Heft 1/2006 - Artscribe


»Projekt Migration«

1. Oktober 2005 bis 15. Januar 2006
Kölnischer Kunstverein / Köln

Text: Minu Haschemi Yekani


Köln. Das »Projekt Migration« startete 2002 als transdisziplinäres Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes und forderte verschiedene AkteurInnen aus Kunst, Wissenschaft und Politik auf, die Geschichte der Migration in Deutschland seit den ersten Anwerbeverträgen 1955 zu erzählen. Ebenso sollten das sich neu herausbildende transnationale Migrationsregime und die Migrationsbewegungen in und nach Europa erforscht, künstlerische Beiträge kuratiert oder initiiert werden. Das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiT), der Kölnische Kunstverein sowie das Institut für Kulturanthropologie der Universität Frankfurt am Main und das Institut für Theorie der Gestaltung in Zürich hatten diesen Auftrag angenommen, wobei die beiden Letzteren den institutionellen Rahmen für das Subprojekt »Transit Migration« bildeten.1 Neben zahlreichen Projekten, Filmreihen, Symposien etc.2 stand als Höhepunkt und Fokus die Realisierung einer Ausstellung an fünf verschiedenen Orten in Köln, darunter im Kölnischen Kunstverein, auf der Agenda. Mit demselben Titel wie das Gesamtprojekt versehen, dokumentiert die Ausstellung »Projekt Migration« nicht nur eine fruchtbare dreijährige Recherche-, Forschungs- und Netzwerkarbeit, sondern versucht auch, den BesucherInnen ein Bild der Migration und ihrer AkteurInnen zu liefern, das polyphon und divergent, politisch und alltäglich, dokumentarisch und fiktional zusammengesetzt ist. Ein 900 Seiten starker, mehrsprachiger Katalog kommentiert und ergänzt die Ausstellung in theoretischer und historischer Hinsicht.
Die Ausstellung »Projekt Migration« erzählt keine chronologische Geschichte der Migration, sondern kartografiert Beiträge, Kämpfe, Positionen und Sichtweisen, Sichtbarmachungen und Verunsicherungen. Ausgewiesene »Archive« des künstlerisch und theoretisch arbeitenden Forschungsprojekts »Transit Migration« sowie die Präsentation von Objekten aus der Sammlung des DOMiT, denen offenbar ein auratischer Charakter zugeschrieben wird, stehen den BesucherInnen im Dachgeschoß und im Keller des Kunstvereins zur Verfügung, laden zum Suchen, Hören und Nachvollziehen ein. Zum Teil mit Überschriften versehene Kapitel versammeln in den vier Häusern Arbeiten und Dokumente zu diversen Themen: »Stadt und Migration«, »Soundtrack der Migration«, "Integrations- und Bildungsdiskurs", "Arbeitskämpfe" und das »Leben und Arbeiten im Takt der Maschine«, »Migrationsgesellschaft wider Willen – Ausländerpolitik in der Bundesrepublik«; »Grenzland Europa«, "Gastarbeiterregime" und schließlich »Selbstorganisation in der Migration«. Doch sind die Überschriften unaufdringlich und nicht wirklich gliedernd, man hat gleichsam den Eindruck, die Ausstellung hätte sich am liebsten jeder Gliederung oder Sortierung enthalten. DOMiT liefert das Authentische und das historische Material, welches (vor allem) das »Gastarbeitersystem« belegt, bebildert und veranschaulicht und sich dabei einer historiografischen Quellenkritik entzieht.

Wie ein Empfangskomitee in Form einer Videoprojektion konfrontieren die BewohnerInnen des Hauses aus der Münchner »Metzstr. 11« die BesucherInnen in den Räumen des Kunstvereins mit dem Alltag der MigrantInnen im München des Jahres 1975. Zwei Jahre nach dem Anwerbestopp, 20 Jahre nach dem ersten Vertrag mit Italien. Der Filmemacher Zelimir Zilnik dokumentiert hier »Inventur« (1975) nicht nur die selbstverständliche Präsenz von MigrantInnen aus verschiedenen Ländern, ihr Selbstverständnis, mit dem sie sich vor der Kamera zeigen – mal beschämt, mal stolz –, und die westdeutsche Wohnungsbaupolitik der siebziger Jahre, sondern liefert auch einen Link zu einem anderen Teil der Ausstellung: eine Dokumentation der migrantischen Häuser- und
Arbeitskämpfe im fordistischen Deutschland.

Öffnet man die Tür zu der Arbeit »Rear Window (Story No. 6)« von Anny und Sibel Öztürk (2004), so sticht einem sofort der Geruch von Hitze, Stadt und Wärme, von vertrauter Muffigkeit bzw. Mottenkugeln in die Nase. Man schließt die Tür. Dämmrige Dunkelheit umgibt einen. Gardinen am Fenster, die sich bewegen, ohne Luft hereinzulassen, Autos die vorbeifahren, ohne Abgase zu hinterlassen, ein Azan, der ruft, aber nichts sieht. Dennoch: Das Gefühl von Zu-Gast-bei-Oma-Sein stellt sich bei dieser Installation ein. Von Kindheit. Das Gefühl, abgelegt zu werden in Räumen, die man mit Erwachsenen teilt, in denen Schlafen zur unruhigen Ausnahme wird. Wie lässt sich diese Arbeit in den Kontext der Migration einordnen? Was erzählt sie? Vor allem erzählt sie etwas über die typische Erfahrung des Besuchens der Verwandten im Sommer, über das »Zurückgehen«,wie es der Migrationsdiskurs nennt; über den sommerlichen, temporären Ausflug dorthin, wo auch die eigene Lebensrealität liegen könnte, hätte nicht Migration stattgefunden, wären nicht die Eltern oder eins der Elternteile ausgewandert. Davon erzählt die Installation, ohne sich dabei ein Subjekt anzueignen, das angeschaut oder sichtbar gemacht wird (außer einer »Tanten-Chimäre« in Gestalt einer Projektion), und greift damit gleich eine zentrale Frage der AusstellungsmacherInnen auf: Ist es möglich, eine Geschichte der Migration zu erzählen, ohne neue Bilder zu produzieren, die festlegen, ausschließen und einklammern? Ist es möglich zu beobachten, ohne abzubilden? Was bedeutet Teilnahme?
Viele weitere Arbeiten und Zeugnisse bleiben im Gedächtnis und verwischen auf positive Weise die Spuren zur Eindeutigkeit des Phänomens Migration: die MigMap3, der Film über die streikenden Frauen in Pierburg/Neuss (»Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf« von Edith Schmidt und David Wittenberg, 1974/75), die Sehnsuchtsdokumentation »Passagen« (1996) von Lisl Ponger, Jun Yangs Camouflage-Angebot »Camouflage. LOOK like them TALK like them« (2002/03), Taszro Niscinos Kaiser-Wilhelm-II.-Installation (»Es will mir nicht aus dem Sinn«, 2005), die Arbeit »Home« (1996) von Andrijana Stojkovic, die Fotoserien »Markt« (1989) von Wolfgang Tillmans und »Bag People« (2001) von Mladen Stilinovic, die Installationen Christian Philipp Müllers zur »Grünen Grenze« (1993/2005) und der WDR-Filmausschnitt von 1966, der die Wahl zur »Miss Gastarbeiter« (sic!) dokumentiert. Doch bei alldem bleibt die Frage der Zugehörigkeit prekär bzw. offengelegt wie in David Blandys Arbeit »Hollow Bones«4. Man hat den Eindruck, nur vereinzelt auf Fragen der zweiten und dritten Generation zu stoßen. Schwarze (deutsche) Geschichte und ihre Kontextualisierung im Migrationsdiskurs, der ja umstritten ist, Fragen der Binationalität und Einwanderung aus anderen Ländern als den so genannten klassischen Gastarbeiternationen bleiben an den Rand gedrängt oder werden nur angedeutet. Die VermittlungsarbeiterInnen hingegen, ein Team, das sich hauptsächlich aus Leuten mit so genannten Migrationshintergrund zusammensetzt, berichten aus dem Alltag der Führungen, ständig mit der Frage der Authentizität konfrontiert zu werden und »zwischen Exponaten und Besuchergruppen quasi zerquetscht zu werden«.

Als »Videoarbeit von Advanced Chemistry« präsentierten die KuratorInnen das im Treppenhaus des Rudolfplatzes laufende Musikvideo der Heidelberger HipHop-Crew. Der Song »Fremd im eigenen Land« (1992), der damals eins der ersten deutschsprachigen, nach vorne gerichteten musikalischen Statements zu Fragen der Identität und Zugehörigkeit lieferte und einen beginnenden (Selbst-)Bewusstseinswechsel auch auf der Ebene der Repräsentation der jungen KanakInnengeneration markierte, hat ohne Frage einen prominenten Platz in der Ausstellung zum »Projekt Migration« verdient. Irritierend wirkt jedoch der Begriff »Videoarbeit«. Hier zeigt sich die Spannung, die der ganzen Ausstellung innewohnt: Indem sie mit dem falschen Wort das Richtige meint, beleuchtet sie schlaglichtartig die Ausstellungskonzeption. Hier werden ganz verschiedene kulturelle und politische Praktiken, historisches Archivmaterial, zeitgenössische künstlerische
Arbeiten und aktuelle Forschungsprojekte nebeneinander präsentiert und gleich-gewertet. Und es wird klar: Es ist und bleibt eine Frage der Perspektive: Was für die einen eine »Videoarbeit« ist, ist für die anderen ein Dokument der Hip-Hop-Geschichte und des Kampfes. Doch vielleicht ist es die Stärke dieser Ausstellung, diese Spannung auszuhalten.

http://www.projektmigration.de

 

 

1 Mehr über dieses Projekt unter http://www.transitmigration.org
2 http://www.projektmigration.de/content/archiv.html, zuletzt besucht am 15. Dezember 2005.
3 »MigMap – Governing Migration. Kartografie zur europäischen Migrationspolitik«, Labor k3000 (2005). Diese Arbeit ist am besten online zu besichtigen unter http://www.transitmigration.org/migmap/index.html
4 David Blandys »Hollow Bones« (2001) beschäftigt sich mit der Aneignung von Soulmusik (hier: Syl Johnsons »Because I’m Black«) durch nicht-schwarze KonsumentInnen.