von sozialen Veränderungen ist. Diese Kunst operiert im Zeitalter von Technik, Digitalisierung und Information. Diese Kunst koexistiert in Wechselbeziehung zu Plagiat, Reproduktion, Nachahmung, Vervielfältigung, Manipulation, Spionage, Überwachung und Immigration.«

Obwohl das platte Nachahmen politischer Strategien bzw. Taktiken im Kunstbereich und das Vermischen sozialer oder aktivistischer Arbeit mit Ästhetik ermüdend sein kann – meist kommt doch nur üble Kunst oder schwache Politik ohne Redlichkeit im künstlerischen und aktivistischen Sinn heraus –, vertrete ich rückhaltlos die Auffassung, dass Kunst bzw. jede Art von Kreativität eine bedeutende Rolle für die gesellschaftspolitische Reform spielen kann. Die Stärke der Kunst liegt in ihrem Potenzial, eine Vielfalt von Lesarten zu ermöglichen und das Alltägliche zu verfremden. Diese Subtilität fehlt dem üblichen Politaktivismus (notwendigerweise) meistens, weil er seine Ziele unilateral vordefiniert. Man kann den KuratorInnen von »Hilchot Schenim B« vorwerfen, dass ihr Hauptargument im schieren Umfang der Ausstellung und der Masse an taktischer Vielfalt etwas verloren geht. Angesichts zu vieler Optionen werden taktische Manöver sinnlos und wirken letztlich wie Waren im Einkaufzentrum. Dies wird treffend illustriert von der Arbeit »How Much is Enough?« der koreanischen KünstlerInnen Meena Park und Sasa, die so gesehen eine unabsichtliche Geste gegen die ganze Ausstellung ergibt. Seltsamer Weise fühlte auch ich mich von der Arbeit irritiert, die ich als stilistisches Ablenkungsmanöver innerhalb der Ausstellung empfand, weil sie keine Medienkunst im engsten Sinn war. Die KünstlerInnen warfen Fragen des Konsums auf: Das Ausstellen in einer Vitrine verlieh lokal erstandenen Produkten, die als 100 Prozent natürlich ausgegeben wurden, die Symbolik der exzessiven Gier von Menschen. Diese Produkte zu kaufen, zu kategorisieren und samt und sonders als »100 Prozent rein« zu bezeichnen, ist für sich genommen vollkommen bedeutungslos. Und auch die ganze Ausstellung riskierte durch die bloße Aufreihung und Aufzählung möglicher künstlerischer und kritischer Strategien und Taktiken ähnliches, auch wenn einzelne Arbeiten von sehr hoher Qualität waren. Dies gilt besonders für Projektdokumentationen wie die von Krzysztof Wodiczko oder der KünsterInnengruppen Yomango, Ligna sowie des Bureau of Inverse Technology. Die Dokumentation dient hier jedoch bloß der exemplarischen Illustration eines theoretischen Arguments.

Dass ich ungefähr die Hälfte der ausgestellten Arbeiten bereits kannte und sie nun in einem israelischen Zusammenhang noch einmal sah, erschloss interessante neue Aspekte. Jacqueline Salloums großartige Videos »Planet of the Arabs« und »Arabs a-go-go«, welche die Islamphobie Hollywoods mittels Verwendung stereotyper Szenen aus Filmknüllern und Comics karikieren, in einem Land zu sehen, in dem der institutionalisierte Orientalismus fester Bestandteil des täglichen Lebens ist, war wirklich eindrucksvoll. In dieser Hinsicht waren die KuratorInnen ziemlich mutig, verweigerten sie doch, sich der politischen Korrektheit zu unterwerfen. So konnte der Film »The Red Flag Flies« von Zhou Hongxiang die chinesischen Filmklischees dekonstruieren, indem er uns mit maoistischer Ikonografie und politischen Mantras geradezu bombardierte. Die endlose Wiederholung audiovisueller und textlicher Propaganda entleert die Sprüche jedes erdenklichen Inhalts. Diesen Bedeutungsverlust in einem der am meisten mediatisierten Teilen der Welt zu sehen, war für mich besonders verstörend.

Man muss erwähnen, dass die Räume des Digital Artlab schwierig zu bespielen sind. In einer ehemaligen Schule aus drei Gebäuden ist man fast gezwungen, die Arbeiten getrennt in Klassenzimmern zu zeigen, was den didaktischen Eindruck noch verstärkt. Außerdem verringert die materielle Barriere zwischen den Räumen die Möglichkeit, Arbeiten gegenüberzustellen und in einen echten Dialog miteinander zu bringen. Dies wurde teilweise durch das Zusammenfassen von ursprünglichen Einzelarbeiten zu größeren Installationen kompensiert. So entwickelte das Triptychon »I Wandered Relentlessly« aus Elyasaf Kowners Videoarbeiten »Haim«, »Triumvirate« und »The Snowway«, die ich zuvor als einzelne Arbeiten in seinem Atelier gesehen hatte, eine hypnotische Wirkung. Kowner untersucht die Politik des Alltagslebens als teilnehmender Beobachter, indem er durch das israelische Umland flaniert und sich dabei selbst als Teil dieser Umwelt festhält.
Das dritte und letzte Kapitel von Hilchot Schenim ist für das Frühjahr 2005 geplant.5
Es widmet sich der Frage, wie die aus interkultureller Vermischung und Globalisierung erwachsende Kulturvielfalt die Kunstproduktion beeinflusst, und wie KünstlerInnen, die mit diesen Parametern arbeiten, sich die Zukunft vorstellen.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

1 http://www.digitalartlab.org.il
2 »Die Mischna (hebräisch: Wiederholung) ist die wichtigste Sammlung religionsgesetzlicher Überlieferungen des Judentums. Sie bildet die Basis des Talmuds. Die Mischna wurde gegen 220 n. Chr. als schriftliches Werk abgeschlossen. Ihr Redaktor ist der rabbinische Gelehrte Jehuda ha Nasi (genannt Rabbi). In sechs Ordnungen und 63 Traktaten umfasst die Mischna die religionsgesetzlichen (halachischen) Auffassungen der rabbinischen Gelehrten über die rechte Anwendung und Auslegung der Bestimmungen der Tora.« (http://de.wikipedia.org)
3 6. Dezember 2003 bis 28. Februar 2004
4 24. April 2004 bis 24. Juli 2004
5 Näheres unter http://www.digitalartlab.org.il/index_en.htm