Heft 1/2007 - Andere Modernen


Nicht ganz das nackte Leben - Regeln und Ausnahmen

Zur Problematik der Darstellung ethnischer Minderheiten

Suzana Milevska


Einige dringende ethische Fragen, die sich augenscheinlich durch die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien ergeben haben, überschneiden sich mit ästhetischen Fragen der Repräsentation in der Kunst und im Film. Die neuerdings aufgetretenen Paradoxe der Menschheit und das Problem der wiederholten und unkritischen Verbreitung verschiedener Darstellungen dieser Paradoxe bedürfen einer dringenden politischen, kulturellen und genderspezifischen Analyse. Die Dringlichkeit, diese speziellen Prozesse zu überdenken, ergab sich aus der juridischen Beschneidung der universellen Freiheits- und Menschenrechte und den Paradoxen der kulturellen und politischen Übersetzung dieser Prozesse in Repräsentationen, die »nacktes Leben« im Grunde erst generieren. Wenn »nacktes Leben«, wie von Giorgio Agamben in seinem berühmten Buch »Homo Sacer« dargestellt, ein Leben bar jeder Werte und Formen ist, bleibt die Frage, ob dieser Zustand überhaupt darstellbar ist und ob man KünstlerInnen, die solche Darstellungen vornehmen, irgendwelche Regeln auferlegen sollte.1

Da Fragen der Menschenrechte untrennbar mit der Genderproblematik und der Politik der Repräsentation verbunden sind, soll eines gleich zu Beginn klar gestellt werden: Das Ausmaß und die Bedeutung, was die Verstrickung von Problemen des Rassismus und »der Förderung bzw. des Schutzes« der Menschenrechte mit Fragen der kulturellen Übersetzung dieser Paradoxe anbelangt, würden bei einer separaten, auf einen der genannten Aspekte fokussierten Diskussion Gefahr laufen, ignoriert zu werden.

Die unterschiedliche Art und Weise, wie Bilder des »nackten Lebens« und des »Homo Sacer« im heutigen Kontext des Balkans konstruiert und in bestimmten kulturellen, genderspezifischen oder ethnischen Kontexten verstärkt werden, sind zu einem brennenden Thema geworden. Eine kritische Analyse unterschiedlicher Beispiele von Darstellungen des »nackten Lebens« in der bildenden Kunst, der Literatur, im Film und im Theater muss sich darauf konzentrieren, inwieweit diese die in der Idee des »Homo Sacer« beinhaltete Ausschließung verstärken oder dekonstruieren.

Von besonderer Bedeutung ist hier Agambens Anregung, das »Lager« als Paradigma der Moderne und des politischen Raums zu verstehen, einem Raum, wo Politik zu Biopolitik wird; der Homo Sacer wird praktisch mit dem Bürger bzw. der Bürgerin gleichgesetzt, und die Realität des Lagers dehnt sich auf die zeitgenössische Stadt als Ganzes aus. Dieses Konzept kann hilfreich sein, um theoretische Überlegungen über Internierungslager anzustellen, deren InsassInnen im Namen der herrschenden Macht und zum Schutz der Bevölkerung aller ihrer Rechte beraubt werden. Es lässt sich aber auch auf ganze Stadtteile ausdehnen, wie etwa auf Shuto Orizari, den Teil von Skopje mit dem größten Bevölkerungsanteil an Roma.

Um sich den Anforderungen der zukünftigen politischen Entwicklung und der europäischen Integration stellen zu können, sind die postsozialistischen Gesellschaften des Balkans gezwungen, neue politische Kriterien zu akzeptieren, die häufig mit der bestehenden politischen Kultur und den eher exklusiven ethnisch-nationalistischen Rahmenbedingungen nicht kompatibel sind. Man kann durchaus sagen, dass es in vielen Balkanstaaten Vorurteile gegen Roma sowie gegen albanische, türkische oder andere Minderheiten gibt. Die Folge sind diskriminierende Praktiken im staatlichen Rechts- und Schulsystem. Offenbar ist das Konzept des »nackten Lebens« auf zweifache Weise mit Repräsentationsfragen verbunden: als ihr Symptom und als ihr Produkt. Die Grenzen der Darstellbarkeit des »nackten Lebens« scheinen die Möglichkeit jeder anderen Darstellung heutzutage in Frage zu stellen. Daraus ergeben sich folgende Dilemmas: Sollten wir bereits etablierte Hierarchien bestehender Darstellungsweisen neu überdenken und versuchen, neue, angemessenere Darstellungsweisen zu entwickeln? Oder sollten wir die Darstellung des »nackten Lebens« als Unmöglichkeit anerkennen und somit versuchen, jegliche Darstellung zu umgehen?

Die »Zonen der Ununterscheidbarkeit« bzw. die Ausnahmezustände und -räume sind nicht immer sichtbar, können aber leicht zu Objekten der Darstellung werden. Verschiedene Darstellungen können im Kontext der für »Ausnahmezustände« typischen unbegrenzten Aufhebung des Gesetzes analysiert werden sowie ihrer Normalisierung innerhalb der Gesellschaft. Im Fall des Roma-Volkes haben wir es mit der Darstellung eines staatenlosen Paradigmas des zeitgenössischen menschlichen Daseins zu tun, das dem Flüchtlingsparadigma von Hannah Arendt sehr ähnlich ist. Das Schicksal der Roma-Bevölkerung kann sowohl in Bezug auf die Grenzen des Nationalstaats und der Staatsbürgerschaft diskutiert werden als auch im Hinblick auf die Trennung zwischen biologischem und politischem Leben. Wie der »Homo Sacer« haben Roma in vielen Balkanstaaten zwar ein biologisches Leben, aber keine politische Bedeutung, obwohl sie allgegenwärtig sind, wenn nicht in den Stadtzentren, dann in den Randbezirken.2

Repräsentationsmuster in der Kunst

Die kulturelle Übersetzung politischer Repräsentationsmuster in Bilder erfolgt genau zu dem Zweck, die Vektoren der verschiedenen Machtstrukturen und Bewegungen verschmelzen und verwischen zu lassen. Diese Motive gilt es in all den heiklen Landschaften multikultureller Umgebungen aufzustöbern; mein Beispiel kommt vom Balkan. In solchen Umgebungen können visuelle Darstellungen, wie im Fall des semidokumentarischen Films »The Shutka Book of Records« (2005) des serbischen Regisseurs Aleksandar Manic, bestimmte, unerwartet schwerwiegende Störungen innerhalb der aktuellen demokratischen Prozesse und des Rechtssystems hervorrufen. Die Art, wie Roma in diesem Film dargestellt werden, ist in vielfacher Hinsicht fragwürdig.

Der Film erzählt etwa siebzehn Geschichten, deren ProtagonistInnen unter ihrem echten Namen oder einem Alias auftreten; allerdings werden die Persönlichkeiten der Charaktere von den Repliken des Erzählers Dr. Koljo weitgehend überschattet, der, auch wenn gerade nicht im Bild, mit seiner Stimme aus dem Off allgegenwärtig ist. Mir geht es hier nicht nur um eine breit gefächerte kritische Interpretation der visuellen Darstellung des Lebens der Roma, sondern auch um die eindeutige Reaktion des Publikums auf diese Darstellung.
Hier zeigt sich, wie stark die Botschaft eines unerwarteten öffentlichen »Auftritts« eines Kollektivs sein kann. Ich beziehe mich dabei auf die organisierten Proteste, die der Kinostart des Films am 2. Februar 2006 hervorgerufen hat. Während der Premiere im Kino »Kultura« in Skopje sowie an mehreren darauf folgenden Abenden protestierten etwa hundert Roma aus der unabhängigen Gemeinde Shuto Orizari, besser bekannt als »Shutka« (ein Vorort im Norden von Skopje, in dem seit dem katastrophalen Erdbeben von 1963 etwa 50.000 bis 65.000 Menschen leben und der seit 1995 eine eigene Gemeinde ist), gegen die Art der Darstellung ihrer Gemeinde und der Roma-Bevölkerung in diesem Film. Sie wehrten sich vor allem dagegen, als arme, primitive und exotische MeisterInnen sensationeller und absurder Fähigkeiten – darunter Geisteraustreibung, Geistheilung oder sexuelle »Dienstleistungen« dargestellt zu werden, aber nie als »MeisterInnen« auf intellektueller oder schulischer Ebene.

Nach den ersten Vorführungen des Films berichteten mazedonische Tageszeitungen sowie lokale und nationale Fernsehsender über den Unmut gegen den Film.3 Besonders interessant war der Unterschied in der Berichterstattung der beiden lokalen Privatsender »BTR« und »Shutel«, beide von Roma betrieben, was sich jedoch durch die Beteiligung von »Shutel« an der Produktion des Films und der namentlichen Nennung des Senders erklärt. Die Paradoxie dieses Falls zeigt sich allein daran, dass trotz der herben Kritik, er erkenne die Rechte der Roma als Gemeinschaft nicht an, Raubkopien von Manics Film in Shutka an jeder Straßenecke zu haben sind, was wiederum deutlich macht, wie populär der Film trotz aller Kontroversen ist.

Der Drang, die Diskussion von Agambens Konzepten – »Zonen der Ununterscheidbarkeit«, »Ausnahmezustand«, »Ausnahmeraum« und »nacktes Leben« – auf den Bereich der visuellen Darstellung in der zeitgenössischen Kunst und den Medien auszuweiten, entspringt dem Bedürfnis, die Art und Weise neu zu überdenken, wie derartige Darstellungen die Kultur durch Politik beeinflussen und umgekehrt. Selbst wenn die Darstellungen des »nackten Lebens« in diesem Film als »nicht ganz nackt« interpretiert werden können, weil sie bei weitem nicht so komplex und heftig sind wie die extremsten Phänomene anderer Fälle von »nacktem Leben«, sind sie doch äußerst wichtig für ein Verständnis des Übersetzungsprozesses von Kultur in Politik, und umgekehrt, der Wirkungsweise von Biomacht durch die Kultur.

Wenn Agamben die extreme Situation der »Lager« in den heutigen Städten erörtert sowie den Unterschied zwischen Leben, »nacktem Leben« und Tod in derartigen Zusammenhängen, konzentriert er sich meist auf die Beziehung zwischen Souveränität, »Biomacht« und den Ausnahmen von der Regel in Momenten der Ausrufung des »Ausnahmezustands«. Allerdings denkt Agamben nicht im Detail über die Frage unterschiedlicher visueller Methoden der Darstellung nach oder über die Art und Weise, wie Bilder von »Zonen der Ununterscheidbarkeit« in der zeitgenössischen Kunst, im Film und in den Medien festgehalten werden.

Lager als Matrix der Moderne

Gerade wenn das »nackte Leben« beginnt, sich gegen solche Definitionen auszusprechen, wird die Ambiguität von »Innen« und »Außen« noch offensichtlicher und zeigt, wie viel Ähnlichkeiten die Struktur der Kommune mit einem »Lager« hat. Es wird zur Regel, zum »nómos« des politischen Raums, den wir alle teilen. Indem er das »nackte Leben« gleichzeitig ausschließt und innerhalb der politischen Ordnung erfasst, bildet der »Ausnahmezustand« im Grunde das verborgene Fundament, auf dem das gesamte politische System ruht.
Die Idee der Stadt als ein disziplinarischer, von Mauern umgebener Raum führte zu den historischen Prozessen der ethnischen Einschließung und Ausschließung. Die klare Unterscheidung zwischen Außenstehenden und Eingeweihten, zwischen Untertanen und Gesetzlosen wurde durch viele architektonische, soziale und kulturelle Entscheidungen gerechtfertigt. Agamben behauptet, das heutige Stadtleben spiele sich in »Zonen der Ununterscheidbarkeit« ab, und ein offensichtlicher Prototyp räumlicher Ununterscheidbarkeit sei das Lager. Während das Lager ursprünglich ein außerordentlicher, ausgegliederter Raum war, geheimnisumwittert und abgeschottet, wird er heute zum nómos, zu einer verborgenen Matrix der Moderne. Die sichtbaren Unterschiede zwischen Innen und Außen verschwinden, und wenn sie noch existieren, dann subtiler und verworrener. Die Produktion des nackten Lebens, bar jeder Formen und Werte, dehnt sich jenseits der Mauern auf die Gesellschaft als Ganzes aus.4

In ihrer Kritik an Agambens allzu allgemeinem Konzept des »nackten Lebens« erklärt Judith Butler:
»[Doch] solche allgemeinen Thesen sagen uns noch nicht, wie diese Macht unterschiedlich funktionieren kann, um bestimmte Bevölkerungsgruppen als Zielscheiben herauszugreifen und zu kontrollieren, um die Menschlichkeit von Subjekten zu derealisieren, welche potenziell einer Gemeinschaft angehören könnten, die allgemein anerkannten Gesetzen verpflichtet ist. Und sie sagen uns nicht, wie die Souveränität, in diesem Fall als staatliche Souveränität verstanden, funktioniert, indem sie Bevölkerungsgruppen auf der Basis von Ethnizität und Rasse unterscheidet; in welcher Weise das systematische Management und die Derealisierung von Bevölkerungsgruppen die Funktion erfüllen, die Ansprüche einer Souveränität zu unterstützen und zu erweitern, die keinem Gesetz verantwortlich ist, und wie Souveränität ihre eigene Macht gerade durch den taktischen und andauernden Aufschub des Rechts ausbaut.5

Die Stadtentwicklung von Skopje ist sowohl utopisch als auch heterotopisch. Wie in Foucaults berühmter Definition des Spiegels als Ort hat man sich auch Skopje als eine Fantasie vorgestellt, als die Spiegelung einer modernen Schönheit, die sich in Wirklichkeit in ihr Gegenteil verkehrte, in ein obskures Biest.6 Skopjes Zentrum wurde nach dem katastrophalen Erdbeben von 1963 aus dem Nichts wiederaufgebaut. Die Zerstörung machte Platz für einen enthusiastischen Traum vom Wiederaufbau des Stadtzentrums im Rahmen einer internationalen Ausschreibung. Den von den Vereinten Nationen finanzierten Wettbewerb – ein Ergebnis beispielloser weltweiter Solidarität – gewann 1965 der bekannte modernistische japanische Architekt Kenzo Tange. Er entwarf daraufhin den Masterplan für den Wiederaufbau der erdbebengeschüttelten Stadt Skopje.
Tange schwebte eine dramatische »Stadtmauer« vor, die als fortlaufender, an eine mittelalterliche Befestigungsanlage erinnernder Häuserblock Skopjes Stadtzentrum neu definieren sollte, wobei es wenig Anknüpfungspunkte an bereits bestehende städtische Strukturen gab. In der Tat war das Projekt in seiner Form den tatsächlichen Überresten der mittelalterlichen Stadtmauern nachempfunden; nur wurde aus dem einstigen Schutzwall vor dem Feind und der klaren Aufteilung in Außen und Innen plötzlich eine allumfassende und abgeschlossene Struktur, die ihre eigenen BürgerInnen außen vor ließ. Die »Stadttor«-Blöcke aus Hochhäusern bilden noch immer den Fußgängerzugang zu Skopjes Stadtzentrum, gerade so, als sei das Zentrum das einzige städtische Element von Wert.7

Skopje zeichnet sich auch heute noch durch einige undefinierte und unentwickelte ästhetische und funktionale urbane Aspekte aus, die die gesellschaftlichen Gräben und Konflikte innerhalb der mazedonischen Gesellschaft nur noch offensichtlicher machen. Die augenscheinlichen architektonischen Unterschiede zwischen den Stadtgebieten links und rechts der Vardar werden vom ethnischen und religiösen Hintergrund der jeweils größten Bevölkerungsgruppen (Muslime im Norden, Christen im Süden) noch verstärkt und betonen die elitäre Monstrosität einer unkritischen Umsetzung des internationalen Modernismus in der unterentwickelten Stadt, die Skopje vor dem Erdbeben war. Auf vielfache Weise fühlt man sich an Marshall Bermans »Modernismus der Unterentwicklung« erinnert.

Die begriffliche Spannung, die in dem Ausdruck »sozialistischer Modernismus« mitschwingt, ergibt sich aus dem offensichtlichen Kontrast zwischen den Begriffen »sozialistischer Realismus« und »Modernismus«. Obgleich der Modernismus eine Reihe unterschiedlicher Konzepte hervorgebracht hat, hat sich doch eine seiner Prämissen, zumindest in der Kunst, durchgesetzt – die Umkehrung der Hierarchien der Darstellung, die in der Antidarstellung mündeten.8 Dieser »Ikonoklasmus« ist das genaue Gegenteil der Konzentration auf das »Reale« im »sozialistischen Realismus«. Dennoch darf man nicht vergessen, dass auch der Modernismus seine avantgardistische Komponente hatte, die das Ästhetische mit dem Politischen verband, das Singuläre mit dem Kommunitären. In programmatischen Architekturmanifesten, wie sie von Le Corbusier und Tange proklamiert wurden, führte die Ästhetisierung des Politischen leider oft zur unvermeidlichen Entfremdung. Im Fall von Skopje verschärfte sie zudem die Unterschiede zwischen den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten, die innerhalb der »Stadtmauern« wohnten, und den gesellschaftlich und ethnisch marginalisierten Subjekten (armen ArbeiterInnen oder ethnischen Minderheiten), die vor den »Toren der Stadt« zurückblieben.

Agamben ist zwar weit davon entfernt, zu sagen, dass diese zeitgenössischen Orte die Äquivalente der Nazilager darstellen, behauptet aber, dass sich die Logik des Lagers tendenziell in der ganzen Gesellschaft breit macht, und Skopje ist nur eines der zahlreichen Beispiele exklusiver und geteilter städtischer Umgebungen, die lagerartige Strukturen produzieren.

Das Aufkommen von Lagern signalisiert lediglich, dass der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist und die Gesellschaft in einen grenzenlosen und bzw. erweiterten biopolitischen Raum verwandelt. »Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den rechtlichen Begriff des Verbrechens dermaßen«, so Agamben, »dass man es oft einfach unterlassen hat, die spezifische juridisch-politische Struktur zu betrachten, in der diese Ereignisse stattgefunden haben.«9 So erklärt die Ausnahme teufelskreisartig die allgemeine Situation und sich selbst. Die Situation der Nicht-BürgerInnen und Flüchtlinge offenbart eigentlich die grundlegende Situation aller politischen Subjekte.10
Agambens Frage nach der juridisch-politischen Struktur, die solche Ereignisse möglich macht, ließe sich im Zusammenhang mit der Diskussion der »kulturpolitischen« und »juridisch-politischen« Strukturen stellen, die es KünstlerInnen gestatten, sich mit verschiedenen Gemeinschaften von Marginalisierten, Obdachlosen, Flüchtlingen, untergeordneten ethnischen Gruppen etc. auf eine Art und Weise zu beschäftigen, die nicht nur bestehende Systeme der Ausschließung und Isolation nachahmt, sondern auch neue Paradoxe produziert. Einige unerwartete, weder ethisch noch ästhetisch zu rechtfertigende Phänomene tauchen auf, wenn KünstlerInnen die Eigendynamik von Gemeinschaften und Individuen vernachlässigen; selbst Projekte, die mit den besten Absichten initiiert wurden, enden in diesem Fall häufig im Widerspruch zu ihren ursprünglichen Ideen.
Obwohl die Roma aus Shutka in ihrer Existenz dauerhaft bedroht sind und buchstäblich »am Rande« der Gesellschaft leben, haben sie auch Erfolgsgeschichten zu erzählen; nur kommen diese aus irgendeinem Grund nie in die Medien. Daher ist es wichtig, die dominante Produktion von Projekten zu hinterfragen, deren wichtigste Ziele und Errungenschaften darin bestehen, die negativen Aspekte der Subalternität nachzustellen.

Das Lager als Regel

Shutka ist ein Ort, an dem der Ausnahmezustand sich auf Dauer räumlich eingerichtet hat, eine Gemeinschaft, in der der Ausnahmezustand »zur Regel geworden ist, und wo öffentliches und privates, politisches und wirtschaftliches Leben, das gute Leben der Polis und das nackte Leben des oîkos untrennbar miteinander verbunden sind.«11
Der Frage, wie man zu einer bestimmten Gemeinschaft »wird«, kann man sich nur annähern, wenn man versteht, dass »Wir« kein Subjekt im Sinne einer Eigenidentifizierung darstellt, setzt sich dieses »Wir« nicht aus Subjekten zusammen oder entsteht durch einen vorgeschriebenen Prozess.12 Jean-Luc Nancy erinnert uns daran, dass die Aporie des »Wir« im Grunde die wichtigste Aporie der Intersubjektivität ist und weist auf die Unmöglichkeit hin, ein universelles »Wir« festmachen zu können, das aus den immer gleichen Komponenten besteht.13 Interessanterweise kann das immer neu erschaffene »Wir« jedes Mal unterschiedliche Teile und Gegen-Teile beinhalten, aber es wird nie gesagt, was mit den vorherigen Teilen bzw. TeilnehmerInnen passiert ist oder was sein wird, wenn das Projekt seine Quellen erschöpft hat. Irgendwie ist das »Wir« nie ganz und vollkommen möglich.14

Oft verhindert das fehlende Zugehörigkeitsgefühl zu einer gemeinsamen Gruppe bzw. die fehlende gemeinsame Identität mit den KünstlerInnen bzw. InitiatorInnen den erhofften Effekt. Dagegen arbeiten die deutlich zu unterscheidenden »inoperativen Gemeinschaften«, die sich bei gemeinschaftlichen Projekten häufig weigern, zu »KomplizInnen« des Staates zu werden, vorzugsweise bei Kunstprojekten mit, denen sie vertrauen.15
Um wieder zum Paradoxon der Roma-Proteste gegen den Film »The Shutka Book of Records« zurückzukommen, so bestand der Hauptgrund für die Proteste eben darin, dass das, was für den Regisseur eine Gemeinschaft darstellte, nämlich die Gemeinsamkeit, Rekorde in merkwürdigen (man könnte gar sagen lustigen) Disziplinen aufzustellen, für die Gemeinschaft selbst keine Aussage beinhaltete, die alle Mitglieder teilen und mit der sie sich identifizieren konnten. Die Protestierenden reagierten offenbar auf den Vertragsbruch des »Wir«, fühlten sich betrogen und ausgegrenzt von dem »Wir«, das ihnen der Regisseur Manic versprochen hatte, der während der Dreharbeiten angeblich in Shutka lebte, es aber versäumt hatte, seinen ProtagonistInnen das Endprodukt zu zeigen, bevor es die internationalen Filmfestivals erreichte.16
Einerseits könnte man sagen, dass die Gemeinschaft aus BürgerInnen der eigenständigen Gemeinde und der Roma-Bevölkerung von Shutka tatsächlich »stattgefunden« hat, dass ihr »Entstehen« im deleuzschen Sinne genau in dem Moment offenbar wurde, in dem sie ihren Protest gegen die Darstellung als eine Gemeinschaft äußerte, die etwas gemeinsam hat. Andererseits könnte man genauso gut sagen, dass die Proteste an die falsche Adresse gerichtet waren, dass die Hauptgründe für die permanent extreme Lebenssituation von Roma-Gemeinschaften in Europa und insbesondere auf dem Balkan woanders liegen, weder in dem Film noch in der Darstellung ganz allgemein.17
Dennoch würde ich sagen, dass die Unmöglichkeit der Darstellung »nackten Lebens«, die Unmöglichkeit, dieses in irgendeine »angemessene« Darstellung zu übersetzen, mit der Widersprüchlichkeit von Gemeinschaften zusammenhängt. Nancys Bemerkung, Gemeinschaft vollzöge sich durch die Unterbrechung von Singularität, Fragmentierung und Aufhebung, kann uns dabei helfen, die Beziehung zwischen Singularität und dargestellter Gemeinschaft zu verstehen.18

Offensichtlich hat die Kluft zwischen den Erwartungen der Roma-Gemeinde in Skopje, nämlich einer Kritik der bestehenden Probleme, und dem Ziel des Regisseurs, d. h. einer bloßen »Darstellung der Bedingungen für Glück, Leidenschaft und vollkommene Freiheit, die an diesem magischen Ort erkennbar sind«19, die Verwirrung und letztendlich auch den Protest hervorgerufen. Der Teufelskreis aus unmenschlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen für Roma und der Darstellung dieses Zustands als »vollkommene Freiheit« muss unbedingt unterbrochen werden. Anstatt moralisierend über die von KünstlerInnen gewählten Repräsentationsformen und -weisen zu diskutieren, stellt sich vielmehr die dringende Frage, wie man eine problematische Darstellungspolitik und ihre Übersetzung in eine kulturelle Form, die die Verbreitung immer schon existierender Stereotypen ermöglicht, abschaffen kann.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt am Main 2002.
2 Beispielhaft ist hier der Fall des jungen Roma Trajan Bekirov, der von der Polizei von Skopje gejagt wurde und dabei ums Leben kam. Genauere Informationen über diesen immer noch ungeklärten und unter äußerst mysteriösen Umständen geschehenen Todesfall siehe: NGOs Urge Macedonian Authorities to Investigate Death of Trajan Bekirov – Romani Youth Last Seen Alive While Being Chased by Police, European Roma Rights Centre, 16. Juni 2006, http://www.errc.org/cikk.php?cikk=2604
»Der siebzehnjährige Trajan Bekirov wurde zuletzt lebend gesehen, nachdem er und sein Freund Orhan Isemi am 11. Mai 2006 von ›Alfi‹-Einheiten der mazedonischen Polizei gejagt worden waren. Seine Leiche wurde am 28. Mai 2006 in der Nähe des Dorfes Tubarevo aus der Varda gefischt. Das Institut für Rechtsmedizin führte eine Autopsie durch, deren Ergebnisse immer noch nicht bekannt sind. […] Trajan Bekirovs Eltern glauben, die Polizeijagd sei rassistisch motiviert gewesen. Sie werfen den Behörden außerdem Vorurteile gegenüber Roma vor.«
3 Der Bürgermeister von Shutka erklärt: »The Shutka Book of Records« diskriminiert Romas, in: Dnevnik, 2. Februar 2006; http://star.dnevnik.com.mk/?pBroj=2978&stID=72604
4 Bülent Diken und Carsten Bagge Laustsen, Zones of Indistinction. Security, Terror, and Bare Life, in: airspace & culture, vol. 5, no. 3, August 2002, S. 291;
http://www.purselipsquarejaw.org/papers/zones_indistinction.pdf
5 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt aus dem Englischen von Karin Wördemann-Wingert, Frankfurt am Main 2005, S. 87.
6 Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: ders., Schriften. Vierter Band, Frankfurt am Main 2005.
7 Für sein viel gepriesenes wie auch kritisiertes Projekt ließ sich Tange sehr von Le Corbusiers Ideen zur zentralen Planung sowie von dessen autokratischem Top-Down-Ansatz beeinflussen.
8 Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics. New York 2004, S. 24. (Dt. Die Politik der Ästhetik. Erschienen in: archplus 178, http://www.archplus.net)
9 Agamben, Homo Sacer, S. 175.
10 Agamben stützt sich in seiner Argumentation auf Hannah Arendts Artikel »We Refugees« (Wir Flüchtlinge), erschienen in: The Menorah Journal, Januar 1943, XXXI, und führt diese in einem Text mit dem gleichen Titel weiter aus; http://roundtable.kein.org/node/399
11 Akseli Virtanen, Oikonomia of Bare Life: Agamben vs. Foucault on the possibility of good life in the biopolitical order, 2003, in: http://www.mngt.waikato.ac.nz/ejrot/cmsconference/2003/abstracts/managementgoodness/Vertanen.pdf
12 Jean-Luc Nancy, Being Singular Plural. Trans. Robert D. Richardson and Anne O’Byrne. Stanford 2000, S. 75. (Dt. Jean-Luc Nancy. Singulär plural sein. Übersetzt von Ulrich Müller-Schöll, Berlin 2005).
13 Nancy, Being Singular Plural, S. 75.
14 Irit Rogoff, We – Collectivities, Mutualities, Participations, in: http://theater.kein.org/node/95
15 Jean-Luc Nancy, The Inoperative Community, Minneapolis 1991, S. 80–81. (Dt. Die undarstellbare Gemeinschaft, Frankfurt am Main 1988); Nancy schreibt über die Inskription des »unbestimmten Widerstands«.
16 Ironischerweise gewann Aleksandar Manics Film »The Shutka Book of Records« den Amnesty International Film Festival Award beim Ljubljana International Film Festival 2005.
17 Hito Steyerl und Simon Sheikh haben in ihren Kommentaren anlässlich meiner Präsentation beim eipcp-Workshop »Polture and Culitics« (14. Oktober, Maison de L’Europe) beide die Möglichkeit der Repräsentation in Frage gestellt.
18 Nancy, The Inoperative Community, S. 31.
19 Vgl. »Aufregender Dokumentarfilm vor mazedonischem Publikum. Der magische Realismus von ›The Shutka Book of Records‹ im Kino Kultura«, in: Vreme, 620, 2. Februar 2006, http://www.vreme.com.mk/DesktopDefault.aspx?tabindex=9&tabid=1&EditionID=641&ArticleID=40701