Heft 4/2004 - Lektüre



Jürgen Habermas / Jacques Derrida:

Philosophie in Zeiten des Terrors

Zwei Gespräche geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanni Borradori

Berlin (Philo) 2004 , S. 74

Text: Susanne Karr


Auf Einladung der Philosophin Giovanna Borradori – deren Name auf dem Buchcover leider nicht aufscheint – legten Jürgen Habermas und Jacques Derrida ihre Theorien zum Terrorismus kurz nach den Attentaten des 11. September dar. Die Textfassung der Interviews erweist sich, auch dank Borradoris Kontextualisierung, in der sie die Relevanz und Aktualität der philosophischen Diskussion darstellt, als erstaunlich gut lesbar. Sowohl Gemeinsamkeiten, etwa die biografisch bedingten Begegnungen mit Systemgewalt (Nationalsozialismus, Algerienkrieg), als philosophische Ausgangspunkte, aber auch die Widersprüchlichkeiten in den theoretischen Ansätzen stehen hier nebeneinander. In den Überlegungen zum Terrorismus gibt es keine einheitliche Sichtweise, ebenso wenig wie eine lineare kausale Kette zu seinen Manifestationen führt.
Was kann nun dem Terrorismus von philosophischer Seite entgegengesetzt werden? Habermas sieht den Terrorismus als eklatantesten Störfall in der Kommunikation. Wo die Kommunikation abbricht, setzt Gewalt ein. Derrida analysiert den Terrorismus als selbstzerstörerische Konsequenz, die aus dem Inneren einer Gesellschaft kommt und deren Macht mit ihrer allseitigen, undefinierten Thematisierung noch weiter anwächst. Beide Perspektiven gehen vom entwicklungsfähigen, dynamischen Potenzial demokratischer Gesellschaften aus. Ob Veränderung durch aufklärerische Prozesse geschieht wie in Habermas’ Modell oder durch die dekonstruktivistische Methode Derridas, die vermeintlich Objektives enttarnt: Einzig der Diskurs über die Ideen kann deren Erneuerung in Gang setzen.
Beide fordern die Ausweitung bzw. Etablierung des internationalen Rechtes und der Demokratie. Darüber muss man sich verständigen, öffentlich, verbindlich. Dem Ziel der Verständigung wohnt die Kraft inne, Gewalt zu brechen. Und nur wo es bindende Regeln für alle gibt, sind sie überhaupt sinnvoll. Solange sich einzelne Staaten zwar als Definitionsmacht bezüglich Recht und Ordnung sehen und positionieren, selbst aber davon abgekoppelt agieren, kann von einer funktionierenden internationalen Rechtsordnung keine Rede sein.
Die Methode der Dekonstruktion dynamisiert den scheinbar objektiven Sprachgebrauch. Wann ist eine Tat als »terroristisch« zu bezeichnen? Was ist mit nachträglich heroisierten TäterInnen? Und: Hat ein terroristischer Akt zwangsläufig getötete Opfer zu beklagen? Oder kann als Terrorismus auch ein Nicht-Eingreifen bezeichnet werden, das massenhaftes Sterben, beispielsweise durch AIDS, nach sich zieht? Kennt der Terrorismus nur europäische oder amerikanische Opfer? Und wie ist die aktuelle Umrechnungszahl, damit ein Ereignis in den westlichen Medien als katastrophal bezeichnet wird?
Auch wenn von der Anzahl der Opfer her nicht von einem »singulären Ereignis« gesprochen werden kann, haben die Anschläge auf die Twin Towers und das Pentagon wesentlich traumatische Züge: durch das zukunftsweisende Bedrohungspotenzial, das seinen Schrecken aus seiner Unabgeschlossenheit bezieht, nicht aus den tragischen Ereignissen selbst, die bereits geschehen sind – sondern aus dem, was noch bevorsteht. Eine paranoide Ahnung schleicht sich ein: Das war nur der Anfang! Aus dem Zusammenspiel präziser Planung, technischer Fertigkeiten und fein abgestimmter Chronologie wird eine fundamentalistische tödliche Attacke: Mit Hilfe der modernsten Instrumentarien wird der vermeintliche Kopf der modernen Zivilisation angegriffen. Und kein Ende: Es zeigt sich, dass der noch größere Terror in seiner Instrumentalisierung liegt, in seiner Mediatisierung. In endloser Wiederholung werden die katastrophalen Geschehnisse, von den Angegriffenen selbst, zur Ausstellung und Ausbeutung freigegeben.
Die fundamentale Rolle der Medien muss also in die philosophische Einmischung miteinbezogen werden. Letztlich gehört es zu den ureigensten Aufgaben des kritischen Denkens, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die mit dem öffentlichen Wort, der Sprache befasst sind. Philosophie braucht keine Rechtfertigung, wenn sie sich zu aktuellem Geschehen äußert.