Heft 1/2007 - Lektüre



Diedrich Diederichsen, Christine Frisinghelli, Christoph Gurk, Matthias Haase, Juliane Rebentisch, Martin Saar & Ruth Sonderegger:

Golden Years

Materialien und Positionen zu queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974

Graz (Edition Camera Austria) 2006 , S. 76

Text: Gislind Nabakowski


Als in Frankfurt am Main das Institut für Sexualwissenschaften (1973–2006) geschlossen wurde, nannten Kritiker das einen »schwarzen Tag für aufgeklärtes Denken und Handeln in Deutschland«. Einer der international anerkanntesten Sexualwissenschaftler, Volkmar Sigusch, erfuhr in trauriger Verbitterung die Zerschlagung seines Lebenswerks. Jahrzehntelang widmete sich der Soziologe und Mediziner sexuellen Minderheiten, die von heterosozialen Normen abweichen, mit dem Ziel ihrer Entpathologisierung. In dem Buch »Praktische Sexualmedizin« schrieb er zuletzt: »Als ein kulturell Isoliertes und Dramatisiertes gibt es Sexualität nur im europäisch-nordamerikanischen Gesellschaftskreis.«1
Während fraglich ist, ob heterosexuelle Normen unverändert so blieben, wie Queer-Fans meinen, gibt und gab es KünstlerInnen-Gruppen, die sich Hetero-Normen widersetzen. Gibt es Gemeinsames zwischen ihnen und den Ideen des Frankfurter Forschers? Charles Ludlam, Schauspieler und Regisseur der New Yorker Ridiculous Theater Company, verstand sein queeres, legendäres Anarchotheater einst als eine Truppe, der es »um Produktion von Reichtümern der Imagination geht«. Dies erweiternd sah Stefan Brecht (geboren 1924), Theaterkritiker und Lyriker, Sohn Bert Brechts und Helene Weigels, im queeren Off-Off-Broadway-Theater eine »säkulare Religion für unselbständig Beschäftigte, die keine Gelegenheit zu freiem Unternehmertum haben, und die sich nun über Konsum definieren«. Seine ambivalente, erfreulich hellsichtige, zumal materialistische Theorie erkannte im geschlechtsverwandelnden Drag trotz narzisstischen Konsums: »Spiele Spiele im Spiel«. Farcen der Ridiculous-Ästhetik erfreuten am Ende – Ludlam starb 1987 – den New Yorker Mainstream. Betont feierte sein Schauspiel das polymorph-sexuelle Spielen und Fallenlassen eindeutiger Geschlechterrollen.
Nachzulesen ist all das endlich mal in einem Buch, das sich der Ästhetik von Queerness im 20. Jahrhundert widmet: »GOLDEN YEARS. Materialien und Positionen zu queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974«. Dreißig Essays erörtern diese Ästhetik in Film, Theater, Bildender Kunst und Musik (Terre Thaemlitz, Gary Numan, Ultra-red, Glitter Rock, David Bowie und andere). In erweiterter Form greifen die Texte die Veranstaltungsreihe »REMAKE/RE-MODEL. Secret Histories of Art, Pop, Life and Avantgarde« des steirischen herbstes von 1999 auf. Fokussiert wird auf die Ära der Revolte, die rigorose Neubewertungen des Sexuellen auslöste. Beispielhaft dargestellt werden Felder sexuellen Außenseitertums, Netzwerke, Abgrenzungen, Konkurrenzen. Wozu man ein ansehnliches Namensregister findet.
Der Plan des Projekts: KünstlerInnen, die voll Spott gegen den tradierten Dualismus von männlich/weiblich opponierten, »offiziell geschichtsfähig« (Juliane Rebentisch) zu machen und in Theorien zu einst nicht-akademischen Bewegungen die Perspektiven der Beteiligten stärker zu beachten. Dies gelingt nur teilweise. Zunächst, weil AIDS die Gruppen grausam dezimierte, wodurch das von Martin Saar und Ruth Sonderegger wissenswert eingeführte Kapitel mit Quellentexten kurz bleibt. Und weil einige der von Mike Kelley geführten Interviews (von 1999) partiell oder ganz (etwa mit Super-Groupie Pamela Des Barres) Smalltalk sind.
Gezielt liefert das Buch Einblicke in »Traumidentitäten« queerer Milieus. Zentraler Fixpunkt ist die Bedeutung des Schauspielers, Performers und Filmemachers Jack Smith (1932–1989) als Gegenpart Andy Warhols. Beleuchtet werden sein virulenter Einfluss auf damalige Subkulturen wie die eisernen US-Zensur-Kampagnen gegen seinen in Teilen orgiastischen Film »Flaming Creatures« (1963) mit einer gefakten Vergewaltigung. Als einziger Avantgardefilm wurde er je in US-Kongress-Berichten beschrieben, in Knokke (Filmfestival 1964) aus Protest auf den Kopf des Justizministers projiziert. Sein Verzweifeln an den herrschenden sexuellen Normen Amerikas fügte Smith zur »Ästhetik des Kollaps«, auch der Kulissen. Seine Kunst nährte er mit der autistischen »Kraft von Entzückungen«, die er in der Jugend als »untilgbare Lust« an schlechtem Hollywoodkino empfand. Sein Phantasma um die B-Movie-Diva Maria Montez wird so erklärt: In seinem »schwulen Elysium« unterwarf er sich deren Imago und erfand, ihre Weiblichkeit aufsaugend, einen »Ort« für sein Schwulsein.
Die Texte umkreisen einander, bieten, gendertheoretisch geschult, reichlich differenzierende Deutungen des wilden Treibens der Ära. Weniger deutlich wird, dass Queerness nach 1969 zum politisch folgen- und einflussreichen Phänomen wurde, dass queere »Spiele« integrierend wirksam waren, weil es bürgerrechtlich verbindende Solidaritäten gab. Kaum Ideen folgen, um das lesbisch-queere WOW-Theater der New Yorker Café-Nischen-End-Achtzigerjahre zu würdigen. Vom »Phantom lesbischer Unsichtbarkeit« ist zu lesen. Keine wirklich taufrische These. Dieses Thema verschwindet leider in Klischees.

 

 

1 Volkmar Sigusch, Praktische Sexualmedizin, Köln 2005, S. 149.