Heft 1/2006 - Netzteil


Programmierer, Piraten, Prosumenten und Pornografen

Innovative Videokultur aus Berlin

Zeljko Blaçe


In diesem Jahr hatte ich aufgrund eines IFA/RAVE-Stipendiums Gelegenheit, als osteuropäischer Kulturproduzent Einblick in die Berliner Gegenwartskultur auf einer Ebene zu bekommen, die durch kurze und sporadische Besuche nur schwer zu erreichen wäre. Während meines Aufenthalts wurde mir klar, dass – unabhängig vom sehr starken internationalen Filmfestival (Berlinale) und dem sich laufend weiterentwickelnden Digitalkunst-Festival (transmediale) – die lokale Videokultur der stärkste Innovator von Formen und Formaten ist. Als solcher setzt sie neue Standards in Bezug auf Produktion, Präsentation und Distribution von Digital-Video. Im Folgenden werde ich mich auf die junge Szene der Pornografen konzentrieren, die, auf typische Berliner Art, stark mit Kunst und Politik verbunden ist, indem sie sich innerhalb ihres Metiers mit der Rolle der Alternativen beschäftigt.

Folge 1: Rauer Porno und mehr
(Interview mit Jörg Andreas)

Jörg Andreas ist der Mitbegründer und Miteigentümer der Produktionsfirma Cazzofilm. Die Uraufführung des kürzlich von seiner Firma veröffentlichten Films »Way Down« fand in einem demolierten Untergeschoß einer schwer erreichbaren und verlassenen Lagerhalle statt – von außen sah man nur einen Türsteher und ein Feuer, das in der kalten Nacht brannte. Drinnen war es überlaufen von einem Haufen unterschiedlicher Pornofans, die sich mit ihren unterschiedlichen Fetischen in den Ecken gruppierten (bis hin zu stöhnendem Exhibitionisten-Sex), Menschen aus der Film- und Indie-Kunst-Szene, die sich an der Bar versammelten (bis hin zur Betrunkenheit), und dann gab es noch zwei Vorführplätze – ein beleuchteter, mit alten Lehnstühlen und Sofas, und ein dunkler, mit mehreren Reihen hölzerner Stühle. Was das Publikum betrifft, konnte man leicht den Eindruck gewinnen, es gäbe so etwas wie eine Szene von leidenschaftlichen Cazzofilm-Anhängern. Der Film selbst war ein sehr ambitiöser Kunst-Streifen, dessen Soundtrack die bekannten Elektronikmusiker Monolake beitrugen. Er erregte mein Interesse, über Kontext und Entwicklung dieser spezifischen Produktion zu schreiben, eher aufgrund seiner Ambition denn aufgrund seiner Qualität.
Während der Markt dominiert wird von US-Produktionen – diejenigen, die hauptsächlich mit europäischen Models arbeiten, eingeschlossen –, die sehr rigiden Standards in Bezug auf das Video-Machen, die Ästhetik und die Ökonomie folgen, steht Cazzofilm an der Spitze der europäischen Firmen, ohne dabei aufgehört zu haben, einzigartig und auf Berliner Art authentisch zu sein. Sie behauptet sich recht erfolgreich in einem Nischenmarkt von KonsumentInnen, die sich für einen spezifischen (raueren) Stil und bestimmte Fetische (Skinheads, SM, Punks) interessieren oder einfach nur nach authentischeren Figuren suchen – nach »Charakteren« (statt den üblichen Muskeltypen) –, alles verpackt in Geschichten, die näher an der Realität und zugänglicher zu sein scheinen als dies sonst in diesem Bereich üblich ist.
Jörg Andreas studierte an der Kunsthochschule Braunschweig und bekam von seiner Professorin Birgit Hein viel Unterstützung. Ein experimenteller Zugang, der stark mit persönlichen Fragen und Intimität verbunden ist, war für ihn der Weg zum Porno: zuerst der Einsatz gefundenen Materials aus Pornofilmen, dann cineastische Kurzfilme mit Trans-Performern, und schließlich Videokunst (vorgeführt etwa am Videofestival, dem Vorgänger der transmediale). Jürgen Brüning, Festivalkurator, Produzent, Regisseur und zweiter Mitbegründer von Cazzofilm, hatte gerade mit einem Indie-Porno-Regisseur aus Kanada, Bruce LaBruce den Hit-Film »Hustler White« gedreht (und zwar 1995, mit dem berühmten Model Tony Ward, der sich zuvor von Madonna getrennt hatte). Andreas’ und Brünings erstes Projekt sollte kurz darauf mit der Produktion des Films »Berlin Techno Dreams« folgen, das von der lebhaften Techno- bzw. Sexclub-Szene Mitte der Neunziger inspiriert war. Dieser Film, bei dem sie zum ersten Mal mit einer großen Crew – und im Feld der Pornografie noch unerfahren – arbeiteten, wurde sowohl physisch als auch mental ein gewaltiger Ausdauertest – kurzum: ein dilettantisches Unternehmen. Obwohl die Aufnahmen aufgrund einer Vielzahl von Produktionsproblemen – Models, die nicht auftauchten, und Sexszenen, die meistens nicht klappen wollten – kurz vor Abbruch standen, wurde der Film letztlich doch international veröffentlicht und fand große Beachtung. Dies gab den Anstoß, dass Cazzofilm als Firma in der Gay-Porno-Videoproduktion in Berlin alsbald die Vorreiterrolle übernehmen sollte.

Zeljko Blaçe: Welche Ideen und Ambitionen führten zur Gründung von Cazzofilm?

Jörg Andreas: Anfangs lag uns viel daran, anders und neu zu sein, schließlich hatten wir Ambitionen, die wir vom Kunstfeld in den Pornobereich hineintrugen. Wir konnten mit den US-Produktionen nicht mithalten, und außerdem fanden wir sie meistens auch nicht interessant. Hingegen war der französische Regisseur Jean-Daniel Cadinot für uns inspirierend, wie auch die Idee des künstlerischen Erbes in Bezug auf Pionierarbeiten in der Pornografie. Wir wollten Filme machen, statt bloß Sex zu zeigen. Vom Beginn an hat es immer zunächst ein Drehbuch gegeben, auch suchten wir nach außergewöhnlichen Locations und drehten auf einer gehobeneren Produktionsebene. In der anfänglichen Entwicklung hatten wir keine allzu große Auswahl an Models. Wir casteten sehr unterschiedliche Menschentypen und steckten sie alle in einen Film. Unter ihnen auch einige, die sich für Leder interessierten, für Fisting und SM – aber wir wollten ja auch tatsächlich alles, was es da draußen gab, zeigen. Härtere Szenen kamen besser an, und so bekamen wir ein bestimmtes (hartes, raues, fetischistisches) Image, ohne das eigentlich gewollt zu haben. Auch fand ich heraus, dass ein Moment von Zwang oder Gewalt, wie wir es aus japanischen, nicht aber aus amerikanischen oder europäischen Produktionen her kennen, wo es immer noch tabu ist, den Film dramatisch auflädt.
Wir begannen früh, um genau zu sein, in unserem vierten Film, mit einem ambitionierten Regisseur, Hans Peter Hagen, der eigentlich Drehbuchautor ist, zu drehen. Er realisierte verschiedene Filme, angefangen mit »Authentic Adventures« (1997), der seiner Skinhead- und Schlammcatch-Szenen wegen berühmt wurde. Eine der gewagtesten Aufnahmen war eine Szene für »Berlin Sex Life!« (1998), die wir in einer S-Bahn drehten, zwischen zwei Stationen mit PassantInnen, die zufällig Zeugen des Drehs wurden.
Zu dieser Zeit produzierte Cazzofilm zum ersten Mal ein Doppel-Feature mit Bruce LaBruces »Skin Flick« als Festival-Beitrag und »Skin Gang« für den Pornomarkt, die beide das gleiche Material verwendeten. 2003 führte ich bei »Locked up« Regie, der als Spielfilm gleichzeitig mit einem Porno in einem aufgelassenen Gefängnis gedreht wurde und 2005 bei Pro Fun herauskam. Dies war eine interessante Erfahrung und ein Versuch, das Produktionsspektrum zu vergrößern, vor allem was den Einsatz professioneller Schauspieler betraf. 2000 produzierten wir mit »Sex Skins« einen unserer erfolgreichsten Filme, wahrscheinlich weil er einer der wenigen ist, in dem es um Gay-Skinhead-Fetisch geht (und auf dem Soundtrack original Skinhead-Bands zu hören sind).
Bisweilen haben wir uns mehr an den Standards von US-Mainstream-Produktionen orientiert, mit netten Locations und »Beefcake«-Models, aber so etwas wird von uns nicht erwartet und hat uns selbst auch bald gelangweilt. In letzter Zeit kehrt Cazzo wieder mehr zu seinen Wurzeln zurück. Wir produzieren mindestens einen Experimentalfilm pro Jahr. Für diese Art von Produktionen gründeten wir COXXX, ein Cazzofilm-Sublabel, das den jungen Künstler Ebo Hill als Regisseur gewinnen konnte. Was diese Filme ziemlich einzigartig macht, ist, dass sowohl »Bonking Berlin Bastards« (2000) als auch »Way Down« (2005) eher zeitgenössischen Performance- und Tanz-Ideen nahe stehen. Auch werden interessante Locations verwendet, etwa der Prager Zizkov-Fernsehturm, geflutete Untergeschoße oder U-Bahn-Baustellen. Das COXXX-Label bleibt jedenfalls für neue Talente offen.

Blaçe: In welchem Verhältnis stehen eure Produktionen zu Nicht-Porno-LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender-Filmen)?

Andreas: Wir haben Bruce LaBruces Berliner Projekt »The Rasperry Reich« (2004) beträchtlich unterstützt, das aufgrund seiner politischen Referenzen – es ist inspiriert von der Baader-Meinhof-Bewegung – für einiges Aufsehen sorgte. Wir halfen auch mit bei einer Reportage über LGBT-FilmemacherInnen in Berlin für die Teddy Awards 2003 und bei der Produktion des komplexen Kunstfilms »Fucking Different«, der Kurzfilme von über 20 lokalen Schwulen- und Lesben-VideomacherInnen versammelt und auf der Berlinale 2005 präsentiert wurde.

Blaçe: Was sind im Moment die interessantesten Projekte von Cazzofilm?

Andreas: Sicherlich »Fuck Fiction«, bei dem ein junger talentierter Regisseur Regie führt, dessen erster großer Spielfilm vor nicht allzu langer Zeit im Kino war und der jetzt mit Porno experimentiert. Sein Ziel ist es, an Mainstream-Filmproduktionen heranzukommen, und so wird der Film auch Szenen beinhalten, die man selten in Pornos sieht, etwa Spezialeffekte und Autorennen.
Obwohl der Vertrieb experimenteller Filme mit ausgefallenen Sexpraktiken in den USA ein Problem darstellt, haben verschiedene Firmen ein starkes Interesse daran, unser Label auf diesem Markt zu vertreten. Der Wechsel von VHS zu DVD in den letzten Jahren war ein Erfolg, der die weiteren Entwicklungen für neue technologische Konfigurationen und Vertriebsformen (Pay Per View), die ja zunehmend an Bedeutung gewinnen, erleichterte. Der gegenwärtige Videomarkt beschränkt sich auf Nordamerika und Westeuropa, aber mit Netz-Zustellung und Video-on-Demand via Satellit erwarten wir, ein globales Publikum zu erreichen und das Aroma vom Berliner Gay-Sex global zu vertreiben.

 

Übersetzt von Brandon Walder