Heft 1/2005 - Past Forward


Eustache Kossakowski: »6 Meter vor Paris«

Zur gleichnamigen Fotoserie, 1971

Patrick M. Komorowski & Anka Ptaszkowska


1971, wenige Monate nach seiner Ankunft in Frankreich, realisierte der polnische Fotograf Eustache Kossakowski (* Warschau 1925, † Paris 2001) die Serie »6 Meter vor Paris. 159 objektive Fotografien von E. Kossakowski« (»6 metres avant Paris. 159 photographies objectives d’E. Kossakowski«). Bei einem Spaziergang in der Banlieue von Paris, unweit des »Kleinen Gürtels«, der Petite Ceinture, fiel dem Fotografen der Kontrast auf zwischen der unmittelbaren Umgebung der Straßenschilder, die die administrative Grenze der Stadt markierten, und dem Bild, das ein Fremder sich von der Stadt machen konnte. So kam er auf die Idee, eine Reportage über die Stadt zu machen, und zwar nach einem vorher festgelegten Verfahren, das darin bestand, alle Straßenschilder, die den Schriftzug »Paris« tragen, aus einer Entfernung von sechs Metern frontal und ein einziges Mal zu fotografieren. Von 1972 bis 1977 inventarisierte er über den Umweg des wiederkehrenden Motivs der »Bauzäune« (»Palissades«), der Einfriedungen von Baustellen, das Pariser städtische Gewebe im Zuge seiner Neugestaltung, wodurch er sich der Stadt weiter annäherte - mit dem Ziel, ins Zentrum ihres Hier und Jetzt vorzudringen. In seinen »Veränderten Bildern« (»Images détournées«, 1975-1978), Fotografien von Plakaten, die durch Eingriffe anonymer Passanten verändert worden sind, beschäftigte er sich mit einer weiteren Facette der Stadt, mit ihrer vergänglichen Epidermis.

Die Serie, die sein Exil in Frankreich einleitete, stellt in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt in seinem Werdegang als Fotograf dar. Vom persönlichen Standpunkt, weil sie dazu führte, dass er seine Arbeit mit dem Medium radikal neu definierte, und vom sozialen Standpunkt, weil sie es ihm ermöglichte, in Frankreich die institutionelle Anerkennung als Fotograf zu erlangen.

Mit dem Verlassen seiner Heimat hat Eustache Kossakowski auch der Karriere als Fotojournalist endgültig den Rücken gekehrt, einer Karriere, die er 1957 nach dem Abbruch des Architekturstudiums begonnen hatte. In wenigen Jahren war er zum unverzichtbaren Mitarbeiter einer Reihe von Zeitschriften geworden (Stolica, Ty i Ja und Polska). Im Laufe der sechziger Jahre unterhielt er, neben seiner Arbeit als Fotojournalist, enge Beziehungen zu dissidenten künstlerischen Milieus und fotografierte beispielsweise die Happenings, die Tadeusz Kantor gemeinsam mit der 1966 gegründeten avantgardistischen Galerie Foksal veranstaltete. In der polnischen Zeit hing die fotografische Praxis Eustache Kossakowskis stark von der Verwendung ab, die von seinen Bildern gemacht wurde. Innerhalb der Galerie Foksal trug seine Mitarbeit an den Experimenten der Künstler in persönlicher Hinsicht zu einer Verstärkung der Trennung bei zwischen einem Zugang zur Fotografie, der einem inneren Bedürfnis und einem, der einem äußeren Zwang entspringt.

Als Kossakowski mit 45 Jahren nach Frankreich kam, schloss er deshalb mit seiner Vergangenheit ab. Das Exil stürzte ihn in die Anonymität materieller Schwierigkeiten, bescherte ihm aber zugleich ein völlig neues Gefühl der Freiheit. Der veränderte persönliche Kontext trieb ihn dazu an, über die Form nachzudenken, die seine fotografische Arbeit künftig haben sollte. 1971 definierte er deshalb die Arbeit »6 Meter vor Paris …« als eine objektive Reportage über die Hauptstadt in 159 Bildern. Die programmatisch deklarierte Objektivität beruhte zugleich auf der identischen Entfernung, die zu jedem Stadtschild eingenommen wurde, auf der Neutralität, die durch die Frontalaufnahme erzeugt wurde, und auf dem singulären Charakter derselben. Dieses Verfahren hatte seinen Ursprung zweifellos in vergangenen Erfahrungen des Fotografen. Die Serie bot ihm Gelegenheit für die Infragestellung von Operationsmodi, die auf einem ausgeprägten Sinn des Ereignisses beruhten, auf der Fähigkeit, die Bedeutung einer Situation zu erfassen, oder, um es anders zu sagen, auf einer Ästhetik, die im wesentlichen dem »entscheidenden Moment« (»instant décisif«) huldigte, wie Henri Cartier-Bresson bereits 1952 formulierte. Eustache Kossakowski fragte sich demgegenüber, wieso ein Bild, das in einem bestimmen Moment aufgenommen wurde besser sein soll als ein anderes, das einen Moment später aufgenommen wurde. So antwortete er auf das einmalige Foto als Synthese aller möglichen Momente und Bilder mit einem analytischen Verfahren, das darauf zielte, die Gesamtheit der Daten zu erfassen, in diesem Fall die 159 Eingangspforten der Stadt.

1971 unterstand Kossokowski erstmals keinem äußeren Zwang mehr, was die Wahl seiner Sujets oder den Gebrauchswert seiner Bilder betraf. Allerdings könnte man sich fragen, ob er nicht eine Form des internalisierten Zwangs reproduzierte, indem er die Regeln seines Verfahrens a priori festsetzte. In Wirklichkeit hat die Festlegung eines strikten Operationsmodus, der zugleich ein künstlerischer, ein politischer und ein symbolischer Akt war, es dem Künstler ermöglicht, seine Freiheit erst richtig ermessen zu können. Indem er die Regeln für seine Bilder im Vorhinein festlegte, signalisierte er, dass der Schwerpunkt seiner Arbeit stärker auf dem Moment der Konzeption der Serie lag als auf der Ausführung der Aufnahmen. Die Verschiebung seiner Rolle bestätigte sich auch in der Arbeit im Labor. Eustache Kossakowski hatte sich nämlich aufgrund der spezifischen Eigenheiten der Orte nicht immer genau in einem Abstand von sechs Metern vor den 159 Schildern platzieren können oder wollen, aber er glich diese Abweichungen bei der Vergrößerung der Abzüge aus. Er schnitt eine Schablone aus, die die T-Form der Verkehrsschilder hatte und die er während der Einstellung des Vergrößerungsapparates in der Mitte der Abzüge platzierte. So rahmte er die Bilder, die ursprünglich rechteckig gewesen waren, neu und entwickelte sie, wobei er darauf achtete, dass in der Mitte des Bildes immer die Aufschrift »Paris« stand. Ein Vorgang, der dem Betrachter der Fotos den Eindruck vermittelte, sich immer im selben Abstand zu befinden. Die eher spielerische als einschränkende Regel der »6 Meter vor Paris…« verwandelte die Hauptstadt in ein Spielfeld, auf dem man wie bei einem Sportparcours alle Streckenabschnitte durchlaufen musste. Sie stellte für diese Stadt, auf der das Gewicht der historischen Avantgarden lastet, eine Bedienungsanleitung dar, die sie demythifizierte und greifbar machte; wie wenn ihre physische Umkreisung ihr Verständnis erleichtert hätte.

Im Herbst 1971 wurde die Serie im Musée des Arts décoratifs gezeigt, das damals ein wichtiger Ausstellungsort für die Gegenwartskunst war, und im folgenden Jahr im Moderna Museet von Stockholm. Dieses internationale Interesse für »6 Meter vor Paris…« ist in einem intellektuellen Kontext zu sehen, der geprägt war von den künstlerischen Experimenten der Konzeptkunst. Die Serie hatte tatsächlich einige Gemeinsamkeiten mit dem konzeptuellen Zugang: das kritische Vorgehen, die Bevorzugung der Idee, das tautologische Verfahren, etc. Was die fotografische Tradition betrifft, wurden die Bilder von Kossakowski zu einem Zeitpunkt präsentiert, als die Grammatik des »dokumentarischen Stils« (»Style documentaire«) wieder an Interesse gewann, der in den sechziger Jahren von B. und H. Becher, den Hausgebern des »Neuen Dokuments« (»Nouveau Document«) reaktiviert worden war; zugleich kündigten seine Bilder Themen an, die in den folgenden Jahren von den »Neuen Topographen« (»Nouveaux Topographes«) entwickelt wurden.

Als lebendiger Organismus stellte die Stadt weiterhin eine Folie für die fotografischen Untersuchungen Eustache Kossakowskis dar. Mit den »Bauzäunen« (1972-1977) und den »Verdrehten Bildern« (1975-1978) stand die Erforschung der Stadt nicht mehr unter dem Zeichen der systematischen Suche nach Verkehrsschildern, wurde aber weiterhin von einer Idee geleitet, materialisiert durch sichtbare Zeichen, wie sie die gestreiften Zäune der Baustellen und die Werbeplakate darstellen.
»Bauzäune«: die Siebziger Jahre waren für Paris eine Zeit intensiver städtischer Veränderungen (Les Halles, Montparnasse, die Plattform Beaubourg, Bercy etc.), wobei die Baustellen immer mit rot-weiß-gestreiften Bauzäunen markiert wurden. Indem der Blick von diesem graphischen Element polarisiert wurde, dessen identischer und repetitiver Charakter das stets unterschiedliche Umfeld seines Auftretens gerade unterstrich, entwarf der Fotograf ein Bild der Hauptstadt als unförmige Baustelle. Er konstituierte auf diese Weise ein irreales Inventar einer Stadt, die sich per definitionem der ständigen Erneuerung hingibt.
»Veränderte Bilder«: Die beständige Veränderung der urbanen Epidermis für sich nutzend, wählte der Fotograf als gemeinsamen Nenner dieser Serie die Gesichter von Werbeplakaten. Er wählte genau genommen die bekannter Persönlichkeiten aus Politik und Theater aus, deren Integrität durch Eingriffe anonymer Passanten (Collage, Zerreißen, Graffiti) verändert wurde. Nicht ohne eine gewisse Ironie knüpfte Eustache Kossakowski damit an die Porträtkunst an, mit der er seit den sechziger Jahren vertraut war, und stellte zugleich den Gebrauchswert der Werbefotografie in Frage.

Fast zwanzig Jahre, nachdem Eustache Kossakowski seine erste Fotoserie in Frankreich gemacht hat, wird sein komplexes Werk, das ein dichtes Geflecht von Beziehungen sowohl zur Praxis wie zur Verwendung der Fotografie knüpft, einer neuen kritischen Prüfung unterzogen. Nach der bedeutenden Retrospektive 2004 im Monat des Fotos im Ausstellungsforum Electra in Paris wird nun die ganze Serie »6 Meter vor Paris. 159 objektive Fotographien von E. Kossakowski« im Museum Nicéphore Niépce gezeigt.

 

Übersetzt von Nicole Streitler