Heft 4/2007 - Artscribe


»Contour 2007: Decoder«

3. Biennale für Videokunst

18. August 2007 bis 21. Oktober 2007
/ Mechelen

Text: Nat Muller


Mechelen. Die belgische Stadt Mechelen mit ihren etwa 80.000 EinwohnerInnen war in diesem Jahr bereits zum dritten Mal Austragungsort der Contour Video Art Biennale, deren Name man nicht treffender hätte wählen können: Auf ihrem Rundgang durch die Stadt führte die Biennale ihre BesucherInnen entweder an Orte, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben (eine Kapelle, ein ehemaliges Krankenhaus, eine Fleischhauerei, ein Supermarkt), denen aber in der einen oder anderen Form immer noch etwas von der Atmosphäre ihrer alten Funktion anhaftet, oder an solche, die gerade aufgrund ihrer Funktion (ein Café, eine Tiefgarage, eine Bank) besonders bedeutungsvoll sind. Und so zeichnete die Biennale die Konturen der Stadt Mechelen nach, indem sie ihre Architektur und Gebäude gekonnt mit einer eindrucksvollen Auswahl an Videokunst versetzte.
Der britische Gastkurator Nav Haq gab der diesjährigen Ausstellung den Titel »Decoder«, und im Gegensatz zu manch anderem kuratorischen Versuch, städtische Strukturen mit der Widerspenstigkeit des Objet d’art zu verbinden, ist es Haq gelungen, die Kodes beider Komponenten zu knacken, ohne dabei all ihre Geheimnisse preiszugeben – die Entschlüsselung blieb letztendlich den BesucherInnen überlassen. Selten habe ich eine Ausstellung gesehen, bei der die vielschichtige Semantik eines Ortes wie auch die visuelle Repräsentation so gelungen umgesetzt wurden. Allein dafür verdient die Ausstellung große Anerkennung. Besonders gut platziert waren die Arbeiten des taiwanesischen Künstlers Tsui Kuang-Yu, die sich mit den potenziellen Absurditäten des städtischen Alltags beschäftigen. Seine »Action Videos« waren strategisch um den Grote Markt herum verteilt. So war in einem der Cafés am Marktplatz die wunderbare Videoserie »The Shortcut to the Systematic Life: City Spirits« (2005) zu sehen. Sie zeigt den Künstler als sportlichen, urbanen Entdeckungsreisenden, der aus einem Park und seinen Tauben eine Kegelbahn samt Kegeln werden lässt, aus geparkten Motorrollern und anderen Verkehrshindernissen einen Parcours für einen Hindernislauf, aus dem Besuch einer Müllkippe eine Bergpartie und aus Parks und anderen freien Grasflächen Golfplätze. Ebenso reizvoll ist Kuang-Yus »The Shortcut to the Systematic Life: Superficial Life« (2002). Darin wechselt der Künstler in rasender Geschwindigkeit sein Outfit, um sich verschiedenen Orten der Stadt anzupassen, und unterzieht dabei nicht nur sich selbst, sondern auch die betreffenden Orte einer Metamorphose. In Bezug auf Funktionalität und Identität stellt diese übertriebene Wandlungsfähigkeit – oder Anpassungsfähigkeit, wenn man so will – fast schon eine Metapher für die gesamte Ausstellung dar, in der die Erweiterung der Rollen der jeweiligen Orte sehr vielfältige und unterschiedliche Lesarten hervorbrachte.
So auch »Venusia« (2007), der Beitrag des belgischen KünstlerInnenduos Aline Bouvy und John Gillis, der in einer ehemaligen Kapelle aus dem 19. Jahrhundert zu sehen war: eine üppige Collage aus Körperteilen glamouröser Werbemodels, schwebenden Tieren und kaleidoskopischen Mustern. Durch das bloße repetitive Vorbeirauschen von Augen, Armen, Köpfen, Lippen wird auf karnevaleske Art und Weise das Fleischliche an sich zelebriert und dabei zugleich auf die zur Ware gewordene Serienmäßigkeit bzw. Reproduzierbarkeit des Körpers verwiesen, welche diese künstliche und mühelos erweiterbare Traumwelt im Hochglanzkapitalismus überzieht. Dass diese Traumwelt die Grenze zur Sphäre des direkten Konsums dennoch nie wirklich überschreitet, wird durch das religiöse Ambiente der Kapelle und die einnehmende Orgelmusik des Soundtracks verhindert, die der Arbeit etwas Sakrosanktes verleihen.
Cédric Noëls kontrafaktischer Geschichtsbeitrag »Ein Reich« (2007) ist eine kontrollierte, fast schon stoische 6-Kanal-Installation, die im Gerichtshof von Mechelen präsentiert wurde. Auf sechs Monitoren erzählen sechs ProtagonistInnen auf Russisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Hebräisch bzw. Niederländisch von einer Begebenheit und vermitteln dadurch eine historische (und gegenwärtige) Sicht der Dinge, wie sie sein könnten, hätte der zweite Weltkrieg einen anderen Ausgang genommen. Da die Erzählung sich sehr langsam entwickelt, sind die BesucherInnen gezwungen, sehr geduldig zuzuhören, um vermeintliche Tatsachen von vermeintlicher Fiktion unterscheiden zu können. Fast scheint es, als stünde in diesem Gerichtshof der Wahrheitsgehalt von Geschichte und Erinnerung ganz allgemein auf dem Prüfstand. In einem im Ausstellungskatalog veröffentlichten Interview mit dem Kurator sagt der Künstler: »Fiktion interessiert mich nur, wenn sie verunsichert, wenn sie Gewissheiten hinterfragt und das Individuum zum Wanken bringt.« Und genau das schafft »Ein Reich«: Das Betrachten dieser Arbeit hinterlässt noch lange ein Fragezeichen.
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft und die Artikulation des Selbst treffen auch in Sarah Vanagts Installation auf fünf Monitoren, »Ash Tree« (2007), aufeinander. Wir sehen ein kleines Mädchen beim Spielen zwischen Grabsteinen, die so um einen Baum herum gruppiert sind, dass sie die Buchstaben des Namens Mary Wollstonecraft ergeben sollen, einer britischen Feministin aus dem 18. Jahrhundert. Während der verzweifelten Leseversuche des Mädchens entsteht durch die unheimliche Friedhofsatmosphäre augenblicklich eine intertextuelle Ebene, die das literarische Werk der Tochter Mary Wollstonecrafts, Mary Shelleys »Frankenstein«, heraufbeschwört. Der zyklische Verlauf von Geschichte, das literarische Schaffen von Frauen und die Faszination des Entdeckens scheinen diese Arbeit als Leitmotiv zu durchziehen.
Während Vanagt sich anhand der Vergrößerung eines Schnipsels aus einem visuellen Bildungsroman auf eine grammatikalische Entdeckungsreise begibt, konzentriert sich Gabriel Lester auf die Frage, wie das Filmische (insbesondere die Tonspur) als Struktur, als Syntax und als Erfahrungskonditionierung funktioniert. Mit Filmaufnahmen aus Brüssel, Oostende, Mechelen und Antwerpen zeigt Lester eine schlafende urbane Architektur im Stil des Film noir, ein Schattenspiel aus Licht und Ton, das uns in ein noch zu schaffendes Szenario einhüllt.
Nichtsdestotrotz wies die Ausstellung auch Schwächen auf: Die Arbeiten von Omer Fast, Hassan Khan, Cao Guimarães sowie Rosalind Nashashibis »Bachelor Machines Part2« kommunizierten weder mit ihren Standorten noch als eigenständige Kunstwerke. Doch wie die schwedische Künstlerin Saskia Holmkvist in ihrem brillanten Video »Interview with Saskia Holmkvist« (2005) verdeutlicht, schaffen wir uns unsere Realitäten durch mediale Manipulation, durch eine Art der Repräsentation, die so lange wiederholt und geprobt wird, bis sie sich echt und authentisch anfühlt. Die 3. Biennale für Videokunst in Mechelen musste weder ihren Quellcode offenlegen noch etwas wiederholen, was sie nicht ist. Denn »Contour 2007: Decoder« war eine wirklich hervorragende Ausstellung.

http://www.contour2007.be

 

Übersetzt von Gaby Gehlen