Heft 4/2007 - Netzteil
In vielen Ländern Südostasiens lässt sich die Situation der Onlinemedien als Metapher für die politische Situation des jeweiligen Landes betrachten. Während sich die Diktatoren aufs Altenteil zurückziehen, verteidigen die traditionellen Wächter der Regimes mit aller Macht ihren Status, und zwar mit oder gegen eine neu entstehende Schicht von Angehörigen der Medienbranche und verwandter Industrien. Um den Status Quo zu rechtfertigen, gewährt man der Bevölkerung ein gewisses Maß an »Mitbestimmung«, verbunden mit einem Hauch von Freiheit und Wohlstand, und konsolidiert so in der weltweit herrschenden Atmosphäre der Angst vor dem Terrorismus in den Köpfen der Menschen ein pseudodemokratisches Bewusstsein. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der täglichen Nutzung von Onlinemedien in der Region wider. In Städten wie Kuala Lumpur, Bangkok oder Jakarta suchen die meisten InternetnutzerInnen eins der unzähligen über die ganze Stadt verstreuten Internetcafés auf, wo sie neben lärmenden Kindern, die sich mit Videospielen die Zeit vertreiben, für kleines Geld im Internet surfen, recherchieren und chatten. Google gibt ihnen das Gefühl, informiert zu sein; in Chat-Foren können sie mit der eigenen oder einer völlig neuen Identität mit aller Welt plaudern; seit neuestem können sie ihre Gedanken täglich im eigenen Blog veröffentlichen; auf MyPhotos und YouTube1 können sie Fotos und Videos ins Netz stellen und sich über MySpace ganz persönlich mit der ganzen Welt verbunden fühlen. Diesen für asiatische StädterInnen mittlerweile normal gewordenen Alltag findet man selbst in Rangun, das heißt, unter dem repressivsten dieser Systeme. Und sogar die etwas aufgeklärteren BürgerInnen haben das Gefühl, im Cyberspace unabhängiger und individueller unterwegs zu sein, stellt dieser doch einen Gegensatz zu dem dar, was in den Massenmedien passiert, wo das Gros der Bevölkerung mit Sendungen wie »Malaysian Idol«, »Indonesian Idol« und »Academy Fantasia« (alles Superstar-Castingshows) einer anderen Form der Pseudo-Mitbestimmung frönt und die Sender den großen Playern hohe Gewinne bescheren.
In diesem Umfeld versucht eine dritte Kraft aus NGOs und BürgerrechtlerInnen langsam, aber sicher, Habermas’ Ideen zu Öffentlichkeit und öffentlichem Raum im Internet zu verbreiten, und stößt damit bei asiatischen AktivistInnen auf große Resonanz. In diesem Artikel sollen vier Beispielen für Onlinemedien in dieser Region vorgestellt werden. Untersucht werden dabei ihre Strategien zur Gewinnung öffentlicher Unterstützung, die Probleme, die sich ihnen dabei stellen, und die Aussichten für die Zukunft.
»Midnight University« ist eine Online-Bildungswebsite mit Sitz im thailändischen Chiang Mai. Sie entstand in den späten 1990er Jahren als Folge einer Reihe von öffentlichen Interventionen verschiedener AkademikerInnen aus den Bereichen Recht, Wissenschaft, Kunst, Politik, Geschichte und Medizin der Chiang-Mai-Universität. Diese hatten zunächst in verschiedenen Kontexten und Umfeldern öffentliche Diskussionen zum Thema Bildung angeregt, erhielten dann über drei Jahre einen festen Sendeplatz im Fernsehen und begannen nebenbei, die Möglichkeiten des Cyberspace zu erkunden. Die Midnight University (http://www.midnightuniv.org) ging im Jahre 2000 mit dem Motto »Tod einer Tagesuniversität« online (die Tagesuniversität steht hier als Symbol und Dienerin der Dunkelheit, der Businesswelt und des Hauptstadt-Zentralismus). Die Midnight University veröffentlichte Artikel ihrer Mitglieder und ließ Texte aus verschiedenen Bereichen übersetzen, die zur Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen sollten. Dazu kommen Sektionen für eine Enzyklopädie und ein Web-Board. Mit 200.000 registrierten IP-Adressen, 20.000 Text-Downloads und fortlaufenden Aktionen ihrer Mitglieder – wie zum Beispiel eine Performance, bei der fünf Mitglieder aus Protest gegen den Staatsstreich im letzten Jahr eine vorgebliche neue Charta öffentlich zerrissen –, die immer wieder zu öffentlichen Diskussionen führen, ist midnightuniv.org mittlerweile selbst zu einem politischen Projekt geworden, wie man es in einem Land mit einer langen monarchischen Tradition bisher nicht kannte. Midnight University wurde bereits zweimal gesperrt, und jedes Mal wurde die Telekommunikationsbehörde aufgrund der starken Unterstützung durch die Öffentlichkeit und akademische Kreise im In- und Ausland dazu gezwungen, sie schon bald wieder zugänglich zu machen.
Für Vietnam verdeutlicht das Onlineforum »talawas« (http://www.talawas.org) die komplexen Eigenheiten Südostasiens vielleicht besser als alle anderen Onlinemedien der Region. Das 2001 in Deutschland ins Leben gerufene Projekt mit Sitz in Berlin vermittelt uns ein hoffnungsvolleres Bild der Zukunft Südostasiens.
Das Web-Forum ist das geistige Produkt vietnamesischer MigrantInnen in Deutschland und Österreich, auch »AuslandsvietnamesInnen« genannt. Die Zahl der in der gesamten Welt verstreuten VietnamesInnen beläuft sich auf etwa drei Millionen. Dieses demografische Verhältnis spiegelt sich auch in der Redaktion von talawas wider: Die zehn Mitglieder sitzen in Berlin, Baden-Württemberg, Paris, Kalifornien, Hanoi und Ho Chi Minh Stadt – alle in unterschiedlichen Zeitzonen. Theoretisch würde dies für alle RedakteurInnen 24-Stunden-Schichten bedeuten, um eine echte Zusammenarbeit zu ermöglichen. Und eigenen Angaben zufolge schlafen sie in der Tat sehr wenig.
Stattdessen werfen die schlaflosen RedakteurInnen Diskussionsthemen auf, mit denen sie sich sowohl an AuslandsvietnamesInnen als auch an die Bevölkerung zu Hause richten, und zwar im Norden wie im Süden. In unterschiedlichen Sektionen – talaTi (Ideen und Ideologien), talArt (Kunst), talaLit (Literatur), talaFe (Feminismus), talaSo (Soziales) und talaPo (Politik) – werden Themen diskutiert wie »Die Darstellung des amerikanischen Kriegs in vietnamesischen Songs nach 1975«, »Kultur und Kunst im Süden Vietnams unter Amerika und seinen Stellvertreterregimes«, »Sozialistische Kunst und Literatur« (talArt), oder »Einige Gedanken der 1990er – Spirituelles Leben und religiöses Bewusstsein« (talaTi). Durch die daraus resultierenden hitzigen Debatten ist es talawas möglich, VietnamesInnen über alle Grenzen hinweg in Diskussionen zusammenzubringen. Laut Hoai Phi, einem Redakteur in Kalifornien, war die kürzliche Versetzung zweier liberaler stellvertretender Redakteure einer einflussreichen Tageszeitung eines der Themen, die zuletzt für reichlich Diskussionsstoff sorgten. Literatur ist einer der Schwerpunkte von talawas (der Begriff ist übrigens eine Kombination aus Vietnamesisch und Deutsch und bedeutet so viel wie »Was ich bin«). Und so provozierte beispielsweise der chinesische Roman »Wolf Totem«, der auch ins Vietnamesische übersetzt worden ist, eine große Anzahl von Reaktionen und Kommentaren, beschäftigt er sich doch mit dem sensiblen Thema der Beziehungen zwischen den Volksrepubliken Vietnam und China. Der Versuch von talawas, die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, spiegelt sich in talaBo wieder (Bo steht für das englische Wort »Bookcase« – Bücherschrank). In dieser Sektion werden südvietnamesische Bücher diskutiert, die seit 1975 verboten sind.
2004 wurde talawas »offiziell« durch eine Firewall abgeschottet. Seitdem ist die Anzahl derer, die im »Eigenstudium« das nötige technische Know-how erworben haben, um Firewalls auszutricksen, drastisch gestiegen, womit technisches Empowerment zu einem unerwarteten Nebenprodukt eines berechtigterweise »nationalen« Onlineforums geworden ist.
Der Erfolg von talawas zeigt, dass Onlinemagazine im post-diktatorischen Südostasien unbedingt auch Web-Foren oder Boards zur Verfügung stellen müssen, vorausgesetzt, diese werden als autonome Räume aufrechterhalten. Die einfachsten Threads ermutigen andere, Kommentare abzugeben, zu reagieren und zu diskutieren, und diese Gewohnheit beeinflusst nach und nach auch viele BürgerInnen in ihrem gesellschaftlichen Verhalten. Themen, die früher nur innerhalb der eigenen vier Wände angesprochen wurden, gelangen nun an die Öffentlichkeit. Zunächst nur im virtuellen Raum, später auch im realen. Die Öffentlichkeit selbst hat »öffentliche Debatten« entfacht, und zwar in öffentlichen Bereichen, die der von Habermas propagierten Öffentlichkeit immer ähnlicher werden. Wie die demokratische Tradition der gesamten Region ist auch dieser Bereich noch sehr jung. Man befindet sich in einer Versuchsphase, in der natürlich auch banale Fallen lauern wie persönliche Angriffe und die Verdrängung Andersdenkender, was oft zu einer Art »Herdenverhalten« führt.
Derartigen Problemen versucht die Redaktion des malaiischen Onlinemagazins kakiseni.com (http://www.kakiseni.com) schon eine ganze Weile beizukommen. Das Magazin wurde 2001 als eine Art Kunstverzeichnis gegründet und ist seitdem zu einer der wichtigsten Informationsplattformen für Veranstaltungen und Kritiken im Kunst- und Kulturbereich herangewachsen. Etwa 800.000 Seiten werden pro Monat abgerufen. In den letzten Jahren bereiteten die Threads, in denen die BenutzerInnen ihre Kommentare abgeben können, der Redaktion jedoch zunehmendes Kopfzerbrechen. RedakteurInnen und auch BenutzerInnen haben bemerkt, dass bestimmte Inhalte, wie beispielsweise Ausstellungs- oder Theaterbesprechungen, oft böse und unangemessen heftige Angriffe auf Einzelpersonen nach sich ziehen. Muss man daraus schließen, dass kakiseni.com zu einer Familie geworden ist, die es ihren Mitgliedern gestattet, sich gegenseitig niederzumachen, oder hat das Onlinemagazin lediglich den im globalen Netz herrschenden Umgangston übernommen? Oder haben wir es vielleicht schlichtweg mit einer Fortführung der für die prämodernen Medien charakteristischen Gerüchteküchen und Flüstertaktiken zu tun? Was das ganze noch problematischer macht, ist die Tatsache, dass Threads zu kulturspezifischen Themen, die durchaus breitere Diskussionen in Gang bringen könnten, wie beispielsweise »merdeka« (Unabhängigkeit) und Kunst, die staatliche Definition der malaiischen Kultur, Zensur etc., ziemlich schnell zu versiegen pflegen.
Ein im September 2004 von Kathy Rowland, einer der GründerInnen, veröffentlichter Artikel beschäftigt sich mit einem wesentlichen Aspekt der Frage »was ist malaiische Kultur?«. Diese wurde bis dahin traditionell nicht vom malaiischen Volk selbst, sondern von offizieller Seite definiert – von staatlicher wie religiöser. In ihrem Artikel bezieht sie sich auf die Nationale Kulturpolitik (NCP), die 1971 von der Regierung verabschiedet wurde, und analysiert die Hintergründe, die Geschichte und die Logik dieser Politik sowie ihre Implikationen im derzeitigen politischen Klima. Sie kommt zu folgendem Schluss: »Heute, 33 Jahre nach der NCP und 16 Jahre vor 2020, befinden wir uns in einer Art kulturellem Niemandsland, das auf der einen Seite an die Freizügigkeit der ›Vision 2020‹ bzw. die ›Kulturindustrie‹ angrenzt und auf der anderen an die zunehmend dogmatisch werdende Stimme des islamischen Fundamentalismus.«2
Die Reaktionen auf diesen Artikel glichen düsteren Reflexionen über die Vergangenheit, meist von VertreterInnen der älteren Generation, die die »hartnäckige« Entschlossenheit der Dame, den Kampf weiterzuführen, lobten. Und obgleich der Artikel nach der Abdankung des früheren Premierministers Mahathir gepostet wurde, machte sich die Freude über die plötzlich gewonnene Freiheit, nun die heikle Vergangenheit ausgraben und darauf einschlagen zu können, in keinem der Threads bemerkbar.
In Südostasien, wo die Staatsmacht die Medien systematisch nach Schwächen oder inneren Spaltungen scannt, um diese als Vorwand zu nutzen, unabhängige Geister zum Schweigen zu bringen, könnte diese Form interner Wankelmütigkeit das Aus für ein Medium bedeuten, das eines der wenigen Sprachrohre für die Öffentlichkeit darstellt und Andersdenkenden ein Fenster zur Welt bietet. Aus diesem Grund hat man in politischen Chat-Rooms, Web-Foren und Boards in Thailand verschiedene Maßnahmen ergriffen, um in den eigenen Reihen keine Schwächen ans Licht kommen zu lassen. Das thailändische Onlinemagazin »Prachatai« (http://www.prachatai.com), welches bei Liberalen wie Intellektuellen als unabhängig gilt, kontrolliert beispielsweise Tag und Nacht alle ankommenden Beiträge, da andere Foren aufgrund von Beiträgen, in denen es um die Monarchie ging, geschlossen wurden. Das Gesetz zur »lese majeste« (Majestätsbeleidigung), das Thailand bekanntermaßen gern und häufig zur Anwendung bringt, ist eine äußerst effektive Waffe, um Staatsfeinde und Andersdenkende mundtot zu machen. Der Halbgottstatus des derzeitigen Königs liefert immer noch den effektivsten Vorwand für eine Zensur, die von weiten Teilen der Öffentlichkeit unterstützt wird. Und im islamischen Teil der Region setzen FundamentalistInnen auf eine ähnliche Göttlichkeitswaffe. MedienaktivistInnen haben unter diesen Bedingungen keine andere Wahl, als sich selbst zu zensieren, um die angehende Arena des öffentlichen Dialogs zu retten. Eine weitere Strategie, die in dieser immer noch restriktiven Umgebung häufig verfolgt wird, besteht darin, jedem Artikel mit lokalem Inhalt eine globale Gewichtung und Resonanz zukommen zu lassen, um so die inhaltliche Verbindung mit der Außenwelt zu stärken. Kakiseni experimentiert mit regionalen Kooperationen, das heißt, das Onlinemagazin tauscht eigene Artikel mit ähnlichen Publikationen aus den Philippinen und Indonesien aus, während Prachatai vor kurzem mit Prachatai English (http://www.prachatai.com/english/) online gegangen ist, der ersten unabhängigen Website Thailands in englischer Sprache, die nicht nur die im Ausland lebenden ThailänderInnen bedient.
Auch wenn, wie Kathy Rowland beteuert, die Länder Südostasiens oder zumindest einige von ihnen, in einem kulturellen Niemandsland gefangen sind, umgeben von staatlicher Kontrolle, göttlicher Präsenz und dem Gerede der Leute, so gibt es dennoch Versuche, sich ein autonomes Niemandsland der Möglichkeiten zu schaffen und dieses mit öffentlichen Aktionen und Diskursen zu füllen.
Übersetzt von Gaby Gehlen
1 Im April dieses Jahres sperrte die thailändische Telekommunikationsbehörde den Zugang zu YouTube, weil jemand ein Video ins Netz gestellt hatte, das sich über König Bhumibol lustig machte. Die Behörden und YouTube arbeiten immer noch an einer Lösung des Problems. Als dieser Artikel geschrieben wurde, war YouTube in Thailand noch verboten.
2 Kathy Rowland, Bukan Budaya Kita, erschienen auf kakiseni.com am 8. September 2004 (http://www.kakiseni.com/articles/features/NTU2.html#top ); »Vision 2020« bezeichnet die 1991 vom damaligen Premierminister Mahathir Bin Mohamad lancierte Zukunftsvision für Malaysia, vgl. http://www.wawasan2020.com/vision/