Heft 3/2008 - Artscribe


Dmitrij Aleksandrovic Prigov

»Bürger! Vergessen Sie nicht! Bitte!«

13. Mai 2008 bis 15. Juni 2008
Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst / Moskau

Text: Herwig G. Höller


Moskau. Eine Prigov-Retrospektive dieser Größenordnung hat es bislang nie gegeben. Dabei war der 2007 verstorbene Dmitrij Aleksandrovic Prigov alias Dmitrij Aleksanyc1 in seinen letzten Jahrzehnten absolut omnipräsent in der Moskauer Kunstszene gewesen. Aber genau das, gerade seine schillernde Künstlerpersönlichkeit hatte zu Lebzeiten wohl einen schärferen und umfassenden Blick auf ein äußerst umfangreiches Œuvre verstellt. Und der Blick lohnt sich – so beweist auch die von Ekaterina Degot kuratierte Ausstellung im Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst (MMSI). Die Schau ist aber nur der Auftakt zu einem veritablen Prigov-Revival: Parallel zur Ausstellung läuft in Moskaus Staatlichem Zentrum für Zeitgenössische Kunst (GCSI) ein Festival im Gedenken an den Künstler, für 2009 plant der prominente Moskauer Kurator Andrej Erofeev – wohl vorbehaltlich eines Freispruchs in einem aktuellen Strafverfahren2 – eine weitere Ausstellung, 2010 wollen die staatlichen Vorzeigeinstitutionen Tretjakovskij-Galerie (Moskau) und Russisches Museum (St. Petersburg) zum 70. Geburtstag des Künstlers eine weitere großangelegte Retrospektive präsentieren. Hier ist der amerikanische Kurator Robert Storr im Gespräch.
Kuratorin Ekaterina Degot liefert aber bereits jetzt eine deutliche Vorgabe. Und das, obwohl sie in der umfangreichen Ausstellung praktisch nur auf Werke aus dem Nachlass bzw. dem Besitz der Familie des Künstlers zurückgreift. Dennoch bespielt sie im MMSI drei großflächige Stockwerke. Aber auch das Stiegenhaus, das als zentrales und verbindendes Ausstellungselement mit Texten der Performance »An die Bürger!« aus dem Jahr 1986 zugepflastert ist. Damals hatte Prigov hunderte lyrisch-ironisch-intellektuelle Kürzestgedichte im öffentlichen Raum affichiert – ohne Erlaubnis, einfach so. Etwa »Bürger! Vergessen Sie nicht! Bitte!« – daher auch Titel der aktuellen Ausstellung, oder »Bürger! Wie oft wird der Volksheld zum Volksfeind, und vice versa! Dmitrij Aleksanyc«. Trotz beginnender Perestrojka fanden das die Behörden gar nicht lustig. Und Prigov, obwohl seit 1975 Mitglied der staatlichen Künstlerunion der UdSSR und somit offiziell Künstler, fand sich alsbald in einer psychiatrischen Klinik. Freunde konnten ihn aber wieder befreien.
»An die Bürger!« bleibt zwangsläufig nicht die einzige textlastige Arbeit Prigovs, der tagein, tagaus schrieb und dichtete – nahezu im Sinne einer für Russland eher unüblichen protestantischen Arbeitsethik, er selbst brachte dies bisweilen mit deutschen Vorfahren seiner Familie in Verbindung. Bis 2006 hatte Prigov nach eigenen Angaben 36.000 Gedichte verfasst – weniger als ein Promille davon schaffte ihren Weg auch in das oberste Stockwerk der aktuellen Ausstellung. Aber keinesfalls als Literatur, so die überzeugende Kuratorenposition, sondern als Illustration eines Schaffens, in dem konsequent die Grenzen verbaler, visueller und performativer Kunst überschritten und auch aufgelöst werden. Dutzende ausgestellte Heftchen mit Gedichten, in denen sich Prigov mit Gott und Welt, etwa dem Klang des Wortes »Kabakov«, beschäftigte. Geistreiche Kurztexte finden sich auch auf und in Konservendosen, die Prigov jeweils Themen wie »biblische Namen«, »russisch« oder etwa der »Einheit und Freundschaft aller Völker« widmete.
Aber auch in nichtverbalen Ausdruckformen war Prigov unglaublich produktiv, etwa zeichnete er unaufhörlich – mit einer besonderen Vorliebe für großformatiges Schraffieren. Schüttelte somit im wahrsten Sinne des Wortes Kunst permament aus einem rastlosen Handgelenk. In vielen dieser Arbeiten kommentierte er, ergänzte er oftmals visuelles Found Footage, mitunter klassisch postmodernistisch, im Sinne wohl von Jacques Derridas Dekonstruktion des »gefährlichen Supplements«. Etwa in der ausgestellten Serie »Zeichnungen auf Reproduktionen« (1994), wo er Bilder mit russischer Landschaftsmalerei oder prächtiger klassizistischer Interieurs selektiv zuschraffierte. Und manchmal wiederkehrende Details dazumalte, rote Tränen, schwarze Augen, das eine oder andere erklärende Wort wie »Ecke« (über einer Raumecke auf einem Bild). Reichhaltig zeigt »Bürger! Vergessen Sie nicht! Bitte!« Werke aus einem Frühwerk der siebziger Jahre, zumeist abstrus modernistische Grafiken, die einen doppelten ironischen Boden vermuteten lassen. Ausführlich werden auch »Phantome von Installation«, Grafiken, die zumeist minimalistische Installationen in White Cubes skizzieren, präsentiert. Einige dieser abstrus-verspielten Ideen sind erstmals für diese Retrospektive auch tatsächlich verwirklicht worden, etwa eine Installation mit einem im Raum hängenden Hinkelstein, darunter ein Glas mit roter Flüssigkeit auf einer schwarzen Fläche. Die Ausstellung vergisst auch keinesfalls auf den Performancekünstler Prigov Performances, auf zahlreichen Monitoren laufen historische Videos aus drei Jahrzehnten, in denen er auf seine unverwechselbare Weise Gedichte deklamiert.
Angesichts der gezeigten Vielfalt stört lediglich eines: Zentrale politisch-konzeptualistische Arbeiten fehlen, etwa jene Serie, in der er die sowjetische Parteispitze als lyrische Monster porträtierte. Weitgehend fehlen aber auch die bekannten Zeitungsseiten der »Pravda« oder »Izvestija«, auf die Prigov zumeist pointierte Begriffe schraffierte. Immerhin, als Hommage ließ die Kuratorin den Namen »Prigov« auf eine aktuelle russische Boulevardzeitung zeichnen. Und diesen Namen wird man in Zukunft sicher noch häufiger hören.

 

 

1 Aleksanyc ist die volkstümliche Form von Aleksandrovic, Dmitrij Aleksanyc war eine leicht ehrfürchtige, offizielle Anrede von D.A. Prigov.
2 Im Mai wurde 2008 Andrej Erofeev (und auch Jurij Samodurov, der Leiter des Moskauer Sacharov-Zentrums) wegen des Schürens von religiösem Hass (§ 282 Abs 1. im russ. Strafrecht) offiziell angeklagt. Ursache ist die Ausstellung »Verbotene Kunst 2006«, der Strafrahmen ist max. zwei Jahre.
3 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt/Main 1974, S. 244–283.