Heft 4/2007 - Journal Welt
Die Marktmentalität in der Kulturwelt erzeugt mitunter eine Ökonomie der Macht und der Geschwindigkeit, die so stark wird, dass sie die Einschätzung nahelegt, Zeitschriften seien im Zeitgeschehen das am ehesten zu vernachlässigende Element. Nicht das Weltall ist das Entscheidende, es sind die Sterne: Kassenschalter, Plattformen, Bestsellerlisten, Zeremonien, Mega-Events, Plakatwände, Werbeanzeigen, die glanzvollen Medien, die auch der Kultur ihren Glanz verleihen, die schützende Aura, die all das umhüllt. Natürlich ist dies ein Mechanismus, der die vielfältigen Zeitschriftenuniversen nicht zu berücksichtigen braucht, um Werte verkaufen zu können, ohne sie schaffen zu müssen. Er ist es, der überzogene Programme auf den Markt mit seiner Rastlosigkeit und seinem turbulenten Stil wirft. Dementsprechend wird es für viele immer schwieriger, den Rhythmus der Welt der Zeitschriften auszumachen, die ihrerseits Probleme damit haben, ihre eigenen Stimmen zu hören.
Dennoch erscheinen die verschiedenen Mentalitäten in einem kulturellen Umfeld noch immer vor allem in Zeitschriften in all ihrer Intensität und Diversität. Es ist eindeutig immer noch eine der besten Methoden, sich mit den Strömungen, Sammelpunkten und unterschiedlichen Meinungen innerhalb einer bestimmten Kultur vertraut zu machen, den Kontakt über die Zeitschriften der betreffenden Kultur aufzubauen und ihre Entwicklungsgänge nachzuvollziehen. Natürlich wäre auch die Auseinandersetzung mit den Werken von Universitätsgelehrten und das aufmerksame Verfolgen des Buchverlagswesens sehr aufschlussreich. Doch fehlt diesen im Vergleich zur Welt der Zeitschriften etwas. Sie können viel leichter ein schiefes Bild vermitteln. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man durch die Beschäftigung mit den veröffentlichten Büchern oder mit wissenschaftlichen Studien an den Universitäten eine Vorstellung vom kulturellen Klima gewinnen. Doch werden diese kaum die Übernahme von Vorurteilen oder die Erschöpfung angesichts verlorener Verbindungselemente verhindern können. Will man zu Vorurteilen auf Distanz und im Besitz jenes wandelbaren, aber hilfreichen Werkzeugs bleiben, das einem auch auf Dauer ein Bewusstsein dessen verschaffen kann, was dort wirklich los ist, will man wirklich wissen, wer wem gegenüber wie reagiert und was die wirklichen Programme und Diskussionen sind, mit denen sich die Leute beschäftigen, dann muss man beispielsweise in der Türkei ein waches Auge auf die lebendige Perspektive behalten. Nur wenn man sich diese – von den zentralsten bis hin zu den periphersten – genau anschaut, dann wird es einem gelingen, die mentale Kartografie zu durchstreifen.
Zeitschriften sind die Kräfte, die der Schaffung eines unabhängigen Standpunktes und eines nicht kontrollierten Raumes am nächsten kommen. Sie neigen dazu, Begehren zu wecken, Begehren dauerhaft zu machen, Begehren kollidieren zu lassen. Sie bringen Graswurzel-Potenziale direkt auf die Straße, wo sie umgesetzt – oder erst einmal diskutiert werden können. Sie können sich in Zwischenpositionen einnisten. In Zeitschriften kann man ein nicht durch Vermittler oder Kulturrepräsentanten vorgefiltertes Wissen finden. Das gleiche trifft natürlich auch für Orte außerhalb der Türkei zu; wenn es einem gelingt, sich die Kartografie aller Zeitschriften in allen möglichen Ländern vorzustellen, dann kann man sich auch diejenige der dortigen Mentalitäten vorstellen. Man wird auf diese Weise die allerdeutlichsten Bilder der verschiedenen geistigen Orientierungen gewinnen. Es gibt immer einige Zeitschriften, die ihre kulturelle Umgebung lediglich widerspiegeln und aufzeichnen, sie zeigen nur, was sie sehen und affirmieren somit die vorgegebene Inszenierung. Sie sind es, die tatsächlich zur Ausbildung eines Kanons beitragen, weswegen man sie die »kanonbildenden« Zeitschriften nennen kann. Auf der anderen Seite gibt es die »sprechenden« Zeitschriften – das sind Zeitschriften, die neue Kanäle für Leute zu öffnen vermögen, denen keine anderen Ausdrucksmittel zur Verfügung standen. Viele neuartige Ideenfelder, die man an öffentlichen Diskussionsorten nicht antreffen würde, erhalten in Zeitschriften eine Stimme, und manche dieser Felder bilden sich überhaupt erst in Zeitschriften. »Kanonbildende« wie »sprechende« Zeitschriften sind von zentraler Bedeutung für die Erstellung von Mentalitätskartografien – die »kanonbildenden« zeigen dabei Einschränkungen und Normen auf, während die »sprechenden« auf Bewegungen, Lebendigkeit und Überschreitung verweisen.
Die bedeutende Rolle, die Kulturzeitschriften für diese Kartografie spielen, ist unmittelbar erkenntlich. Verbindungen, Dialoge und Diskussionen zwischen Kulturzeitschriften erhalten aus dieser Perspektive ihren besonderen Wert.
Zeitgenössische Kunst in der Türkei und die Zeitschrift »art-ist«
Hier kann man die zeitgenössische türkische Kunstszene als ein gutes Beispiel nennen. Zeitgenössische Kunst der Türkei ist seit fast zwanzig Jahren zu sehen. Wir haben vor kurzem ein Buch zu diesem Thema, »User’s Manual, Contemporary Art in Turkey, 1986–2006«1 veröffentlicht, das sich auf diese verhältnismäßig kurze Zeitspanne konzentriert. Darin wird erkennbar, dass die Hauptphase türkischer zeitgenössischer Kunst in den späten 1990er Jahren beginnt. Damals wirkte die zeitgenössische Kunst als ein Stimulans für die beherrschende Malereiszene. Die ersten Ausgaben der Zeitschrift »art-ist« zeigen gleich diese neue Dynamik in der türkischen Kunst: Neue zeitgenössische Kunst aus der Türkei war gegen Tabus gerichtet, auf gewisse Weise avantgardistisch, vorwiegend radikal, nichtnationalistisch, universalistisch und jung. So wie junge KünstlerInnen eigene Ausstellungen organisierten, betrieben sie auch die Zeitschrift »art-ist«. Das Abenteuer »art-ist« spiegelt eindeutig die Dynamik, die von den Entwicklungsbewegungen in der radikalen zeitgenössischen Kunst in der Türkei ausgingen.
Als »art-ist« seine Publikationstätigkeit begann, gab es bereits einige starke Kunstzeitschriften in der Türkei. Zuallermeist nahmen sie Partei gegen die zeitgenössische Kunst. Finanziell waren sie weit mächtiger, sie verfügten über mehr Personal- und Materialressourcen, konnten eine hohe Druckqualität erreichen usw. Das waren auch diejenigen Zeitschriften, die gegen »den Westen« eingestellt waren, die auf die eine oder andere Weise nationalistisch gesonnen waren, zeitgenössische Kunst kategorisch zurückwiesen und deren Hass es aufstachelte, wenn sie sahen, wie junge türkische KünstlerInnen mit den westlichen Kunstgesellschaften flirteten, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Kanonisierende Kunstzeitschriften hatten in der Türkei durchweg institutionellen Charakter. Sie wurden und werden entweder von einer Bank, einem großen Zeitungskonzern oder auch von einer mächtigen Galerie veröffentlicht.
»art-ist« war von Anfang an sehr wichtig für die zeitgenössische Kunstszene in der Türkei. Sie begann als eine »avantgardistische« Publikation, die in Verbindung mit neuen Kunstaktionen und Performancekunst-Events stand. Und sie verstand zeitgenössische Kunst als fortwährende Auseinandersetzung. Nach 2005 fasste »art-ist« den Beschluss, es brauche keine Avantgarde mehr. In der Türkei nimmt das Interesse an der zeitgenössischen Kunst zu – jedoch nicht so, wie man es sich hätte vorstellen können, dass kritische Ansätze zur vorherrschenden Perspektive würden. Nach 2005, im Zuge der letzten drei Ausgaben, beschloss »art-ist«, dass es nur noch auf Türkisch erscheinen würde – um so die Wirkung auf die heimische Szene zu konzentrieren und dort stärker einzugreifen.
Ein interessantes Beispiel: In der Türkei existiert noch eine andere Zeitschrift, die »Artist« heißt, ohne den Bindestrich zwischen »art« und »ist«. Man kann sagen, dass es sich um eine »kanonbildende« Zeitschrift handelt, die ausgesprochen auf einen populären Geschmack zugeschnitten ist. Sie reduzierten zuerst den Verkaufspreis auf 1 NTL (weniger als 1 Euro). Nach einigen Monaten begannen sie, zwei Zeitschriften zu produzieren: »Artist Modern« und »Artist Contemporary«. In einer Zeitung erschien ein Artikel über die beiden Zeitschriften, die so gleich klingende Namen, »art-ist contemporary art magazine« und »Artist Contemporary« hatten – und so unterschiedliche Ansätze verfolgten. Schon dieses Beispiel zeigt, wie sich das Blatt gewendet hat: 1999 versuchte man noch, »art-ist« und die zeitgenössische Kunst entweder zu ignorieren oder schlecht zu machen, 2007 wird es imitiert.
Im Kunstbereich herrscht momentan der »Istanbulismus« – das heißt, dass große Firmen damit anfangen, mehr Geld für zeitgenössische Kunst auszugeben anstatt es in traditionelle, ortsansässige Galerien zu stecken, und die gegenwärtige Situation so zu gestalten, dass sie unter dem Schutzsiegel einer Marke existieren können, in die alle investieren: Istanbul. Es ist eine verbreitete Meinung, zeitgenössische Kunst könne dieser Marke gut tun. Deshalb feiern die kanonisierenden Großkunstzeitschriften ihren Istanbulismus ab, während unabhängige Zeitschriften wie »art-ist« versuchen, ihn durch ihren kritischen Diskurs aus seiner Bahn zu bringen.
Die linke Tradition akademischer Forschung außerhalb der Akademie
In der Türkei gibt es eine Tradition linker kritischer Kulturzeitschriften, die sich als nichtakademisch verstehen. Das hat Türen zu theoretischen Debatten in linken Zeitschriften geöffnet, die auf hohem Niveau geführt wurden, ohne dass notwendigerweise eine akademische Basis dafür existiert hätte.
Wirkungsmächtige Kulturzeitschriften, die sich außerhalb akademischer Institutionen verorten, »zivilisieren« in gewisser Weise die akademischen Debatten und schaffen starke Verbindungen mit der Intelligenzia und den ForscherInnen. Diese Zeitschriften unterscheiden sich ebenfalls von den akademischen Periodika, die für ein enges Fachpublikum bestimmt sind, und sie verfügen tatsächlich über die Macht, die aktuelle politische und kulturelle Situation mit ihren Interventionen direkt zu beeinflussen. Sie haben keine hohen Verkaufsziffern, aber sie erreichen viele verschiedene Leute mit verschiedenerlei Hintergründen und Positionen, sie wirken sich also unmittelbar auf das Leben aus. Das geht aus einer linken Tradition hervor, bei der es die intellektuelle Produktion war, die kritisches Denken vorantrieb, wogegen die Universitäten sich vollkommen im Griff der rechtsgerichteten Despotenregime befanden – vor allem nach dem Staatsstreich von 1980. Heute gelten die Universitäten zumindest auf dem Papier als freizügiger, und man kann vermehrt die Produktion kritischer Schriften von Universitätsgelehrten feststellen. Und dennoch öffnen die Zeitschriften selbst noch ganz andere Kanäle. Man braucht nur an das Thema Nationalismus zu denken. Viele wirkungsmächtige Theoriearbeiten, die den türkischen Nationalismus analysieren, viele wichtige Feldstudien werden von linken und unabhängigen ForscherInnen verfasst und zuerst in links gerichteten Kulturzeitschriften veröffentlicht.
Ausgehend von der Gewissheit, dass sie ohnehin nur einen kleinen RezipientInnenkreis unter BerufsakademikerInnen haben und keine große Öffentlichkeit finden werden, könnte man von akademischen Zeitschriften erwarten, dass sie Werkzeuge für einen Widerstand schaffen, während sie im »versteckten Transkript«2 sprechen. Aber sie nutzen dieses Feld nicht unbedingt, um Widerstand für die Unterdrückten aufzubauen, sondern als einen Bereich, der garantiert den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, dabei aber unter akademischer Kontrolle bleibt. Andererseits geht es unabhängigen Theoriezeitschriften mit einem linken Hintergrund für gewöhnlich darum, in das »öffentliche Transkript« einzugreifen – sie sind weit mehr geneigt, die Dinge offen beim Namen zu nennen.3
Zeitschriften für Dichtung – Outsider
Die Zeitschriften, die sich mit Dichtkunst beschäftigen, sollten hier erwähnt werden, wo wir über das Kapital am Kulturmarkt und über Formen kulturellen Widerstands dagegen sprechen. Es gibt eine ungeheure Menge von Poesiezeitschriften in der Türkei, und die werden nicht nur in den Großstädten, sondern auch in vielen kleineren gemacht.
Außerdem erfreut sich visuelle Poesie unter den jungen türkischen DichterInnen zunehmender Beliebtheit. Das ist heute Anlass einer Avantgardehaltung. Zudem gibt es ironische Gruppierungen, die sich als Surrealisten bezeichnen und Wandgemälde und fotokopierte Zines herstellen. All das steht in einer engen Beziehung zur visuellen Kultur.
Nach dem Jahr 2000 ist es auch im Bereich der Literatur zu größerer Kapitalakkumulation gekommen. Jedes Jahr werden mehr Romane veröffentlicht. In den 1990er Jahren waren es zwanzig bis dreißig neue Titel, inzwischen werden jährlich Hunderte türkischer Romane auf den Markt geworfen, was auf eine gewaltige Anzahl neuer SchriftstellerInnen in der Türkei schließen lässt. Das verdankt sich in erster Linie der Tatsache, dass einige Romane ihren AutorInnen tatsächlich sehr viel Geld und Ruhm eingebracht haben. Auch das Medieninteresse an Romanen hat zugenommen. Zeitungsverlage und Unternehmen steigen in das Geschäft ein. Das wirkt sich als erschwerender Faktor auf die Arbeit der Literaturzeitschriften aus, denn es ist nun nicht mehr so leicht, sein eigenes Programm zusammenzustellen.
Aber die Dichtkunst ist frei. Poesie verkauft sich ohnehin nicht, daran wird keine noch so geschickte Werbekampagne etwas ändern. Also wird die Arbeit der DichterInnen nicht beworben, folglich haben sie auch keinen Anteil an den neuen Geldflüssen. Das setzt die Dichtkunst in gewisser Weise frei. Auch wenn die PoetInnen ein wenig zu selbstbezüglich sind und immer nur über sich selbst, türkische Dichtkunst und ihre Geschichte sowie über neue Bewegungen in der türkischen Dichtkunst sprechen, haben sie dennoch sehr viele Ideen und Debatten entfacht. Hierbei handelt es sich nicht wirklich um ein Gebiet des »Widerstands« im eigentlichen Sinne, denn da die kulturellen Kapitalverwalter sich für Poesie nicht interessieren, müssen die DichterInnen meistens nicht groß Widerstand leisten. Für alle Machtpositionen und Institutionen im kulturellen Feld stellt die Dichtkunst etwas zu Vernachlässigendes dar. Das schafft eine begrüßenswerte Leere und Potenziale für die DichterInnen. Da visuelle und experimentelle Dichtung bei den jüngeren DichterInnen beliebt wurden, kommt es immer wieder zu neuen Manifesten.
Doch hier sehen wir den Unterschied zwischen kritischen Zeitschriften für zeitgenössische Kunst und solchen, die sich mit Dichtung beschäftigen: Eine alternative Arbeitsweise lässt sich im Bereich der Dichtung leichter aufrechterhalten, denn es gibt nicht die vom »Kapital« ausgehenden Versuchungen, der Markt für Dichtung ist marktfrei und hat zugleich aus der Perspektive des Istanbulismus keinerlei Wert. Doch im Feld der zeitgenössischen Kunst müssen sich kritische Ansätze mit Markttendenzen und istanbulistischen Kulturprojekten auseinandersetzen. So schaffen die Diskussionen über zeitgenössische Kunst eine politische Konfliktzone.
Alternatives Publizieren in Istanbul
An dieser Stelle möchte ich ein paar Details über unsere Abenteuer als alternative Verleger in Istanbul anfügen. Verschiedene Publikationsformen können von ein und derselben Gruppe für mehr oder weniger gleiche Ideen verwendet werden. Wenn hier von alternativen »sprechenden« Zeitschriften die Rede ist, dann gibt es eine weitere wichtige Sache zu berücksichtigen: die Form – denn die bestimmt das Endergebnis.
Wir haben, kurz gesagt, aktiv an einem Forschungs- und Publikationsprojekt in Istanbul gearbeitet, das von einer poststrukturalistisch-anarchistischen Perspektive ausging. Dabei handelte es sich um einen Anarchismus, der über die Beschränkungen des Politischen hinaus geht und in den posteurozentrische und nichtmodernistische Elemente, zeitgenössische Theorieentwicklung und Kultur in einem weiteren Verständnis einfließen, was auf ein Anarchismusverständnis hinausläuft, das ganz unterschiedliche Felder ebenso an sich bindet wie den Bereich des Alltagslebens.
Auf diese Weise sind wir in den vergangenen acht Jahren mit unserer Arbeit als Gruppe von Gleichgesinnten an ähnlichen Themen, theoretischen und politischen Positionen interessiert gewesen und haben unterschiedliche Erfahrungen im Bereich des alternativen Verlegertums sammeln können. Dabei haben wir im Wesentlichen drei Phasen durchlaufen.
Erste Phase: das Anarchistische Kollektiv Karasin
Zwischen 1996 und 1998 nannten wir uns »Anarchistisches Kollektiv Karasin«. Im Rahmen dieses Projekts veröffentlichten wir eine als Fotokopie gedruckte Zeitschrift, eine monatlich erscheinende Fotokopiezeitung sowie Flugblätter. Insgesamt veröffentlichten wir zwei Ausgaben der Zeitschrift, drei der Zeitung und elf Flugblätter.
Das Anarchistische Kollektiv Karasin (manchmal verwendeten wir auch die Bezeichnung Arbeitsgruppe Karasin) bestand aus einer kleinen Kerngruppe von nur wenigen Mitgliedern. Karasin setzte sich aus Leuten zusammen, die verschiedene Aufgaben wie Übersetzen, Texteschreiben, Lesen und die Beteiligung and Diskussionen wahrnahmen.
Einmal haben wir uns einen gebrauchten Kopierer gekauft, den wir dann zuhause benutzen konnten, aber das erwies sich als wenig effizient. Es lohnte sich nicht für eine Amateurgruppe wie die unsere – es war nicht so billig, wie wir uns das vorgestellt hatten. Also kauften wir schließlich eine Druckmaschine, die für alle unsere Zwecke taugte. Diese Maschine wurde dann gewissermaßen die Mutter aller Veröffentlichungen von Karasin, bis zum Ende.
Karasin achtete genau darauf, als Medium unabhängig, »draußen« zu bleiben. Wir schrieben, übersetzten, bereiteten Ausgaben vor, veröffentlichten sie aus der Werkstätte zuhause und sorgten auch selbst für den Vertrieb.
Parallel zur Veröffentlichung der kopierten Schriften arbeiteten wir an einer Website. Tatsächlich erwiesen sich diese einfach strukturierten Seiten im Netz als sehr wirksam. Sie sorgten dafür, dass die Texte an sehr viele Orte gelangten und eine lange Lebenszeit hatten. Das Publizieren im Internet war dabei auch sehr viel einfacher, denn die Veröffentlichung der fotokopierten Texte bereitete uns ernsthafte Vertriebsprobleme. Wir fanden Platz in den Zeitschriftenregalen von Rock- und Punk-orientierten Plattenläden, und trotzdem begannen mit der Zeit täglich mehr Buchhandlungen, Quittungen zu verlangen, oder sie hörten gleich ganz auf, unregistrierte Kopierzeitschriften zu verkaufen. Wir hatten erhebliche Schwierigkeiten, unser Material in anderen Städten zu verkaufen. Eigentlich gelang es uns nur in Ankara und Bursa, kleinere Mengen abzusetzen. Über die Website bekamen wir viel mehr Reaktionen. Wir haben davon erfahren, dass ein paar Leute selbst Flugblätter mit den Sachen gedruckt haben, die sie bei uns herunterladen konnten. Das Fotokopierverfahren schränkte unseren Dialog mit Leuten außerhalb der anarchistischen und subkulturellen Kreise ein. Wir wollten unsere Ideen an eine größere Leserschaft bringen, zu ganz anderen Leuten mit ganz anderen Interessen. Da wir uns eine Wirkung auf alle Aspekte des Lebens und die Verstärkung von Heterodoxien zum Ziel gesetzt hatten, war es naheliegend, dass wir uns in verschiedenen Bereichen verbreiten wollten. Auf diese Weise traten wir in eine zweite Phase ein, in der unsere Ideen nicht mehr nur Anarchisten- und Punkgruppen erreichten, sondern viele Leute mit ganz unterschiedlichen Beschäftigungen und in ganz anderen Teilen der Türkei.
Zweite Phase: Zeit des »détournement« – Arbeit mit anderen Publikationen und Medien
In dieser Phase arbeiteten wir in erster Linie bei »Varlik«, der ältesten türkischen Literaturzeitschrift. Mit der Zeit kam es zu einer langsamen Annäherung an diese Zeitschrift. Beginnend mit einem Sonderteil über Hypertext fingen wir an, eine Serie von Dossiers zu verschiedenen theoretischen Themen vorzubereiten, die wir mit unserem postanarchistischen Programm in Verbindung sehen.
Zwischen 2000 und 2002 haben wir an verschiedenen Medienplattformen mitgearbeitet; manchmal versuchten wir, sie zu verändern, andere Male versuchten wir, leichte Kurskorrekturen vorzunehmen, manchmal versuchten wir, nur auf unsere Weise darin zu leben und zu arbeiten, ohne sie zu verändern. In diesem Zeitraum von zwei Jahren entwickelten wir durch die Artikel, die wir für die Literaturzeitschrift schrieben, einen radikal poststrukturalistischen, anarchistischen Ansatz, und während dieser Zeit arbeitete ich als Mitherausgeber der Zeitschrift und bereitete Sonderteile zu theoretisch beziehungsreichen Themen wie Hypertext, Postfeminismus, Potlatsch-Ökonomien, Metageografie, Alltagsleben, rhizomatisches Denken, Cyberfeminismus und anderem vor. Außer für »Varlik« schrieben wir noch für »Okuz«, eine andere beliebte türkische Zeitschrift, die ein breites Publikum fand – weil sie auch Comics enthielt. Dabei versuchten wir Formen zu entwickeln, mit denen wir für nichtprofessionelle LeserInnen über Alltagsleben und politische Themen schreiben konnten. Wir verwendeten die Dialogform, Fotos, Witze und vieles andere.
In dieser Zeit waren wir auch noch für »Acik Radyo« (einen Radiosender) und für »Studyo Imge« (ein Verlagshaus) tätig. Es gehörte zu den Vorzügen dieser Situation, dass wir ein weit größeres Publikum in einer Vielzahl verschiedener Formen erreichen und unsere Ideen dank der vielen inhaltlichen Überschneidungen, der Begegnungen mit Menschen, die sich auch für unser Thema interessierten, und der vielen neuen Beiträge aus den unterschiedlichsten Richtungen weiter entwickeln konnten. Doch hatte diese Phase auch ihre Nachteile. Dieser Lebensstil des »Überall-Arbeitens« machte es für viele Leute schwerer, unsere Position nachzuvollziehen, denn nicht alle verfolgen immer alle Medien mit gleicher Aufmerksamkeit. Die anderen, die auch Beiträge für die gleichen Medien schrieben, und die politischen und kulturellen Unterschiede in ihren jeweiligen Haltungen hatten die Wahrnehmung, die von unserem Projekt in einer breiteren Öffentlichkeit existierte, sehr beeinflusst. Unsere Nachbarn, die anderen von uns verwendeten Materialien, die es in diesen Medien, in diesen verschiedenen Körperschaften gab, hatten in gewissem Maße Einfluss darauf, wie wir uns äußerten. So wie wir Einfluss auf sie ausübten, übten sie diesen auch auf uns aus, und obwohl uns das viele positive neue Bereiche erschloss, hat es doch auch unsere Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt. Erneut brauchten wir ein neues Medium, in dem wir unseren eigenen Kontext begründen und gleichzeitig unser Verhältnis zu einer größeren Öffentlichkeit aufrechterhalten konnten.
Dritte Phase: Trennung zwischen Publikationstätigkeit und einer eigenen, legalen Zeitschrift: »Siyahî«
Seit 2003 haben wir über eine Möglichkeit nachgedacht, unserem Ansatz eine Alternative hinzuzufügen: eine eigenständige Publikation. Aber wir wollten diesmal keine fotokopierte Zeitschrift mehr machen, wir wollten eine wirklich gedruckte. Mit einer fotokopierten Zeitschrift mag man ein Gefühl der Unabhängigkeit haben, weil man sozusagen sauber bleibt, aber das bedeutet auch, dass man für die potenziellen LeserInnen alles viel komplizierter macht. Da geht es um die Fantasievorstellung, man befände sich außerhalb der ganzen Maschinerie. Eine Website ist stets die beste, weil am leichtesten zugängliche Möglichkeit. Und wenn man online ist, ist man überall gleichzeitig. Aber was man da schafft, kann man weder riechen noch berühren. Wenn man mit emotional besetzten Themen und Ideen zu tun hat, dann kann das zu einem Problem werden. Seit wir mit der Veröffentlichung unserer Zeitschrift begonnen haben, haben wir es immer als Privileg genossen, den mit Spannung erwarteten Geruch einer neuen Ausgabe einzuatmen.
Aber natürlich hatten wir zunächst nicht die erforderlichen Mittel, also begannen wir mit einer Website, http://www.postanarki.net . Dort veröffentlichten wir viele Artikel in türkischer Sprache und sammelten zugleich auch damit zusammenhängende englischsprachige Texte.
Schließlich haben wir es dann doch geschafft, eine unabhängige Zeitschrift herauszubringen. Wir arbeiteten unabhängig und begannen im November 2004 mit der Veröffentlichung von »Siyahî,« mit dem erklärten Ziel, eine »sprechende« Zeitschrift zu machen. Inzwischen haben wir neun Ausgaben publiziert. Obwohl »Siyahî« sich in der weltweiten anarchistischen Szene verortet, ist sie auch als eine Zeitschrift für Kritik und politische Kultur gedacht. Neben ihrem Schwerpunkt auf Analysen von Geschichte, Theorie und Jetztstand der Anarchiebewegung sowie aktuellen Entwicklungen in der politischen Theorie und in der Philosophie widmet sich die Zeitschrift auch der augenblicklichen gesellschaftsbezogenen und kulturellen Agenda radikaler Politik in der Türkei. Wir interessieren uns für Anarchismus als eine unorthodoxe Auffassung von Kultur im Allgemeinen – einfach gesagt, indem wir nichtrepräsentative, antihierarchische, nicht pyramidenförmig organisierte, horizontale Elemente des Lebens in den Vordergrund stellen. Dazu unterziehen wir den Anarchismus gemeinsam mit dem Poststrukturalismus einer erneuten Überprüfung. (Außerdem ist »Siyahî« zurzeit die einzige postanarchistische Zeitschrift in der Welt.) Wir widmen jede Ausgabe einem bestimmten Thema. »Libertäre Erziehung« war eines der letzten Heftthemen, eine andere Ausgabe setzte sich mit den Beziehungen zwischen Anarchismus und Nietzsche auseinander. Wir haben ansonsten Sonderausgaben zu Queer Theory, experimenteller Dichtung, linker Identität, dem Verhältnis von EU und Türkei und zur Politik der zeitgenössischen Kunst herausgegeben.
Die drei Phasen, wie ich sie hier geschildert habe, bieten geeigneten Diskussionsstoff für die Auseinandersetzung mit alternativen Medien und Publikationsformen. »Siyahî« kann für unsere Jetztzeit stehen, und wir planen, sie weiter zu veröffentlichen. Natürlich nur, solange wir »etwas zu sagen haben«.
Übersetzt von Clemens Krümmel
1 Halil Altindere & Süreyyya Evren (Hg.), User’s Manual, Contemporary Art in Turkey 1986–2006, art-ist publications, 2007. Es sollte hier auch Erwähnung finden, dass ich von Anfang an für die Zeitschrift »art-ist« geschrieben habe.
2 Hier beziehe ich mich auf James Scotts Begriffe des »hidden transcript« und des »public transcript«. Vgl. James C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, Yale University Press, 1992. Scott verwendet den Begriff »public transcript«, um die offene bzw. öffentliche Interaktion zwischen Herrschenden und Beherrschten zu beschreiben, den Begriff »hidden transcript« für diejenige Machtkritik, die jenseits des Bühnengeschehens weitergeht und von den Machthabern nicht wahrgenommen wird.
3 Vgl. meinen Beitrag »Parrhesia, Armut, Kunst«, in: springerin, 3/2006.