Heft 4/2006 - Taktiken/Topografien


»Suche die Extreme, dort spielt sich alles ab!«

Zur Neuentdeckung des Werkes von Lee Lozano

Hedwig Saxenhuber


Bis vor kurzem war Lee Lozano – die sich später nur noch »E« nannte und eine der radikalsten libertin denkenden und ästhetisch faszinierendsten KünstlerInnen der New Yorker Avantgarde der 1960er Jahre und frühen 70er Jahre war – relativ unbekannt. Die Neuentdeckung ihres Werkes begann mit der mittlerweile legendären Ausstellungsreihe »Matrix« des Beaux-Art-Museum am Wadsworth Atheneum in Hartford, wo 1998 zwei Werkkomplexe von Lee Lozano gezeigt wurden, was eine längst fällige Korrektur in der Kunstgeschichtsschreibung nach sich zog. Im Zentrum der Präsentation stand ihre konzeptuelle Werkphase1: ihre konzeptuelle Malerei, die »Wave«-Serie, die aus elf Bildern besteht und nach einem streng mathematischen System konzipiert und in einem Stück ausgeführt wurde, und die »Language Pieces«, knappe Aufzeichnungen von Anordnungen an sich selbst und Handlungssequenzen. In Versalien auf kariertem Papier – manchmal schrieb sie sie aus ihren Notizbüchern ab – versuchte Lozano die Idee von »Kunst und Leben« darzustellen, manchmal ausführlicher, in fast tagebuchartigen Notaten, dann wiederum sehr knapp. In einem Essay für die diese Ausstellung begleitende Broschüre nennt James Rondeau die »Wave«-Serie ein »logical, pre-set system« und rückt so Lozanos Kunst in die Nähe von Sol Lewitts Konzeptionen.2

Der kurze Zeitraum ihres Schaffens (1961–1971) umfasst eine ungewöhnlich große Bandbreite künstlerischer Interessen und Praktiken, bevor sie den selbst gewählten Rückzug aus der Kunst antritt. In diesem Sommer setzte erstmals eine breitere Rezeption von Lozanos umfassendem Werk außerhalb der USA ein. Die Kunsthalle Basel stellte sich in Kooperation mit dem Van Abbemuseum in Eindhoven die ehrgeizige Aufgabe, einen umfassenden Einblick in das Werk Lozanos zu geben – und setzte diesen auch in einer beeindruckenden Ausstellung um. Der begleitende Katalog – er enthält neben historischen Texten auch Kurztexte der Künstlerin sowie eine Transkription eines Vortrags von Lozano, den sie am 16. Juli 1971 in David Askevolds Klasse am Nova Scotia College hielt, das damals als Mekka der Konzeptkunst galt – ist die erste exzellente Aufarbeitung ihrer verschiedenen Werkgruppen. In Halifax entstand auch das »Halifax 3-State Experiment«: die Idee, den am Vormittag im NSCAD gehaltenen Vortrag in drei verschiedenen Zuständen zu wiederholen – nüchtern, unter dem Einfluss von Marihuana und auf LSD, während sie von den StudentInnen ihre Pupillen fotografieren ließ.

Fast zeitgleich mit der Präsentation in Basel eröffnete die Kunsthalle in Wien eine Ausstellung der beiden Amerikanerinnen Lee Lozano und Dorothy Iannone. Ein interessantes Konzept, zwei Künstlerinnen, die von ihrer künstlerischen Auffassung und ihren Lebenskonzepten her unterschiedlicher nicht sein konnten. Während Lee Lozano immer auf der Suche nach Extremen war, am Vergnügen der Provokation festhielt und darin ihre Stärke und Durchhaltekraft für Grenzüberschreitungen fand, gab sich Dorothy Iannone fast hysterisch der ekstatischen Liebe zu einem Mann hin, mit allen Konsequenzen. Der Kitt der Ausstellung besteht in der visuellen Darstellung von Sexualität. Grob, zotenhaft, unflätig, derb, humorvoll-bissig die Schwänze und Mösen in abstrakt expressionistischer Manier bei Lozano oder in comicartigen, opulenten Bildtafeln und Erzählungen bei Iannone – auffallend, dass Iannones Darstellung der alles durchdringenden Liebe, der Penetration der Liebenden, nicht der Darstellung der klassischen Dichotomie von Mann und Frau entspricht, sondern der in Mode befindlichen Vorstellung vom Unisex(wesen).

Sowohl in der Basler als auch in der Wiener Ausstellung ist das Frühwerk von Lee Lozano zu finden – blasphemische Zeichnungen und Malereien, die das »Gesetz des Vaters« und die symbolische Ordnung von Autorität und Religion unterwandern. Sie wurden im New York in den frühen 60er Jahren nicht ausgestellt. Sabine Folie, die Kuratorin der Wiener Ausstellung, räsoniert über die Gründe der Unsichtbarkeit dieser Phase: In einem Klima der im Vergleich zahmen, jedenfalls kaum die Moral und Autoritäten berührenden Konzeptkunst und der affirmativen Pop-Art wäre die übertriebene Drastik von Lozanos Äußerungen nicht wirklich gut angekommen. Was der Kurator James Rondeau geschickt eingefädelt hatte, Lozano in den Kanon der Konzeptkunst zurückzuführen, widerfuhr ihrem expressionistischen Frühwerk, das an den späten Philip Guston erinnert, erst ein knappes Jahrzehnt später.

Lozanos Werkphase »Tool Drawings« und »Tool Paintings« ab 1964 zeigt einen gewaltigen formalen Bruch unter dem Einfluss des in New York aufkeimenden Minimalismus. Doch sind die sexuellen Inhalte nicht verschwunden, sondern »die Latenz der viszeralen Schäfte und die Penetranz der diversen sich in den Raum bohrenden Schrauben und Gewinde verschärfen die sexuellen Anspielungen nur noch«.3 Todd Alden schreibt dazu: »Lozanos ›Radikalisierung des Eros‹ gehört in den intellektuellen Kontext und den Bereich utopischer Herausforderungen, die in Marcuses Buch ›Eros and Civilisation‹ (1955/1961) formuliert wurden und die revolutionäre Potenziale an verstörenden Orten fand. In diesem einflussreichen marxistischen Dialog mit Freud behauptet Marcuse, dass die ›Reaktivierung der polymorphen Perversion‹ gegen den zerstörerischen Charakter der industriellen Kultur zur Entstehung einer orphischen Kultur führen könne, das heißt zu einer Gesellschaft, die nicht auf Nützlichkeit, Produktion und Arbeit, sondern auf Ästhetik, Sinnlichkeit und Spiel basiert«.4

Mitte der sechziger Jahre trat im New Yorker Kunstmilieu eine Destabilisierung und Emanzipation ein. Der klassische Werkbegriff wurde mehr denn je hinterfragt, der Prozess der Entmaterialisierung setzte ein. In dieser Zeit begann Lozano, die neben ihrem Kunststudium auch ein Philosophiestudium und Naturwissenschaften in Chigago absolviert hatte, mit ihren »Language Pieces«, die sich mit ihrer obsessiven Neigung zur Selbstbeobachtung verbanden. Das »Dialoguepiece (April 21 – December 18, 1969)« ist ihre wichtigste Wortarbeit. In ihr ist ablesbar, mit wem die Künstlerin freundschaftliche und enge Kontakte pflegte, und das hört sich heute wie ein Who is Who der New Yorker Kunstelite jener Jahre an. Lozanos Kunst wird zu einem Instrument, das auch den weniger fassbaren Qualitäten zwischenmenschlicher Beziehungen Wert beimisst. Im »General Strike Piece« zeichnet Lozano einzelne Handlungen auf, mit denen sie im Rahmen des künstlerischen Projekts Distanz zum Kunstbetrieb herstellte.

Lee Lozanos allmählicher Ausstieg aus der Kunstwelt wurde nicht nur konzeptionell vorbereitet, sondern ganz real bewirkt. Die Künstlerin wollte keine Zugeständnisse – »ich verstehe mich nicht als Kunstarbeiterin, sondern als Kunstträumerin, und ich werde mich nur an einer totalen, gleichzeitig privaten und öffentlichen Revolution beteiligen«. Das »Dropout Piece«5 war für Lozano die schwerste Arbeit, die sie jemals vollzogen hatte, und beinhaltete gleichzeitig den Entschluss, nie mehr mit Frauen zu sprechen, diesen Boykott hielt sie auch bis zum Lebensende (1999) durch. Helen Molesworth hat sich im Zusammenhang mit der Radikalität dieser Verweigerungshaltung die Frage gestellt, warum Lozanos Ablehnung von Frauen heute geradezu pathologisch und ihre Absage an die New Yorker Kunstwelt so idealistisch wirkt. Lee Lozano hatte erkannt, dass »das Patriarchat und der Kapitalismus als miteinander verbundene und sich gegenseitig bedingende Systeme bestehen, und die Ungleichheit nur dann aufzuheben ist, wenn man beide Systeme abschafft.« Davon ist die Logik des Spätkapitalismus, der fast ausschließlich affirmative Effekte produziert, weit entfernt, und so wird Lee Lozano einen wichtigen Platz im System der Kunstgeschichte bekommen, aber die Kraft ihres Blickes auf die Ambivalenzen, die sie gesehen hatte, wird deswegen nicht aufgehoben, sondern nur verstärkt.

Die Ausstellung »Win First Don’t Last, Win Last Don’t Care« war von 15. Juni bis 27. August 2006 in der Kunsthalle Basel zu sehen; »Seek the Extremes … – Dorothy Iannone/Lee Lozano« von 7. Juli bis 15. Oktober 2006 in der Kunsthalle Wien.

 

 

1 Siehe Martin Beck: Geschichtskorrektur, in: springerin 2/1998, S. 50–52.
2 Siehe »Making Waves. Katy Siegel talks with David Reed about the Legacy of Lee Lozano«, in: Artforum international, Oktober 2001, S. 125.
3 Siehe Sabine Folie: Seek the extremes, that’s where all the action is, in: Lee Lozano: Seek the extremes, Wien 2006, S. 29.
4 Siehe Todd Alden: Die Höhlen-Gemälde existieren, weil die Höhlen Toiletten waren. Eine Reaktivierung des Werks von Lee Lozano, in: Lee Lozano: Win First Don’t Last, Win Last Don’t Care, Basel 2006, S. 21.
5 Susanne Neuburger & Hedwig Saxenhuber: Kurze Karrieren, Köln 2004, S. 68.