Heft 2/2009


Modell Labor Tanz

Editorial


Die aktuelle Tanzszene als Labor und Modell spartenübergreifenden Arbeitens? Als Feld, das (selbst-)kritisch über sich und seine Methoden, seine Institutionen und Arbeitsbedingungen sowie seinen Status zwischen anderen Künsten reflektiert? Auf das Tanzquartier Wien (TQW), gegründet im Jahr 2001, trifft diese Qualifikation allemal zu, und die Frühjahrsausgabe widmet sich exemplarisch den vielfältigen Tanz-, Performance-, Diskurs- und Crossoverpraktiken, wie sie sich an dieser bzw. rund um diese Arbeitsstätte entwickelt haben. Ein kleiner Querschnitt durch hier entstandene oder fokusartig zusammengefasste Ansätze soll aufzeigen, auf welche Weise sich dieser Bereich modellhaft für andere Kunstgattungen verstehen lässt.
In den acht Jahren seines bisherigen Bestehens hat das Tanzquartier Wien vieles geleistet: die Befreiung der Tanzperformance aus den Korsetten der Compagnien und des produktorientierten Festivalbetriebes etwa, aber auch die Generierung eines vorbildhaften Effekts, was das institutionelle Profil vergleichbarer Häuser in ganz Europa betrifft. Gemeinsam mit KünstlerInnen und TheoretikerInnen, ProduzentInnen und AusbildnerInnen zeigte es den Weg aus dem klassischen Genrerahmen auf, ja, mehr noch: Es wurde selbst zum zentralen Angelpunkt einer internationalen Bewegung, die den neuen Geografien ebenso wie den sich ändernden künstlerischen Arbeitsformen Rechnung tragen. Neue Formate, vom Labor über Research bis hin zum Training, tragen folgerichtig sein Entwicklungsprädikat. Dabei fanden viele der Ansätze, welche die Bewegungen, die Positionen von KünstlerInnen und BetrachterInnen radikal neu zu formieren anraten, ihre Anregungen in den selbst- und genrekritischen Verfahren der Avantgarden und Neoavantgarden der bildenden Kunst, ließen sich von deren konzeptuellen und postkonzeptuellen Strömungen inspirieren. Grund genug also, diesen Querverbindungen einmal skizzenhaft nachzugehen.
Der Hauptteil dieser springerin spiegelt im Wesentlichen Figuren oder Gruppen, die am Tanzquartier Wien formierend wirkten. Die Texte verfolgen bestimmte Bereiche, Themenspuren in Praxisfeldern, nehmen deren Vokabulare auf, beziehen sich auf Mentalitäten und Haltungen eines Feldes, das im doppelten Wortsinn in ständiger Bewegung ist. Einen Schwerpunkt bilden dabei monografische Essays über exemplarische KünstlerInnen, etwa Meg Stuart oder Philipp Gehmacher, dessen Arbeit sich zentral in und mit dem Tanzquartier entwickelte. Darüber hinaus geben wir Auszüge aus einzelnen, vielerorts als maßgeblich erachteten Produktionen wieder, Tim Etchells’ diesjähriger »Void Story« etwa, welche selbst in einer langen Gastspielreihe von Forced Entertainment am TQW steht. Oder Rabih Mroués Vortragsperformance über politische Lesarten von Straßenplakaten in Beirut, die auf den ersten Blick nicht viel mit dem klassischen Tanz-/Performancebereich zu tun hat, bei eingehender Betrachtung aber eine ganze Menge über das situative Zusammenspiel von kritischem Diskurs, lokalen Ausformungen der Visual Culture und physischer Loziertheit an einem bestimmten geopolitischen Brennpunkt offenbart. Ein drittes Schwergewicht bilden schließlich Texte, die Querverbindungen zu Feldern der bildenden Kunst (wie bei Annemarie Matzke) oder zu einer allgemeinen kritischen Bildungstheorie (beispielsweise bei Boyan Manchev) herstellen.
Hier wie dort schreibt sich ein disziplinenübergreifender Diskurs nicht nur in den Möglichkeitsraum einer Institution wie dem Tanzquartier ein, sondern beginnt, aus dessen institutionellem Nährboden heraus Form anzunehmen. In diesem Sinne ist und bleibt die Arbeit, die acht Jahre lang im TQW geleistet wurde, konstitutiv unabgeschlossen.