Heft 1/2008 - Remapping Critique


Die Position von gestern in Frage stellen

Georg Schöllhammer im Gespräch mit dem Kunsthistoriker und -kritiker Helmut Draxler

Georg Schöllhammer


Georg Schöllhammer: Der Anlass dieses Gesprächs sind drei aktuell von dir erschienene Publikationen.1 Ich finde, man kann sie parallel lesen, weil sie aus einer Gemengelage entstanden sind, die einen bestimmten historischen Moment sehr gut beschreiben. Die eine, »Gefährliche Substanzen«, ist eine große Studie über Kunstkritik bzw. der Versuch, eine anti-idealistische Kunstkritik vor ihren eigenen ParteigängerInnen zu retten und das Motiv der kritischen Kunst in einen gegenwärtigen Diskurs einzuschreiben, der sich der in diesem Diskurs verborgenen Dialektik bewusst ist. Das Buch heißt, glaube ich, auch deswegen »Gefährliche Substanzen«, weil es um das Vermischen der großen Motive eines universalistischen Paradigmas und dessen Auflösung in den Avantgarden der 1960er und 1970er Jahre bzw. dessen Rekontextualisierung seit den 1980er Jahren geht.
Das zweite Buch ist der Arbeit von Fareed Armaly gewidmet, der mit seinem Auftreten in der Kölner Szene Ende der 1980er Jahre vieles zum Wanken gebracht und mit seinen Diskurshintergründen für andere Konstellationen auf dem Spielfeld gesorgt hat. Das Buch unternimmt unter anderem den Versuch, die Motive einer substanziell lokalen Praxis und einer substanziell kontextuellen Praxis in ein Paradigma kritischer Kunst einzuschreiben, das sich in den 1990er Jahren ganz anderen Motiven zugewandt hat. Es wird sehr schön beschrieben, wie sich die neuen Essentialisierungen, die über die Antiglobalisierungsbewegung oder die Diskurse der italienischen Operaisten Eingang in die Kunstwelt gefunden haben, gegen die Eigentlichkeiten spreizen, mit denen kritische Kunst in den 1980er Jahren begonnen hatte, auch formal, über bestimmte Motive nachzudenken.
Deswegen ist es wohl auch kein Zufall, dass daraus die Ausstellung »Shandyismus« entstanden ist, die sich um ein ähnliches Motiv gruppiert – einerseits eine Gruppenausstellung, andererseits auch eine thematische Ausstellung, die nicht verleugnet, eine Gruppenausstellung zu sein, für die auch sehr wichtig ist, dass sie von einer Motivik vielschichtiger Rekontextualisierungen des Paradigmas der Form handelt.
Du meintest einmal, dass du als Kunsthistoriker in einem Umfeld groß geworden bist, in dem das Aufbrechen eines ganz bestimmten Paradigmas sehr wichtig war, und dass für dich immer wieder neue Formen von Diskursen bedeutsam wurden, sich aber nie die Möglichkeit geboten hat, die verschiedenen »Haufen« untereinander in eine Beziehung zu bringen. Was waren das für »Haufen«? Und wie hängen die drei Bücher für dich nun zusammen?

Helmut Draxler: Dass diese drei Bücher jetzt gemeinsam vorliegen, hängt auch mit ein paar Zufällen zusammen. Der Armaly-Band hat sich beispielsweise aufgrund von Finanzierungsproblemen ein wenig verspätet. Im »Substanz«-Buch hingegen ist ein Aufsatz wiederabgedruckt, der aus dem Jahr 1987 stammt. Ich hatte ihn damals in Wien vor 400 KunsthistorikerInnen vorgetragen, und die reagierten alle mit Schweigen. Deshalb dachte ich, ich muss das Ganze noch einmal schreiben, auch um mich selbst noch einmal zu versichern, worum es mir damals eigentlich gegangen war. Ich hatte das Gefühl, dass da etwas liegen geblieben war, und das ist sicher einer der von dir genannten »Haufen«.
In der Zwischenzeit habe ich viele andere Dinge als nur Kunstgeschichte gemacht – Ausstellungen kuratiert, mich an politischen Projekten beteiligt oder mich intensiv mit psychoanalytischen Fragen beschäftigt. Es ging ja immer auch um eine Art des Suchens – etwa die Position von gestern in Frage zu stellen und noch einmal weiter zu gehen, also letztlich stets möglichst radikal zu sein. Dieser Gestus produziert Energie, kann einen aber auch leicht ins Abseits führen. Plötzlich, Ende der 1990er Jahre, hatte ich dann das Gefühl, dass meine Geschichte aus lauter losen Enden besteht und dass ich diese wieder stärker zusammenführen muss. Dahinter steht auch ein theoretisches Problem, nämlich hinsichtlich der Form, in der man sich das Politische gewissermaßen subjektiv überhaupt aneignen kann. Ein Teil der Argumentation in »Gefährliche Substanzen« zielt darauf, dass es ein bestimmtes Element innerhalb der gängigen Auffassungen des Politischen gibt, das eine Aufhebung des eigenen Anspruchs auf »Politizität« beabsichtigt. Und zwar insofern, als Kunst und Politik als essenzielle Einheiten begriffen werden, die – durchaus wechselseitig – als Projektionshorizonte für ein Eigentliches dienen, das dem eigenen Bereich jeweils rigoros abgesprochen wird. Nun stellen Kunst und Politik zwar unterschiedliche soziale Felder dar, doch geht es in ihnen um ähnliche Dinge. Es geht in beiden um Macht, und es geht in beiden um symbolisches und reales Kapital, das jeweils auch ganz ähnlich verhandelt wird. Das heißt, zwischen Kunst und Politik gibt es vielfache Überlagerungen, und ich denke, dass der Zugang, den wir in den 1990er Jahren gesucht haben, nämlich das Ganze auf eine Entweder-Oder-Entscheidung hin zuzuspitzen, selbst ein problematischer war. Und zwar deswegen, weil er eine Trennung der Bereiche voraussetzt oder für möglich hält, die in der Form gar nicht existiert. Das eigentliche Interessante ist doch, wie sich die beiden Bereiche überlagern und wie dabei der Austausch zwischen Symbolischem und Realem stattfindet. Und aus dieser grundsätzlichen Konstellation heraus haben sich die drei Bücher eher parallel nebeneinander entwickelt, wobei sie sich doch immer wieder aufeinander bezogen.

Schöllhammer: Etwas, das die drei Publikationen verbindet, ist das Plädoyer für eine radikale Pause; für ein Rekontextualisieren der Begrifflichkeiten oder ästhetischen Motive in die eigene Logik hinein, um gewissermaßen die gegenseitige Instrumentalisierung der beiden Sphären in den Griff zu bekommen und nicht von einem reinen Hier und einem reinen Dort auszugehen. Damit hängt wahrscheinlich auch der Rückgriff auf das 18. Jahrhundert zusammen. Warum »Tristram Shandy«?

Draxler: Das Moment der Pause finde ich sehr wichtig, und es ist ja auch mit ganz vielen Diskursformen der letzten Jahre verknüpft – ich denke etwa an Bartlebys »I prefer not to«, also besser gar nichts zu tun als zur Warenakkumulation beizutragen, wie Alain Badiou das nennt. Aber so gut finde ich das auch wieder nicht – im emphatischen Sinn nichts zu tun. Auf der anderen Seite gibt es eine Logik, die auch innerhalb des kritischen und des politischen Diskurses am Werk ist, die im Prinzip nichts anderes ist als die Diskurse innerhalb der etablierten Kunstwelt oder innerhalb akademischer Welten, wo ganz bestimmte Produktionsideale eingehalten werden, zu reproduzieren. Man hat ja selber ständig daran Anteil. Diese Produktionslogiken sind mittlerweile extrem verschärft, und es wurde noch viel zu wenig darüber reflektiert, wie diese Diskursmaschinen oder Produktionsmaschinen – um das ein wenig deleuzianisch zu sagen – eigentlich funktionieren. Deswegen plädiert das »Substanz«-Buch am Ende auch für einen leichten Dilettantismus; nicht für einen wirklichen Dilettantismus, aber für einen Dilettantismus, der fragt, wie man mit solchen Produktionslogiken umgehen kann, die einen ständig zu noch mehr Produktion, einem noch besseren Funktionieren innerhalb vorhandener Vorgaben drängen. Die Frage stellt sich daher, wie man sich Räume schaffen kann, die auch diese Logiken zumindest ansatzweise in Frage stellen.
Ich denke, die entscheidende Argumentation, und das ist die Schnittstelle des »Substanz«-Buches mit dem »Shandyismus«-Thema, ist genau dieses Element. Der »Shandyismus« setzt dort an, wo sich die Frage stellt: Was ist das eigentlich, was hier passiert? Was mache ich eigentlich hier als Ausstellungsbesucher? Kann ich das Objekt, das hier gezeigt wird, überhaupt von seiner Präsentationsform unterscheiden? Welche Produktionsform liegt dem zugrunde? Welcher Sinn wird hier generiert? Das fand ich sehr interessant am »Tristram Shandy«, nach dem Motto: Machen wir es weiter so wie die Apotheker, die eine Mixtur in die andere schütten, um die nächste daraus zu ziehen. Ist das die Produktionsform? Oder gibt es eine Pause, in der die Unterbrechung produktiv gemacht wird und etwas Neues entstehen kann? Ein Raum, der vielleicht nicht unmittelbar durch institutionelle und diskursive Logiken besetzt ist und in dem eine kategorische Unsicherheit um sich greift.

Schöllhammer: So wie Onkel Toby, der das Gelenk der Tür nicht schmiert, damit sie weiterhin knarzt und er so über die Eigentlichkeit der Tür auf dem Laufenden bleibt. Ich fand die Ausstellung letztlich auch deshalb so spannend, weil sie die großen Versuche, also auch das Zitieren des »Tristram Shandy«, als leeres Referenz-Ding oder Vorläufer der Moderne selbst wieder in Frage stellt. Die Ausstellung ist klar an einen Produktionsraum gebunden, der viel mit der Secession zu tun hat – sie knüpft beispielsweise an die großen thematischen Ausstellungen, die dort stattfanden, an. An die Wittgenstein-Ausstellung etwa, die wie andere Ausstellungen in der Institutionsgeschichte aufgenommen wurde und sich selbst kommentieren kann. Oder die Ausstellungen von Michael Krebber und Christopher Williams, die als Motive in der Ausstellungsarchitektur vorkommen. Eine Methode, die sich hier abzeichnet, scheint jene zu sein, dass man sich von allen Abstraktionen wegzubewegen und darzustellen versucht, wie man dieses Feld für sich einrichten könnte, und wie ein mögliches Feld für einen solchen Diskurs überhaupt ausschauen soll. Diesbezüglich war »Shandyismus« für mich auch ein Modell, wie man von der Abstraktion zu einer ganz konkreten Praxis übergehen kann.

Draxler: Das ist ein interessanter Punkt, der mich schon länger beschäftigt. Wie kann man es vermeiden, sich der Illusion hinzugeben, dass man es mit einem tatsächlichen White Cube, also einem neutralen Raum, zu tun hat? Natürlich ist jeder White Cube ein historischer Raum, ein ganz spezifisch historischer Raum, der durch viele Dinge geprägt ist. Er ist nicht so »böse«, dass man ihn unbedingt abschaffen muss, sondern es geht darum, wie man mit ihm arbeiten kann, wie man ihn adressieren kann, als eine Bedingung, der man letztlich die eigenen Ressourcen verdankt. Die vielen Referenzen auf andere Ausstellungen schaffen eine solche Möglichkeit, den Raum historisch zu zeigen, die eigene Geschichte und Autorschaft in eine Auseinandersetzung mit anderen Geschichten und Autorschaften zu führen. Die Ausstellung wollte also eine Art mehrdimensionalen Bezugsrahmen herstellen, innerhalb dessen die einzelnen Elemente stets in mehrere Bezugssysteme gleichzeitig eingebunden sind, also an die institutionelle Situation, die Architektur, das Wanddesign, die Hängung etc., woraus sich ein kategorisch unsicherer Status der Objekte ergeben sollte.
Ein anderer wichtiger Punkt beim »Shandyismus« war für mich, der Fantasie, die man entwickelt, wenn man so ein Buch liest, einfach nachzugehen. Wobei normalerweise ja die unglaubliche Fülle an Sekundärliteratur, die es beispielsweise zu »Tristram Shandy« bereits gibt, lähmt. Ich habe ja nicht einmal ein Zehntel davon gelesen, und es wäre auch vollkommen unmöglich, jetzt plötzlich seriös in die »Tristram Shandy«-Forschung einzusteigen. Man würde sofort zum Spezialisten werden müssen. Genau darum geht es nicht. Vielmehr muss man diesen Spezialistenstatus vermeiden und sich das Ding aus der eigenen, eigentlich dilettantischen Position heraus aneignen. In den Expertendiskurs einzusteigen, in die Professionalisierung, habe ich in den meisten Fällen tatsächlich immer als ein Dead End erlebt. Etwa in der Auseinandersetzung in den 1990er Jahren um Urbanismus, der für uns ja sehr wichtig war, oder um Gentechnologie, wo die Leute gemeint haben: »Wir als Laien mischen uns da ein! Das ist ein wichtiger Punkt der Auseinandersetzung: Gerade weil wir uns nicht auskennen, ist es wichtig, die Stimme zu erheben und die Projekte zu machen.« Allerdings hat das dazu geführt, dass die Leute innerhalb kürzester Zeit selbst zu Experten wurden, sich total eingearbeitet haben in die Diskurse und dann nur noch zu dem einen Thema Projekte gemacht haben – wodurch etwas Entscheidendes verlorenging. Diesen wichtigen Punkt wollte ich ansprechen. Und zwar in dem Übermut, ein Thema wie »Tristram Shandy«, einen Klassiker der modernen Literatur mit so und so viel tausend Bibliografieseiten, herzunehmen und zu sagen: Okay, wir betrachten das jetzt einmal als Modell für die eigene Herangehensweise. Wie wähle ich aus? Was finde ich gut? Welche Argumente entwickle ich dazu? Welchen Beziehungsrahmen kann ich dazu aufbauen? Es geht doch darum, aus der Beliebigkeit der ungeheuren Informationsmengen herauszutreten und ein spezifisches Begehren zu entwickeln. Das konnte man schon immer gut von bestimmten KünstlerInnen lernen. Auf diese Art ist etwa auch Fareed Armaly in der »Shandyismus«-Ausstellung präsent, obwohl er gar nicht daran teilnahm, nämlich als jemand, der mich etwa mit seiner Begeisterung für Jack Goldstein und Robert Frank angesteckt hat.

Schöllhammer: Man kann sagen, dass aus dem Wissen um die Ambivalenzen und aus der Notwendigkeit, auf so einer kleinen Ausstellungsfläche eine These zu entwickeln, ein eigenes Format entstanden ist, das sich gegen die Konventionen richtet. Oder mit den Konventionen des Gegenkonventionellen gegen die Konventionen. Es gibt ja Konventionen des Gegenkonventionellen, und leider sind die Ausstellungshäuser heute voll davon. Dagegen scheint sowohl im Buch als auch in der Ausstellung immer wieder versucht worden zu sein, gleichsam mit dem Format »Monet als Postkarte« ein weiteres Mal nachzudenken und zu fragen, was denn eigentlich an Medialisierung alles schon vorhanden ist. Dies ist sowohl – der Untertitel lautet ja »Autorschaft als Genre« – eine ganz feine Kritik am Kuratorenwesen als auch ein Rückeroberungsversuch der Autorposition für den Kurator wie für den Künstler, gleichzeitig aber auch ein Hinweis auf die Mediiertheit von all dem. Dies scheint mir eine ganz große Leistung der Ausstellung gewesen zu sein, dass das nicht nur anhand einer These versucht, sondern auch dialektisch gegeneinander ausgebreitet wurde. Deutlich wird dies auch, wenn man sich das Layout vergegenwärtigt, von der Typo-Wahl bis hin zu ganz feinen Bruchunterschieden, dem Wechsel zwischen Farb- und Schwarzweißabbildungen und dem, was ein referenzielles Bild im Text ist, zwischen dem, was ein kuratorisches Argument hätte sein können, und dem, was die Ausstellungsrealität eigentlich war. Diesbezüglich würde mich interessieren, ob diese Art von Kuratieren – du hast das ja zehn Jahre nicht mehr gemacht – auch als Reflex auf das gegenwärtigen Kuratieren entstanden ist. Als Methode des Kuratierens als Autorschaft.

Draxler: Tatsächlich gibt es relativ wenige kritische Auseinandersetzungen mit dem Produktionsmodus des Kuratierens, die nicht gleichzeitig Ausdruck genau dieses Produktionsmodus sind. Auf der anderen Seite war es mir aber auch immer wichtig zu sagen, dass es nicht nur diese eine Identität als Kurator für mich geben kann. Als Medium, in dem ich meine Quellen aufarbeiten kann, funktioniert zum Beispiel das Unterrichten für mich viel besser als das Kuratieren. Das erarbeitete Wissen lässt sich besser in unterschiedliche Produktionsformen einspeisen. Damit lässt sich die Haltung vermeiden: Ich bin jetzt ein Kurator und fahre herum in der Welt und wähle die Besten, die Crème de la Crème, aus – was Yvonne Rainer schon in den 1980er Jahren als »separation of creme« bezeichnet hat. Das war für mich immer ein ganz wichtiger Begriff, der die institutionelle Logik verkörpert. Wenn ich ein Kurator bin und beanspruche, das Beste vom Besten zu zeigen, dann leiste ich zwar etwas, weil ich ja auch etwas auswähle und öffentlich mache, aber gleichzeitig verkörpere ich das auch und kann keine Differenz mehr herstellen zu der Logik dieses Funktionierens. Auch die Institutionskritik kann man sich nicht einfach auf die Fahnen heften wie ein Label. Wenn man sie ernst nimmt, ist man gefordert, die eigene Institutionalisierung mitzureflektieren: Wie funktioniere ich in solchen Strukturen? Selbst progressive Medien können das oft gar nicht leisten, und auch innerhalb unserer eigenen Diskussionszusammenhänge gibt es immer wieder massive Auseinandersetzungen, inwiefern die eigene Karriere, die eigene Position, aus der gesprochen wird, mitreflektiert werden muss oder kann.
Das wäre eben der Unterschied zu einem Gestus des Politischen, bei dem man das Problem immer bei den anderen verortet, sozusagen Empörungspolitiken produziert, die auch immer wieder ihren Sinn haben und wichtig sind. Aber sie stellen nur eine Seite der Politik dar. Die andere Seite lautet natürlich: Wie bewege ich mich in diesem Feld? Welche neuen Hierarchien stelle ich her? In welche Machtverhältnisse schreibe ich mich ein? Und wie kann ich mit diesen umgehen? Und da, denke ich, ist es für eine kuratorische Position sehr, sehr wichtig, zumindest ansatzweise zu versuchen, das ein wenig offener zu halten. Was wir mit der »Shandyismus«-Ausstellung auch versucht haben – beispielsweise indem einige Teilnehmende als eine Art von SubkuratorInnen agierten und eigene Klein- bzw. Mikroausstellungen innerhalb des gesamten Settings entwickelten. Es sollte ein Modell sein, das ein wenig wuchert, wo die Ränder ausfransen. Es ist letztlich nicht auf die totale Kontrolle angelegt, sondern eher darauf, dass es eine Struktur gibt, worin ein Austausch möglich ist und innerhalb dessen sich die Beteiligten auch einigermaßen wohl fühlen sollten.

Schöllhammer: Wenn man ein wenig über die Feldgrenzen hinausblickt, beschreibt dies auch das Schisma einer allgemeinen Produktionslogik, unter der wir alle leiden. Entscheidungen werden ja nicht nur im Kunstbetrieb genau in dieser Form getroffen. Es ist ein schönes Motiv sowohl im »Shandyismus« als auch in deiner theoretischen Position zu sagen, es gibt aus dieser Totalität und aus diesem Widerspruch überhaupt keinen Ausweg. Da können wir uns nicht einfach dagegenstellen und eine kritische Position zu ihr einnehmen. Die einzige Chance liegt darin, die inneren Widersprüche und institutionalisierten Zusammenhänge, in die wir gezwungen werden, auszuhalten. Könntest du dir vorstellen, so etwas zum Beispiel in einem Museum zu machen?

Draxler: Ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, dass es auf einer musealen Ebene um ganz andere Formen des Arbeitens geht. Ich interessiere mich eher dafür, diese Logik wieder stärker in andere Felder hineinzutragen, etwa in die Auseinandersetzung mit dem Feld des Politischen, mit der Psychoanalyse etc. Ich denke, dass in den letzten Jahren innerhalb der Psychoanalyse sehr viele interessante Modelle entwickelt wurden, die ein Denken in polaren Oppositionen auf eine interessante Art und Weise in Frage stellen. Deswegen würde ich meinen Ansatz eher dorthin zurücktragen wollen, oder eben in den Politikbereich, wo es mehr um die konkreten Formen des Politischen gehen müsste und nicht ausschließlich um den Inhalt, der artikuliert wird.
Man sieht dies beispielsweise an einem Denker wie Slavoj Zizek, etwa an seinen Arbeiten aus den späten 1980er Jahren wie »The Sublime Object of Ideology« – da geht es genau um dieses Aufknacken festgefahrener Diskurslogiken. Aber wenn er jetzt immer wieder diesen radikalen Bruch, den »großen Sprung« einfordert, dann kann ich ihm nur ganz schwer folgen. Dass er starke Thesen in den Raum wirft, steht in Relation zu dem Bedarf des Diskursfeldes Theorie. Darin zeigt sich auch eine bestimmte Form der Politik, und ich denke, es ist wichtig, sich damit wesentlich kritischer auseinanderzusetzen. Welche Formate werden da verhandelt? Diesbezüglich könnten Kunstinstitutionen ganz interessante Orte sein. Wichtig wäre aber – und das ist ein großes Problem –, nicht wieder ganz ausschließlich in diesem einen Feld zu landen, wodurch viele Möglichkeiten der Bezugnahmen erneut problematisch werden.
Die unterschiedlichen Diskursformationen miteinander in Zusammenhang zu bringen ist schwierig, weil der Ausgangspunkt, das Kunstfeld, wie jedes andere soziale Feld auch, seine eigenen Logiken hat. Das macht es sehr schwer, in andere Sphären hineinzukommen. Die Frage lautet: Wie könnte so ein Transfer aussehen? Wie kann man Dinge adressieren, damit sie auch anderswo ankommen, und wie kann man die Engpässe, die dabei entstehen, vermeiden? Dies ist für mich die Hauptherausforderung, dass die Diskurse nicht irgendwo hängenbleiben und daraus ein Modell der neuen Institutionalisierung entsteht. Die Ebene einer Kunsthalle wie der Secession auf eine Museumsebene zu tragen, ist meiner Meinung nach nicht sehr viel versprechend. Interessanter ist da schon zu fragen: Wie sieht das eigentlich in anderen Bereichen aus? Wie kann man einen produktiven Dilettantismus auch dort einzubringen versuchen? Und welche Chancen hat man, damit auch dort sichtbar zu werden? Das Problem ist natürlich, dass der Kunstbereich genau jene Ressourcen zur Verfügung stellt, mit denen man solche Dinge machen kann. Andere Bereiche tun das nicht. Die warten nicht darauf, dass man mit irgendeinem spinnerten Projekt daherkommt.

Schöllhammer: Ich verstehe deine Antwort dahingehend, dass man Paradigmen, die schon erobert waren, wieder aufgegeben hat, wie zum Beispiel das Psychoanalytische. Dieses scheint insgesamt zu einer sozial-technologischen Figur verkommen zu sein, obwohl es nach wie vor sehr hilfreich sein könnte. Warum ist dem so, dass diese Transfers von dort nach da so schwierig sind, und dass jetzt eine kantenscharfe, holzschnitthafte, materialistische Kritikfigur attraktiv geworden ist, wie sie in der Antiglobalisierungsbewegung am Werk ist? Wenn man die Geschichte der Linken betrachtet, so war diese zumeist weicher, und es war auch in der Kunst viel mehr möglich als heute.

Draxler: Das ist tatsächlich das entscheidende Motiv, um das es geht. Es hat mit unserem postmodernen, dekonstruktiv-diskursanalytischen Zugang aus den 1980er Jahren zu tun. Dieser war deshalb so faszinierend, weil er auf einer bestimmten Ebene theoretisch immer Recht gehabt hat, weil er die Essentialisierung von Kategorien vermeiden oder zumindest verflüssigen konnte und seine Gegner mit einem bestimmten Vokabular relativ einfach fertig machen konnte. Sobald man Derrida ein bisschen verarbeitet hat, ist das kein großes Problem. Aber die Frage bleibt natürlich, wo Derrida selber gelandet ist, was er sich ja selbst oft anhören musste: Was ist das für eine Form von Praxis, die Dekonstruktion? Wie kann man dekonstruktive Praxis selber wieder produktiv machen? Und läuft sie nicht – was Derrida oft vorgeworfen wurde – auf eine totale Entpolitisierung hinaus? Oder führt das radikal Spezifische des Intellektuellen nicht, wie bei Foucault, zu sehr obskuren Objekten der Begeisterung, etwa für die Iranische Revolution? Ist demgegenüber nicht ein universeller Intellektueller wie Sartre, der den ganzen politischen Irrsinn bis in die letzte maoistische Splittergruppe hinein mitmacht, irgendwie immer auf der richtigen Seite? Ich denke, dass diese Fragen keineswegs einfach zu beantworten sind, dass diese unterschiedlichen Positionen mehr reflektiert werden müssen, insbesondere was es heißt, im politischen Sinn eine dekonstruktive Position einzunehmen. Aber natürlich auch, was es heißt, eine solche Position zu vermeiden und essentialisierende Positionen einzunehmen im Sinne der Multitude, wie das Negri und Hardt machen, was einen großen Mobilisierungseffekt hat. Dies leistet politisch sehr viel, wenn gesagt wird, Multitude ist möglichst spontan organisiert, und alle, die irgendwie institutionell arbeiten wollen, sind eigentlich nur ein Hindernis dafür. Worin liegen letztlich die argumentativen und die politischen Implikationen auf der einen Seite und worin auf der anderen – das zu vergleichen, wäre tatsächlich sehr spannend. Demgegenüber finde ich es äußerst unbefriedigend, wenn aus rein taktischen Gründen ein Konzept von politischer Pädagogik in Anspruch genommen wird und Dinge eingefordert werden, die meiner Meinung nach unglaublich selbstläuferische Qualität haben und in ihren Konsequenzen gar nicht richtig abschätzbar sind. Deswegen denke ich, dass man danach fragen müsste, wie man die Auseinandersetzung führen könnte, damit die unterschiedlichen Vor- und Nachteile der jeweiligen Diskursfiguren klar ersichtlich bleiben, man aber trotzdem im Austausch bleibt.
Das war für mich auch das Hauptproblem in dem »Substanz«-Buch: Wie kann man eine Kritik an anti-idealistischer linker Theorie formulieren, wie kann man sie kritisieren und ihren Dead Ends nachgehen, ohne sofort in einer konservativen Position zu landen? Von konservativer Seite wird das ja immer wieder gemacht, von wegen die »Illusionen der Linken« und so weiter. Noch schwieriger war aber, dass an solcher Kritik ja durchaus etwas dran ist. Es gibt innerhalb des linken Selbstverständnisses tatsächlich Dinge, die einigermaßen bescheuert sind, sei es in der Art von Selbstsicherheit oder von Diskursnaivität oder auch im Übersehen des eigenen Anteils, den man in der Herstellung des »bösen« Anderen hat. Trotzdem muss man eine Form von differenzierter Kritik versuchen, und zwar auf der Ebene einer letztlich solidarischen Kritik – um hier eine essentialistische Megakategorie einzuführen. Aber es geht dabei um Elemente, die man zwar selbst wieder dekonstruieren kann und die dennoch Grenzwerte darstellen, an denen man sich auch fragen kann, was eine reine Dekonstruktion bringen soll. In dieser Hinsicht sind die Position der Aussage und der gesellschaftliche Ort, von dem aus ich spreche, entscheidend. Deshalb zielen die »Gefährlichen Substanzen« auch keineswegs auf die Abschaffung der anti-idealistischen Ästhetik. Es geht nicht darum, zu sagen, Peter Bürger hat einfach nicht Recht gehabt, sondern darum, zu fragen, was die Bedingungen waren, unter denen die Theorie der Avantgarde formuliert wurde und was sich daraus heute ableiten lässt. Wie könnte man sie heute formulieren – das ist gewissermaßen der Anspruch: Theorien dieser Art fortzusetzen und fortzuschreiben. Und sie in unterschiedlichen kulturellen und politischen Settings auch praktisch zu erproben.

Der Text basiert auf einem Gespräch, das anlässlich der Präsentation des Katalogbuchs zur Ausstellung »Shandyismus – Autorschaft als Genre« am 3. September 2007 in der Wiener Secession stattfand. Dank an die Gesellschaft der Freunde der Secession.

 

 

1 Vgl. Helmut Draxler, Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin 2007; Helmut Draxler, Die Gewalt des Zusammenhangs. Raum, Repräsentation und Referenz bei Fareed Armaly, Berlin 2007 (beide Bücher sind in der Reihe PolYPen bei b_books erschienen); sowie Helmut Draxler (Hg.), Shandyismus. Autorschaft als Genre, Katalogbuch der gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Secession und im Kunsthaus Dresden, Stuttgart 2007 (Verlag Merz & Solitude).