Heft 4/2008 - Netzteil


Übersetzungsarbeit: »Webcra.sh/2800«

Zum Transfer von Netzkunst in den Realraum

Franz Thalmair


»Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.«1

Keine Computer, keine Bildschirme, keine Digitalprints und vor allem kein Internet: »Webcra.sh/2800«2 ist gleichzeitig Titel und Internet-Adresse einer im Mai 2008 beim Urban Explorers Festival in Dordrecht (Niederlande) gezeigten Ausstellung, die sich im Wesentlichen auf den Link als Repräsentanten des Netzkunstwerks im Realraum beschränkt.

Kuratiert wurde die Ausstellung von Joan Heemskerk und Dirk Paesmans, besser bekannt unter dem Pseudonym Jodi3, mit dem das niederländisch-belgische Künstlerduo seit Mitte der 1990er Jahre Medienkunst unter dem Label »net.art«4 betreibt. »Die Auswahl der Netzkunstarbeiten basiert auf der strengen Verbindung aus Titel, Adresse und Inhalt der gezeigten Websites«, wie Jodi feststellen. Der Ausstellungstitel trägt seinen Teil dazu bei: Die Top-Level-Domain ».sh«5 schreibt den im vorderen Teil der Adresse eingeführten Hostnamen fort. Ergänzt wird das daraus entstehende Worthybrid »webcra.sh« durch das Unterverzeichnis »/2800«. Mit dieser auf den ersten Blick kaum sichtbaren Verdrehung der Jahreszahl 2008 verstärken die Kuratoren zum einen das Ausstellungskonzept, das auf der Mutation von URLs und den dazugehörigen Internetseiten fußt. Zum anderen spielen sie auf jene Merkmale an, mit denen UserInnen beim Besuch dieser Netzkunstseiten konfrontiert werden: das Zerlegen und Rekombinieren der Strukturen des Internets und das Ausreizen ihrer spezifischen Multimedialität, die Kreation selbstreferenzieller und ephemerer Text-, Bild- und Soundwelten sowie ein sich immer wieder neu generierendes semiotisches Geflacker.

Die Ausstellung umfasst Arbeiten des Italieners Salvatore Iaconesi6 sowie das Projekt »Deprogramming.us«7, dessen Betreiber sich mittels Code für kreative Verfahren des Hacking aussprechen. Mit den so genannten »Single Serving Sites« des Niederländers Rafael Rozendaal8 wird auf Text-Bild-Relationen von Internetauftritten eingegangen, die lediglich aus einer einzelnen Unterseite bestehen und eine reduzierte Bildsprache produzieren. Genauso lassen sich bei der Auswahl der gezeigten Arbeiten aber auch Webpräsenzen von Gruppierungen wie die des Chaos Computer Club9 aus Hamburg und konzeptuelle Projekte des italienischen Medienkollektivs Les Liens Invisibles10 finden.

Die Besonderheit der Präsentation von »Webcra.sh/2800« im Realraum liegt in der Reduktion auf ein einzelnes Darstellungsformat: Das Ausstellungsdisplay besteht aus tragbaren Transparenten, auf denen die URLs zu den jeweiligen Kunstwerken geschrieben stehen. Der Link wird hier als grundlegende Methode verstanden, um zwei oder mehrere Inhalte im Internet miteinander zu verknüpfen und folglich ein Netzwerk aus Referenzen, Assoziationen und Querverweisen zu schaffen. Jodi benutzen den Link als Repräsentanten des Kunstwerks im Realraum, halten aber gleichzeitig – trotz objekthaften Displays – eine konzeptuelle Verbindung zum Internet aufrecht. Mit diesem geschickten kuratorischen Dreh bleiben die Kunstwerke also dort, wo sie jederzeit abrufbar sind, und finden dennoch eine Re-Präsentationsform im Realraum, die die BesucherInnen wieder zurück ins Netz und somit in ihre Rolle als UserInnen holt. Heemskerk und Paesmans gehen davon aus, dass ein Netzkunstwerk nicht ohne Link existieren kann, und erklären in einem E-Mail-Gespräch: »Ein Link ist die Adresse der Website, ohne die das Kunstwerk nicht auf dem Bildschirm erscheint. Er ist der Einschaltknopf und gleichzeitig Teil des eigentlichen Werkes. Als erste Zeile im Code aktiviert der Link ein Programm, das alle anderen Seiten ausschließt und uns vom Realraum ins Netz bringt.«

Im Unterschied zu herkömmlichen KuratorInnen bewegt sich der Kurator von Internet-basierter Kunst auf derselben medialen Ebene wie die KünstlerInnen. Der kuratorische Prozess, bestehend aus Rezeption, Selektion, Interpretation und Vermittlung, bedarf also ebenso eines Transfers all seiner Charakteristika in den Realraum. Auf die Frage, ob Netzkunst überhaupt ausgestellt werden könne, antworten Jodi: »Ja, aber ›Ausstellung‹ ist kein gutes Wort dafür. Genauso wie man keinen Film ›ausstellen‹ kann, kann man keine Website ›zeigen‹. Das hängt damit zusammen, dass es keinen definierten Zeitrahmen für das Benutzen von Websites gibt. Als Kurator muss man einen Weg finden, um die RezipientInnen auf die jeweilige Seite zu bringen und nicht auf irgendeinen Bildschirm.«

Auf formaler Ebene zitieren die ausgestellten Transparente die jeweilige Hintergrundfarbe der Seiten im Netz. Zusätzlich zur Gestaltung der gelb-orangen, roten, blauen und zum Teil auch typografisch an die Kunstwerke angepassten Planen fand im Stadtzentrum von Dordrecht eine Demonstration mit den tragbaren Utensilien statt. Das performative und zeitbasierte Besetzen des öffentlichen Raums mit Web-Adressen kann als Anspielung auf die Omnipräsenz von Links im alltäglichen Leben gelesen werden. Nach der Demonstration wurden die Transparente in den Ausstellungsraum gebracht und dort als Netzwerkknoten installiert. Um die Interaktion mit Netzkunstwerken zu imitieren, mussten die AusstellungsbesucherInnen selbst aktiv werden und konnten den Raum nur durchqueren, wenn sie über ein am Boden verlegtes Holzgitter in diese Akkumulation von Referenzen eintauchten. »Um die Besucherinnen von der Ausstellung ins Netz zu führen, kann man Schlüsselwörter an die Wand oder sonstige Oberflächen schreiben, oder einfach nur die Web-Adresse. Ist man von den Werken getrennt, treibt einen das an, sich später die URLs anzusehen – ›when and where you like, which is the Internet‹.« Auf die Frage, ob die Tätigkeit im Rahmen des Urban Explorers Festivals eine künstlerische oder kuratorische gewesen sei, behauptet das Künstlerduo: »Beides. Wir haben ein Programm im Realraum installiert.«

Die Ausstellung »Webcra.sh/2800« bezieht sich hauptsächlich auf Aktivitäten im Internet, die Jodi als Künstler bereits seit Mitte der 1990er Jahre erforschen. Sie ist aber dennoch, oder gerade aufgrund des restriktiven formalen Fokus auf Kunst in der Tradition von »net.art«, ein gelungenes Beispiel für die Übersetzung in den Realraum. Mit der Wahl eines Displays, das seinen Ausgangspunkt im Internet hat, ist eine adäquate Darstellung auf beiden Ebenen, also online sowie offline, ebenso gewährleistet wie die Neuinterpretation der einzelnen Werke in einem bis zum Datum der Ausstellung unbekannten Kontext. Der Perspektivenwechsel, dem sich die BesucherInnen bei diesem Multimedia-Transfer unterziehen können, verhält sich in etwa so, »wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt«, also wie eine freie Übersetzung zum Original, die je nach Kontext re-formuliert und neuerlich in die »Freiheit der Sprachbewegung« geschickt werden muss.

 

 

1 Walter Benjamin, Charles Baudelaire, Tableaux parisiens. Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. IV/1. Frankfurt am Main 1972, S. 19 f.
2 http://webcra.sh/2800
3 http://jodi.org
4 Rachel Greene, Internet Art. London 2005, S. 55.
5 Das Länderkürzel des Inselstaats Saint Helena.
6 http://www.artisopensource.net
7 http://deprogramming.us
8 http://www.iamveryverysorry.com
9 http://ccc.de
10 http://www.lesliensinvisibles.org