Heft 4/2006 - Taktiken/Topografien


Schwarze Sonne der Erneuerung

Das Magazin »Souffles« leistete in den sechziger Jahren einen wichtigen Beitrag zur modernen marokkanischen Kultur

Toni Maraini


»Souffles« war ein vierteljährlich erscheinendes Literatur- und Kulturmagazin, das in Rabat, Marokko, verlegt wurde. Die erste Ausgabe erschien im Februar 1966, die letzte im Dezember 1971, 22 waren es insgesamt. Das Cover, designt vom Maler Mohamed Melehi, war streng und elegant: Unter einem Quadrat glühte ein Kreis, eine schwarze Sonne. Diese Komposition blieb die ersten 14 Ausgaben lang unverändert, wobei sich nur die Farbe des Kreises änderte. Auf der Rückseite stand »Souffles« auf Arabisch: »Anfâs« (Brise, Atem). Im Inneren enthielt es einige Zeichnungen und Illustrationen. Bis zu der Doppelnummer 10/11 erschien es nur auf Französisch; dann wurde es zweisprachig (Französisch und Arabisch). Nach Nummer 15 änderten sich das Layout, sein Cover und seine Größe. Die über die Geschichte von »Souffles« geschrieben haben, teilen es in zwei Perioden: die erste von 1966 bis 1969, die zweite von 1969 bis 1971/721. Während der ersten Periode waren die Mitarbeiter Dichter, Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle, die leidenschaftlich an einer neuen marokkanischen und maghrebinischen Kultur arbeiteten. Die zweite Periode ist von einer radikalen marxistisch-leninistischen Wende charakterisiert. »Literatur war nicht mehr genug«, erklärte Abdellatif Laâbi, Gründer und Herausgeber von »Souffles«. Der Literaturteil war jetzt weniger konsistent als der Politikteil, der sich den Unabhängigkeitskämpfen der Dritten Welt gegen den kolonialen Imperialismus und der Nationalpolitik widmete. Aufgrund dieser Wende wurde die Veröffentlichung von »Souffles« 1972 verboten und Laâbi wegen seiner politischen Meinung inhaftiert. Während er im Gefängnis saß, wurden ihm verschiedene internationale Poesiepreise verliehen; 1980 erhielt er nach einer langen Solidaritätskampagne seine Freiheit wieder.

Die Rolle von »Souffles« und der Einfluss seiner literarischen, künstlerischen und kulturellen Produktion waren enorm. »Souffles« stellt in den Annalen der modernen maghrebinischen Geschichte eine mutige, neuartige Erfahrung dar. Neben der Zeitschrift »Eaux Vives« war es das erste unabhängige Literaturmagazin auf Französisch. Seit seinen Anfängen zog es einige der besten jungen Dichter, Künstler und Intellektuellen an, deren Unterstützung und Beiträge entscheidend waren für die Entstehung einer modernen marokkanischen und maghrebinischen Kultur. Es war nicht nur ein Literaturmagazin, sondern veröffentlichte auch Kommentare zur soziokulturellen Lage, zu Kino, Theater und Kunst. Es gab kritische Texte, Manifeste, Geschichtsessays. Indem es die neo-koloniale Ideologie demaskierte, rüttelte es eine stagnierende literarische und intellektuelle Nation auf. Einige dieser Kommentare waren klarsichtige, waghalsige Pamphlete zu akuten Fragen. Für ein Magazin, das mit einer dünnen Publikation von 35 Seiten angefangen hatte, war es eine bemerkenswerte Leistung, zur kulturellen Referenz einer ganzen Generation zu werden. Als eine der Mitbegründerinnen und Mitarbeiterin der ersten Ausgaben werde ich hier den historischen Hintergrund und seine Bedeutung zu beleuchten versuchen.

Historischer Hintergrund
Als Marokko 1956 die Unabhängigkeit erlangte, gab es viel zu tun, um die Kultur von der Last kolonialer (französischer und spanischer) Ideologie zu befreien. Der Kolonialismus hatte eine bevormundende eurozentrische Kultur durchgesetzt und jeden Aspekt des täglichen Lebens kontrolliert. Politische Parteien, Verbindungen, Zusammenkünfte und Gruppenaktivitäten waren verboten. Marokkanische Autoren, Medien und die Verwendung der arabischen Sprache fielen oft der Zensur zum Opfer. Das koloniale Protektorat hatte das Land hauptsächlich darum industrialisiert und modernisiert, um die Menschen zu kontrollieren und sie und das Land bzw. die Ressourcen zum eigenen Vorteil ausbeuten zu können. Obgleich es von den »exotischen« Aspekten fasziniert war, hatte es die universellen Werte der heimischen Kultur nicht anerkannt, ihr historisches Erbe und die Würde der Identität verweigert. Indem das Protektorat die freie Meinungsäußerung regulierte, hemmte es die Ausprägung einer nationalen modernistischen Avantgarde. Die marokkanische Kultur wurde hauptsächlich als pittoresk betrachtet. Modernes Denken und intellektuelles Leben wurden den MarokkanerInnen nicht wirklich zugetraut und als gefährliche Bedrohung des Kolonialismus erlebt. Aber Marokko und der Maghreb waren reich an Geschichte, hatten fruchtbare künstlerische, poetische und intellektuelle Traditionen, und modernistische Ideen hatten sich in vielen Kreisen schon vor der Ankunft der Kolonialmächte verbreitet. Die Echos der »Nahdha« (Erneuerung) im Nahen Osten hatten den Maghreb seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts aufgerüttelt. Obwohl viel von den Energien der intellektuellen Eliten im Kampf um die Freiheit absorbiert wurde und dem Wunsch nach Fortschritt und Entwicklung von der diskriminierenden Politik nicht entsprochen wurde, konnten sich modernistische Bewegungen entwickeln. Trotz Zensur und Kontrolle hatten die urbanen Zirkel ihre Intellektuellen, Schriftsteller, Rezensenten und Publikationen2. Einige Autoren wie Ahmed Sefrioui, Driss Chraïbi und der Philosoph Mohamed Aziz Lahbabi hatten auf Französisch publiziert.

Doch auch nach der Unabhängigkeit dominierte immer noch eine provinzielle und eurozentrische Kultur. Die für westliche Künstler organisierten Salons duldeten nur »naive« marokkanische Maler, gleichsam als Lokalkolorit. Die ansässigen europäischen Schriftsteller trafen sich für gewöhnlich in Literatenklubs im Umkreis ausländischer Kulturdelegationen, »wo sie gereimte Verse machten auf die Botschaftsgärten«3. Sie ignorierten die besseren westlichen Produktionen, das Waghalsige des Modernismus als auch die hohe Kunst klassischer arabischer Poesie, von Afro-Berber- bzw. volkstümlicher Kunst und deren Literaturen ganz zu schweigen. Sie interessierten sich nicht für die Ausprägung einer marokkanischen kulturellen Avantgarde. Es ist wichtig, all das im Kopf zu behalten, denn der westlichen Welt war nicht immer klar, was der Kolonialismus wirklich war. Aus diesem Grund mögen die mutigen Schriften des marokkanischen Historikers Germain Ayache4 auf Interesse stoßen, der in den fünfziger Jahren die Missbräuche des Kolonialismus, das Elend, die Misere der marokkanischen Bevölkerung und die Kontrolle über ihre kulturellen Wurzeln anprangerte.

Um die Wirkung vom »Souffles« zu verstehen, muss man sich zunächst eine Situation vergegenwärtigen, die noch von den dramatischen Auswirkungen all dessen bedingt ist. Andererseits hatte das marokkanische Bürgertum nach einem halben Jahrhundert kolonialer Propaganda und Isolation entweder die Verbindung zu ihren Wurzeln verloren oder in einer nostalgischen, wenn nicht dogmatischen, Vision der Vergangenheit eine neue Heimat gefunden. Eine modernistische nationale Kultur musste erst noch lautstark verkündet, ihr theoretisches Fundament offen diskutiert, ihre kreative und visionäre Natur in konkreten Begriffen ausgedrückt werden, die der neuen Realität des unabhängigen Marokkos entsprachen.

Durch eine bemerkenswerte Verkettung von Umständen war dies um 1964 möglich, als in Casablanca und Rabat zwei kleine Gruppen junger KünstlerInnen und SchriftstellerInnen ihre Kräfte bündelten und eine Bewegung starteten, die tief greifende Veränderungen in Gang setzte und heute als Meilenstein einer neuen Ära betrachtet wird. Sie produzierten kraftvolle originelle Werke der Literatur und Kunst, formulierten ihre Ideen mit klaren Worten und, am wichtigsten, organisierten ihre eigenen unabhängigen Veranstaltungen. Es stimmt, im selben Jahr 1964 hatten andere Intellektuelle auf Arabisch das bedeutende unabhängige Magazin »Aqlam« geschaffen, doch war seine Ausrichtung hauptsächlich philosophisch und theoretisch, weniger poetisch und avantgardistisch. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Kultur entweder in den Händen der ausländischen Botschaften oder der Staatsbürokratie bzw. konservativer Eliten. Mit Ausnahme des Schriftstellers Driss Chraïbi sahen die älteren Intellektuellen auf die neuen Gruppen mit einer unbehaglichen Überraschtheit oder Verachtung herab. Wer waren sie? Eine handvoll kreativer junger Menschen mit waghalsigen Ideen, die plötzlich die Bühne betraten und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit elektrisierte.

Da war die aus Künstlern bestehende sogenannte »Gruppe Casablanca« (Mohamed Melehi, Farid Belkahia, Mohamed Chebaa), über deren innovative Aktivitäten und Arbeiten (Gemälde, Ausstellungen, Manifeste, Debatten, Publikationen) ich seit 1964 geschrieben habe,5 als ich selber noch Teil der Gruppe war. Andererseits hatten zwei talentierte Dichter, Mohamed Khaïr-Eddine und Mostafa Nissaboury 1964 in Casablanca das Manifest »Poésie Toute« und das Magazin »Eaux Vives« (nur zwei Nummern) herausgebracht: »Für Khaïr-Eddine bestand die historische Hauptaufgabe der neuen Generation darin, mit der existierenden Literatur, sowohl in Französisch als auch in Arabisch, zu brechen.«6 Als sie einen anderen jungen Dichter trafen, Abdellatif Laâbi, war die Geburt von »Souffles« bereits absehbar. Und als sich die »Gruppe Casablanca« ihnen anschloss, war eine Bewegung im Entstehen, die Ziele, Hoffnungen und Visionen teilte. Sie sahen sich selbst als Generation, die sich für die Entstehung einer freien, gerechten und erfinderischen Nationalkultur engagierten. Sie waren wirklich eine Avantgarde: »Wir arbeiten mit all unseren Kenntnissen für eine kommende Welt […], und dieses Magazin will ein Werkzeug für die neue literarische und poetische Generation sein«, erklärte Laâbi in der ersten Ausgabe von »Souffles«.

Um die Frage »Wer sind wir nach den heftigen Auswirkungen des Kolonialismus?« beantworten zu können, mussten sie sich auf jene Wurzeln konzentrieren, die gleichermaßen von Kolonialismus und nationalem Bürgertum am abschätzigsten betrachtet wurden: die mündliche Überlieferung, Afro-Berber- und volkstümliche arabische Poesie, Kunst und Kultur. Die ersten in Marokko, die sich auf dieses Erbe konzentrierten, waren die abstrakten Künstler der »Gruppe Casablanca«, die verlautbarten, dass volkstümliche traditionelle Künste »modern« avant la lettre seien, in Geist und Form. Die koloniale Ethnografie hatte in ihnen »mindere Künste« gesehen, aber für die »Gruppe Casablanca«, wie für Klee und Gropius auch, war ein ländlicher Teppich »ein Gemälde«, der Handwerker ein Künstler. Die Dichter von »Souffles« konnten dem nur zustimmen. In der Zwischenzeit waren sie alle entschlossen, am 20. Jahrhundert voll teilzuhaben, mit neuen Sprachen und Ideen zu experimentieren und universelle Werte mit allen SchriftstellerInnen und KünstlerInnen der Welt zu teilen.

Als sie sich erhoben und den provinziellen Salons und Literatenclubs ihr »Genug!« zuriefen, drückten sie hohe Erwartungen für einen Neubeginn aus. Ihre künstlerische und poetische Revolte verbreitete sich wie warmer Wind in der Sonne. Die KünstlerInnen und Intellektuellen, die bislang in Einsamkeit gearbeitet hatten, wurden ermutigt, sich ihnen anzuschließen. Als Abdellatif Laâbi in Rabat »Souffles« startete, konnte er auf die Unterstützung einiger talentierter und engagierter Dichter, Maler und Intellektueller zählen. Das Projekt wurde verkündet und in leidenschaftlichen und visionären Diskussionen durch Cafés und Ateliers getragen. Die »Gruppe Casablanca« war für Cover und Illustrationen verantwortlich. Mit einem dieser alten Busse, die einst das Land durchquerten, brachte der Maler Melehi das Magazin nach Tanger, wo es billiger als in Rabat gedruckt werden konnte. Das war die Geburtsstunde der »Souffles«.

Die erste Ausgabe war dünn, aber kam »einem dringenden Bedarf« (Laâbi) nach. Bald erreichte man hundert Seiten. Khaïr-Eddine war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Frankreich ausgewandert, und sein Name findet sich zwar nicht im Aktionskomitee, doch war er mit seinen Gedichten anwesend. Heimgesucht und einsam hatte Khaïr-Eddine (dessen Muttersprache Berber war) die neue marokkanische Lyrik (und Literatur) mit Konzepten der »linguistischen Guerilla« genährt. Um mit den Garten-Reimen und den klassischen Elegien abzuschließen, hatte es jemand wagen müssen, mit den Regeln des literarischen Französisch zu brechen. Er tat es und öffnete den Sprachexperimenten damit eine Tür. Durch umfassende Debatten maghrebinischer SchriftstellerInnen erreichte die Frage durch »Souffles« die junge Generation der sowohl auf Französisch als auch auf Arabisch Schreibenden. Im Zentrum der Debatte stand – neben dem Aspekt »langage oder langue?«7 – die Frage, in welcher Sprache die neuen unabhängigen marokkanischen Schriftsteller schreiben sollten. Laâbis Antwort ist heute noch wertvoll: »Die Sprache des Dichters«, schrieb er, »ist zuallererst ›seine eigene Sprache‹, die, die er erfindet«. Indem durch sie Übersetzungen und Zusammenarbeiten angeregt wurden, kam »Souffles« das große Verdienst zu, die literarische Produktion nicht in frankophone und arabophone zu unterteilen. Vielmehr wurden künstlerisches Schaffen und Kultur in beiden Sprachen als komplementäre historische Realitäten angesehen (die sie ja auch tatsächlich sind), die in einem gemeinsamen Boden wurzeln.

»Souffles«, seine Debatten und Aktivitäten
»Souffles« wäre ohne Laâbis unerschütterliche Arbeit nicht zustande gekommen. Er verband seine poetische Gabe und Leidenschaft mit einem rigorosen Intellekt und war sich dabei seiner Aufgabe bewusst. »Souffles« eröffnete mit einem strengen »j’accuse …« die kulturelle Situation in Marokko betreffend und konzentrierte sich auf die Frage nach nationaler Identität und Kultur, vergaß aber nicht, die »befreundeten Schriftsteller, Maghrebiner, Afrikaner, Europäer und Bürger anderer Nationen brüderlich einzuladen, an unserem bescheidenem Geschäft mitzuarbeiten.« Laâbi agierte auf lange Sicht. Und er bekam bald Briefe aus Europa und dem Maghreb. Der tunesische Schriftsteller Albert Memmi schrieb: »Ich wartete auf diese Publikation, ich hoffte, sie würde existieren.« Driss Chraïbi bestätigte: »Euer Magazin ist fantastisch!«, und der algerische Schriftsteller Mouloud Mammeri begrüßte das »junge« Magazin. Eine solche Ermutigung durch drei große Schriftsteller der alten Generation war sehr gewichtig. Als Stimme einer neuen Generation stand das Magazin verteidigend auf Seiten jener maghrebinischen Schriftsteller, wie Chraïbi oder Kateb Yacine (Algerien) – deren Arbeit der Revolte gegen lokalen Feudalismus und Fremdbesetzung gleichermaßen Ausdruck gab. Was die von »Souffles« veröffentlichten AutorInnen den jungen LeserInnen bedeuteten, kann kaum überschätzt werden. Gelähmt durch das Sprachproblem (literarisches Französisch? klassisches Arabisch? mündliche Überlieferung in Berber?) hatten sie lange Zeit ihre Qualen, ihre Wut, ihre Gefühle und Hoffnungen unterdrückt. Jetzt konnte jeder seine eigene Sprache »erfinden«, Argot verwenden, experimentieren, »heulen«. Nissaboury nannte es »poésie chacaliste«: das Heulen des Schakals. Bald würde die »poésie chacaliste« ein jugendlicher Scherz sein und jeder Dichter – Laâbi voran – die poetische Reife erreichen.

In der dritten Ausgabe finden wir die Erwähnung eines Aktionskomitees. Es umfasste Ahmed Bouanani, Nissaboury, Abdallah Stouky, den algerischen Dichter Malek Alloula und die französischen Dichter Bernard Jakobiak und André Laude.
Bouanani, ein glänzender Intellektueller und wunderbarer Geschichtenerzähler, war der Autor schöner Gedichte, die später in der Anthologie »Les Persiennes« gesammelt erschienen. Seine Artikel über volkstümliche Gedichte waren zu einer Zeit, als dieses Thema nur von Ethnologen untersucht wurde, bemerkenswert. Die Namen im Komitee werden sich über die Jahre hinweg ändern. Einer der ersten, von dem Laâbi Unterstützung bekam, Nissaboury, der erstaunliche Autor des Buches »La Mille et Deuxième Nuit« (Die 1002. Nacht), blieb bis 1969 Mitglied. So auch die Maler der »Gruppe Casablanca«. Im Laufe der Zeit finden wir unter den verschiedenen MitarbeiterInnen bekannte Autoren wie Mostafa Lacheraf (Algerien), Azeddine Madani und Mohamed Aziza (Tunesien), Abdallah Laroui und Abdelkhébir Khatibi (Marokko). Abgesehen von einem Langgedicht von Etel Adnan (Libanon) und einigen wenigen anderen kritischen Beiträgen (von Jeanne Fabre und mir) fanden sich kaum Frauen in »Souffles«. Als jedoch Dichterinnen und Schriftstellerinnen mit ihren eigenen Büchern die Bühne betraten, mit Magazinen und Aktionen, erinnerte man sich an »Souffles« als eine Erfahrung, die den Boden für neue Ideen fruchtbar gemacht hatte.

Jede Ausgabe von »Souffles« öffnete mit einem Kommentar von Laâbi. Die »dringlichen Fragen« waren unzählbar. Religion war bezeichnenderweise kein Thema: Der Fundamentalismus hatte den alten und weisen maghrebinischen Islam, der offen für Änderungen und Säkularisierung war, noch nicht in Bedrängnis gebracht. 1967 schuf Laâbi, von Gedichtlesungen abgesehen, mit seinen Dichterfreunden und der Unterstützung von Melehi die »Collection Atlantes«, worin Schriften von Jakobiak, Nissaboury, Alloula und Laâbis Buch »L’Oeil et la Nuit« veröffentlicht wurden. 1968 war »Souffles« bei der Geburt der nationalen kulturellen Vereinigung ARC (Action et Recherche Culturelle) dabei, die, wie Laâbi schrieb, von »einigen Künstlern, Akademikern, wissenschaftlichen und technischen Profis und Studenten« gegründet wurde. Es war ein bedeutendes, ambitioniertes Projekt. Sogar politische Parteien waren involviert. »Souffles« nahm enthusiastisch an ihren ersten kulturellen Aktivitäten teil, die sich unerschrocken auf den Rest des Maghreb ausdehnten. Die Zusammenarbeit mit Abraham Serfaty, einem bemerkenswerten marokkanischen Intellektuellen, wurde relevanter als die mit Tahar Ben Jelloun. Mit Laâbi 1972 verurteilt und später auch verhaftet, wurde Serfaty 1991 freigelassen.

Nach Nummer 15, die Palästina gewidmet war (»Pour la Révolution Palestinienne«), wechselte »Souffles« Layout, Cover und Format. Laâbis Magazin war »das Organ der revolutionären Bewegung Marokkos geworden« (Gontard). Eine riesige Wende. Eine Entscheidung, so erinnert sich Jakobiak, von »idealistischer Großzügigkeit«, »eine, die dich [trotzdem] zu allen möglichen Brüchen zwingt und die Welt in zwei Hälften teilt: die guten und die bösen […]. Als die Euphorie verblasste, gab es die, die zu einem dialektischen Materialismus konvertierten, und die, die es nicht taten.« Maler und Dichter der ersten Periode folgten dem neuen Kurs nicht (oder wurden innerhalb des neuen Aktionskomitees nicht akzeptiert). In einem Klima schmerzvoller Debatten spaltete sich die »kreative« von der »politischen« Gruppe. Es war die normale Entwicklung einer kulturellen Bewegung. Dasselbe war anderen Gruppen in der Geschichte des modernen Avantgardismus auch passiert. Diejenigen, die an freie unabhängige Schöpfung glauben, widerstehen dem Diktat und Jargon der politischen Parteien. Andererseits braucht die Ideologie Intellektuelle und Dichter, um ihre Sicht auf die Welt zu erneuern. »Souffles« hatte seinen Beitrag großzügig angeboten. Es gab aufschlussreiche Dokumente über die großen revolutionären Kämpfe der Zeit (Angola, Südafrika, Mosambik etc.) als auch über die politische Situation in Marokko heraus. In einer schwierigen Zeit »verratener Unabhängigkeit« (Laâbi) war der neue Kurs von »Souffles« wichtig für das politische Bewusstsein der Nation. Doch als Kunst und Poesie mit lauter Stimme gesprochen hatten, war damit ein Wechsel eingeleitet worden, der revolutionär und gut für das Bewusstsein der Nation war. Hätte es das »Souffles« der ersten Periode und seiner Zusammenarbeit mit der »Gruppe Casablanca« nicht gegeben, Marokko und Maghreb würde seine Abwesenheit gespürt haben. Das ist auch der Grund, warum, wenn die jüngere marokkanische
Generation heute über »Souffles« schreibt, sie mit Anerkennung zurückschaut auf deren KünstlerInnen und SchriftstellerInnen, die den Mut hatten, zu schaffen und zu erfinden, ebenso wie auf die Intellektuellen, die den Mut hatten, der Ungerechtigkeit zu trotzen.8

 

Übersetzt von Brandon Walder

 

1 vgl. Marc Gontard, La Littérature marocaine de langue française, und Bernard Jakobiak, Souffles de 1966 à 1969, in: Europe, Juni/Juli 1979, S. 107f. und S. 117–123.
2 vgl. Abderrahmane Tenkoul, Les Reviews Culturells, in: Regards sur la Culture Marocaine, Nr. 1, 1988, S. 8–13.
3 Marc Gontard, ebd., S.107.
4 Germain Ayache, Les écrits d’avant l’Indépendance. Ed. Wallada, Casablanca 1990.
5 vgl. Toni Maraini, Écrits sur l’Art, 1964–1989, El Kalam, Rabat, 1990.
6 Lahsen Mouzouni, Le Roman marocain de langue française. Publisud, Mimizan 1987, S. 71.
7 (Faculté de) Langage bezeichnet die allgemeine menschliche Sprach- und Sprechfähigkeit, wohingegen Langue als Bezeichnung für Sprache als abstraktem System von Zeichen und Regeln verstanden wird (Anm. d. Ü.).
8 vgl. Revue: Souffles Coupés [Editorial], in: Tel Quel, Nr. 148, Casablanca 2004, S. 23.