Heft 4/2006 - Lektüre



Jean-Luc Nancy:

Evidenz des Films - Abbas Kiarostami

Berlin (Brinkmann & Bose) 2005 , S. 72

Text: Annett Busch


»Da ist nichts definiert,
da ist alles im Werden begriffen«
(Abbas Kiarostami)

»Ohne Zweifel sage ich zu schnell zu viel gleichzeitig. Aber so ist das mit einem Film. Ein Film ist die Simultaneität einer Abfolge: das Paradox des Kontinuierlichen.« Mit Jean-Luc Nancy, Abbas Kiarostami und dem Verleger Erich Brinkmann treffen drei Experten aufeinander, die Film als
etwas begreifen, das über sich hinausweist. Also keine Nerds. Nicht an Filmkritik oder Filmanalyse ist Nancy interessiert, sondern an einer Art Transkription, und die orientiert sich vom Stil her an der Flüchtigkeit von Kino, als etwas, das unaufhaltsam vorbeizieht. So erscheint auch Nancys Text erst einmal als verdichtete Oberfläche und weniger als ein Ordnungssystem, um etwas in den Griff zu bekommen. Bedruckt sind die Buchseiten allein auf einem breiten Mittelstreifen, 16:9 als Text, während in der Mitte des Buches ein achtseitiges Leporello mit 62 Bildern den Text von einem Gespräch des Autors mit dem Filmemacher trennt. Da wird nichts bebildert, nichts belegt. Und so esoterisch diese Produktionsweise auch anmuten mag, die Wahrnehmung auf den Text verändert sich zweifellos.
Das neue Buch der britischen Filmtheoretikerin Laura Mulvey ist ganz im Stil der Cultural Studies gehalten: Academy mit Pop-Appeal (auch wenn »Death 24x a Second – Stillness and the Moving Image« nicht bei Routledge, sondern bei Reaktion Books erschienen ist). Dreißig Jahre sind seit ihrem Essay »Visual Pleasure and Narrative Cinema« nun vergangen, aber noch immer wird Mulvey vor allem als diejenige wahrgenommen, die mit ihrem Erstlingswerk einen entscheidenden Schritt innerhalb der feministischen Filmtheorie vollzogen hat. Auf Umwegen treffen sich Mulvey und Nancy heute bei Abbas Kiarostami und ihrer Bezugnahme auf Deleuze, was die Bestimmung des Neorealismus angeht. Als Herausforderung, die Verhältnisse zwischen dem Sozialen, dem Realen, dem Bild und seiner offenen Narrativität neu zu beschreiben, scheint das Kino des Abbas Kiarostami wie kaum ein anderes geeignet. Erst zwei Jahre, nachdem Gilles Deleuze Mitte der achtziger Jahre seine beiden Kinobücher, »Das Bewegungs-Bild« und »Das Zeit-Bild«, herausbrachte, reüssierte Kiarostami mit »Wo ist das Haus meines Freundes?« in Cannes und schien eine Tür aufzustoßen; wie dafür gemacht, die Kino-Philosophie von Deleuze weiterzutreiben, ohne Deleuze in die Quere zu kommen.
Auch wenn Jean-Luc Nancy zu Beginn seines Essays darauf verweist, die Filme von Kiarostami in seiner Videothek zu haben, scheint es doch, als schreibe er aus der Erinnerung ans Kino, als bildeten sich die Filme, über die er schreibt, erst im Nachdenken über Film. Das soll nicht heißen, er würde sich etwas ausdenken, das hat auch nichts mit Wahrheit oder Täuschung zu tun, im Gegenteil. Nancy rückt den Begriff »regard« in die Nähe von »égard«, Blick und Bezugnahme, und öffnet damit die Leinwand hin zur Welt. »Es handelt sich nicht um die Faszination des Bildes: Es handelt sich um das Bild, insofern es sich auf das Reale öffnet, und darum, wie nur das Bild sich auf dieses Reale öffnet.« Nancy geht nicht ins Kino, um die Welt zu vergessen, die Illusionsmaschine lässt ihn kalt, und so hält er sich auch nicht damit auf, sie zu dekonstruieren. Das schafft ihm Freiraum. Es geht ihm um den »Blick im Allgemeinen: nicht [den] Blick als Standpunkt«.
Mit Mulveys früherer Definition des Blicks als »Visual Pleasure« hat das wenig zu tun. Ihr zufolge wird im Kino ein Blick fortgeschrieben, der die Geschlechter trennt. Ein männlicher Blick, gerichtet auf den weiblichen Star des Hollywoodkinos der vierziger und fünfziger Jahre. »Nicht zuletzt trägt der extreme Kontrast zwischen der Dunkelheit des Zuschauerraums (die auch die Zuschauer voneinander trennt) und der Helligkeit der wechselnden Licht- und Schattenmuster dazu bei, die Illusion voyeuristischer Distanziertheit zu befördern.« Je nachdem, so könnte man einwenden, mag Dunkelheit auch Auflösung befördern. Nancy macht den Eindruck eines schwerelosen Zuschauers, was zählt, sind der Film und seine Evidenz. »Evidenz im strengen Sinne ist nicht, was unter den Sinn fällt, sondern das, was unmittelbar touchiert, und diese Touchierung eröffnet dem Sinn eine Chance. Es handelt sich um eine Wahrheit, die greift, und die keinem gegebenen Kriterium korrespondieren muss.« Und als Definition: »evidentia: das Merkmal dessen, was sich schon von weit ersehen lässt (indem man der aktiven Bedeutung von ›video‹, ›ich sehe‹, eine passive Bedeutung gibt).«
Was bei Nancy die Evidenz, ist bei Mulvey Delay. Die Verzögerung als Potenzial. Mulvey greift hier wieder auf Lacan zurück: »Delay here is not only a fact but also a factor in the film’s aesthetic. There is a correlation between aesthetic and trauma and exegesis in psychoanalysis.« Wie eng Mulvey Mitte der siebziger Jahre Psychoanalyse, Schaulust und die Bedeutung der Kinosituation zusammenführte, so konsequent geht sie nun von dem relativ neuen Datenträger der DVD aus, als Möglichkeit, einen neuen Blick auf die alten Filme zu werfen. Die Unterscheidung eines männlichen und eines weiblichen Blicks spielt hier keine Rolle mehr. Filmgeschichte unter anderen Vorzeichen, für ein Publikum, das eingreifen kann in den Ablauf von Narration und Zeit.
Auf diese Weise lösen sich allerlei Dichotomien auf. Bei Mulvey folgt das Kiarostami-Kapitel dem über Rossellini, Ende und Anfang der beiden Kapitel liegen auf einer Doppelseite zufällig gegenüber: Am Ende des Rossellini-Kapitels stehen sich die beiden Enden von »Viaggio in
Italia« und »Life Goes On« als zwei Frames gegenüber. Einmal das Hollywoodende, Ingrid Bergman und George Sanders in Großaufnahme einander zugewandt, in der Erwartung eines Kusses, das andere Mal ein Platz voll mit Menschen, von oben aufgenommen. Daneben steht jeweils: »Hollywood Ending« und »Life Goes On«. Es ist genau die Form von Illustration, die Erich Brinkmann und Jean-Luc Nancy vermeiden würden, und doch treffen diese beiden Bilder mitten ins Werk von Kiarostami und die Fragestellungen Nancys. Was es alles bedeuten kann, einem Film den Titel »Das Leben geht weiter« zu geben.