Heft 3/2008 - Netzteil


Editierende ZuschauerInnen

Wie die digitale Verfügbarkeit von Film und Video unsere Betrachtergewohnheiten verändert

Annett Busch


»Der fetischistische Betrachter, angetrieben von dem Wunsch, die Stopptaste zu drücken, festzuhalten und dies zu wiederholen […], kann plötzlich und unerwartet der Indexikalität begegnen. Die Zeit der Kamera, ihre einbalsamierte Zeit, kommt so an die Oberfläche und shiftet vom narrativen ›jetzt‹ zu einem ›damals‹. Die Zeit der Kamera führt ein ›imaginäres‹ Moment des Filmens vor Augen, den Off-Screen-Raum der Crew und des Apparatus, sodass sich im Bewusstsein die fiktionale Welt im Verhältnis zum vor-filmischen Ereignis verändert.«1 Folgt man den Überlegungen der feministischen Filmtheoretikerin Laura Mulvey, so beginnt der »possessive spectator«, der/die besitzergreifende BetrachterIn, durch sein/ihr Eingreifen ein völlig neues Verhältnis zum Apparatus aufzubauen: Er/Sie wird Teil davon und sitzt nicht länger außen vor. Durch die Entwicklung eines Medium wie der DVD und damit der Remote Control verliert die kinematografische Erfahrung ihre Flüchtigkeit, und die lineare Narration kann in Lieblingsmomente, Bewegungsstudien oder Gesten fragmentiert werden. Entscheidend dabei ist, dass die Kontrolle über die Abfolge und Geschwindigkeit der Bilder nicht mehr nur am Schneidetisch und von Profis ausgeübt wird, sondern von jedem und jeder, der/die in ein Werk eingreifen und sich fremde Bilder und Töne aneignen will.

Zu Zeiten von YouTube und der immer populärer werdenden Arbeit und Praxis von VJs2 mag sich das bereits wie ein etwas angestaubtes Kapitel aus der Geschichte der Filmtheorie anhören. Oder wie der Filmrestaurator Martin Koerber bei der Ankündigung eines eben stattgefundenen Kolloquiums der Deutschen Kinemathek zur »Digitalen Herausforderung« schreibt: »Die potenzielle Verfügbarkeit aller Bilder lädt schließlich auch zur kreativen Wiederverwendung ein: Aus dem Found-Footage-Film wird der Remix, der Zugriff des Benutzers wird selbst zum Programm und Teil der audiovisuellen Kultur.«3 Begriffe wie »Mixen« oder »Veejaying« kokettieren mit einer spielerisch performativen Leichtigkeit, die längst abgekoppelt ist von dem schwerfälligen Apparat Kino, die aber auch schnell verschwinden mag, bei der tatsächlichen Arbeit, Filme oder Found-Footage neu zu schneiden. Viel wurde in den letzten Jahren über Zeit, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung reflektiert, über die gelungenen und missglückten Versuche, neue Orte für den Film zu finden, all die Flirts zwischen Kino und Museum, doch mit der wachsenden dezentralen Verfügbarkeit, sei es über Peer-to-peer-Netzwerke oder die omnipräsente proprietäre Mitmachmaschine YouTube, kommt eine noch schwer zu bestimmende neue Ebene hinzu. »Der Zuschauer als Souverän seiner Erfahrung«4 hat neue Aufgaben zu meistern.

Was verschiebt sich mit den Handgriffen des Zappens, Editierens, Arrangierens, Schneidens, Loopens, Spulens oder Pausierens? Wenn die UserInnen anfangen einzugreifen, was beim Fernsehen ja kaum möglich ist, oder beginnen, Filme, Kunstwerke, Dokumente herunterzuladen, neu zu schneiden oder als Programm zusammenzustellen, verschwindet auch die Benommenheit, das Schwindelgefühl der visuellen Überforderung und mag sich im nächsten Moment doch wieder einstellen. All die Fragen, was mit der vielfältigen Tätigkeit der editierenden KonsumentInnen auf dem Spiel steht, von Autorschaft, Performance, Filmgeschichte, Dokument bis hin zur Frage nach dem Originalton und imaginärem Eigentum, sind noch lange nicht beantwortet.

Warum aber sollten die ZuschauerInnen ihre aktive Passivität aufgeben? Abgesehen vom Bedürfnis nach Selbstdarstellung und individuell organisierter (Selbst-)Distribution mag es eine reizvolle Herausforderung für KritikerInnen sein, neue Formen der Kritik zu entwickeln, mit den Bildern zu arbeiten und weniger über sie – zumal die letzten Programmfenster im Fernsehen, wo so etwas noch möglich war, kontinuierlich abgeschafft werden. Reden über Film und Filmgeschichte in ihrem politischen Kontext, Theorie-Performance, eine aktivistisch motivierte Handkamera neben einer kontemplativen Totale, Szenen einer Spielfilmhandlung und Schnipsel von Audioarchiven – so könnte man das Aufgabenfeld der editierenden BetrachterInnen umreißen. Neue Fußnoten den »Histoire(s) du Cinema« hinzufügen. Die zeitaufwändigste Arbeit besteht in diesem Zusammenhang darin, die jeweils unterschiedlichen Formate anzugleichen. Es geht nicht darum, Bilder von ihrer Tonebene abzukoppeln und möglichst schnell und experimentell mit neuem Sound zu unterlegen, es geht auch nicht um visuelle Untermalung, Riot-Porn oder extreme Seh-Erfahrung, sondern eher darum, eine Art Bilder-Diskurs zu arrangieren und für die Länge eines Screenings die zerstreuten digitalen Bilder, spröde und unglamourös, in einem neuen Format und einem sozialen Raum zu bündeln, gegeneinander zu halten, zusammenzubringen.

Der Akt, in einen bestehenden, fertig geschnittenen Film einzugreifen, ihn seinerseits allein als Material zu begreifen, mag so respektlos wie respektvoll sein. Aktualisierung und Verschiebungen mögen sich ereignen. Das Herauslösen einer Spielfilmszene kann eine dokumentarische Note bekommen, in dem Sinn, wie die BetrachterInnen Zugriff auf das Produkt haben, das Produkt eines Arbeitszusammenhangs – »sodass sich im Bewusstsein die fiktionale Welt im Verhältnis zum vor-filmischen Ereignis verändert«, wie Laura Mulvey behauptet. Wie aber steht es um die Frage, wem diese Bilder gehören, auf welche Weise diese Form des Re-Arrangierens ein Akt der Aneignung ist, ob damit jemandem etwas gestohlen oder vielmehr zurückgegeben wird? Wenn Laura Mulvey vom »fetischistischen Betrachter« spricht, dem vor allem daran gelegen ist, die Bilder anzuhalten, verweist sie eher auf die Macht der alten Tage eines glamourösen Hollywood-Kinos, das Image des Stars, auf Ikonisierung, die vom Still vorangetrieben wird. Die Prozesse, die wir über Remote Control steuern, entkoppeln das Bild vom Ton. Das neue Weltkino ist ein Kino der Rede. Das Internet kann endloses Murmeln, Diskutieren, Reden bedeuten. Es ist der Originalton, der mehr noch als das Bild auf den konkreten Ort seiner Herstellung verweist. Mit den digitalisierten, im Internet verfügbaren Bildern und Tönen lassen sich noch ganz andere Dinge anstellen. Wenn die BetrachterInnen anfangen, einen Arbeitsprozess anzuzetteln, mit Bildern, die ihnen nicht gehören, aber auf die sie inzwischen Zugriff haben, werden sie nicht zuletzt Teil einer aufregenden Wechselbeziehung, die sich kaum übersetzen lässt: »›Imaginary property‹ is a concept that can be read in at least two directions, it is a dirty double genitive: property produced by imagination, or images turning into properties.«5 Der schmutzige, doppeldeutige Genitiv dürfte die nächste große Herausforderug werden.

 

 

1 Laura Mulvey: Death 24 X a Second – Stillness and the Moving Image. London 2006, S. 173.
2 Vgl. Vague Terrain 09: Rise of the VJ – http://www.vagueterrain.net, http://www.raumfuerprojektion.de, http://remixtheory.net
3 Kolloquium der Deutschen Kinemathek: Die digitale Herausforderung, 13. und 14. Juni 2008, Kino Arsenal, Berlin.
4 Alexander Kluge, 10 vor 11, 27. Mai 2008.
5 Florian Schneider: Imaginary Property, http://www.kein.org/node/198