1962 stellt Robert Morris, bildender Künstler und Choreograf, in einer Galerie eine Arbeit mit dem Titel »I-Box« aus.1 Zu sehen ist ein grauer Kasten, in dessen Vorderseite eine Tür mit dem Buchstaben »I« eingelassen ist. Wenn die BetrachterInnen diese Tür öffnen, sehen sie eine Fotografie des Künstlers. Mit freudigem Gesichtsausdruck präsentiert sich Morris nackt dem Blick der BetrachterInnen, mit halb erigiertem Penis, den Kopf im Nacken.
Das »Ich« wird hier zur räumlichen Konstruktion, zum begehbaren und vielleicht sogar bewohnbaren Raum. Präsentiert wird es als ein »Ich-Objekt«, als eine Form der Selbstsetzung, die den Körper des Künstlers umschließt und zugleich auf die Person des Künstlers zurückverweist. Es ist ein Selbstporträt, das mit dem Akt der Selbstbezeichnung spielt. Zusammengefasst im Kürzel »I« zitiert Morris die Diskurse um Identität, Selbstdarstellung und Körperkonzepte und fragt nach der Position des Künstlers im Selbstporträt. Das »I« als phallischer Buchstabe verknüpft dabei (sichtbar) die Frage nach der Subjektivität mit der Frage nach der (männlichen) Sexualität. Morris stellt sich selbst als in der Sprache gefangen aus.
Zugleich spielt Morris mit dem voyeuristischen Blick der BetrachterInnen. Diese müssen die Tür öffnen, um zu sehen, was dahinterliegt. Das Wechselverhältnis von Verstecken und Zeigen, nach Lyotard Grundbedingung von Theatralität, wird hier offensiv ausgestellt. Die ungeöffnete Tür zeigt nichts als den Verweis auf ein vermeintliches Ich und verweist doch auf ein Dahinter. Schaut man durch die offene Tür, weist Morris den Blick des Anderen zurück. Sein Gesichtsausdruck zeigt, dass die Lust ganz bei ihm selbst liegt.
Diese Konstruktion eröffnet zwei Lesarten. Einerseits wird ein Moment scheinbarer Stimmigkeit gezeigt. Morris scheint Spaß mit sich, an sich und in sich zu haben. Er füllt zumindest der Länge nach die Box aus: ein Ich, das mit sich selbst identisch scheint und als Box scheinbar klare Grenzen zur Außenwelt hat. Zugleich unterläuft er aber dieses Bild der Einheit mit sich. Denn der Körper passt nicht genau in die Box, es bleiben Hohlräume neben ihm, Leerstellen. Ebenso stellt die Perspektive der BetrachterInnen diese Einheit infrage. Gespielt wird mit der Frage, was hinter der verschlossenen Tür passiert. Und ob der freudige Blick vielleicht allein an das Interesse der BetrachterInnen gebunden ist und mit dem Schließen der Tür verschwindet.
Seine Selbstausstellung ist ebenfalls nicht von ihrem Ausstellungskontext zu trennen. Morris stellt neben der Box verschiedene andere Arbeiten aus, die als Form der Selbstdarstellung ausgewiesen sind: »Self Portrait EEG« zeigt eine Aufzeichnung von Morris’ eigenem Elektroenzephalogramm. Unter dem Titel »Portrait« werden verschiedene grau bemalte Fläschchen ausgestellt, die laut Beschriftung Blut, Schweiß, Sperma, Tränen und andere Körpersäfte des Künstlers beinhalten. Der Körper wird nicht als Einheit präsentiert, sondern naturwissenschaftlich analysiert, in seine Einzelheiten zerlegt. Verschiedene Perspektiven auf den Körper stehen nebeneinander. Die scheinbare Einheit mit sich selbst, die das Bild der Box aufmacht, wird unterlaufen.
I Object – Ich erhebe Einspruch
Ähnlich wie Morris spielt auch eine andere Arbeit aus der bildenden Kunst mit dem »Ich« als Objekt. Hannah Wilkes »I Object – Memoirs of a Sugargiver« macht die Objektwerdung des Körpers in Form eines Selbstporträts offensiv zum Thema. Die Arbeit, als ein vermeintlicher Umschlagentwurf für ein Buchprojekt präsentiert, zeigt die Künstlerin – aus zwei verschiedenen Perspektiven – nackt auf einem Felsen liegend, um sie herum verstreute Kleidungsstücke. Auf der rechten Bildseite ist ihr Name eingeschrieben: eine offensive Markierung, die den Autornamen als Teil des Bildes präsentiert.2 Wilke bietet ihren nackten Körper den Blicken der BetrachterInnen an und macht sich damit zum Objekt der Darstellung. Diese Dialektik spiegeln auch die beiden Perspektiven wider, aus denen ihr Körper aufgenommen ist: Die kopfüber gezeigte Ansicht lässt die BetrachterInnen in Wilkes Augen schauen. Bei der anderen Ansicht ist das Gesicht aufgrund der perspektivischen Verkürzung nicht sichtbar.
Mit dieser Doppeldeutigkeit spielt auch der Titel: Unklar bleibt, ob das englische »I object« als eine Pronom-Verb-Verbindung zu übersetzen ist, als »Ich erhebe Einspruch«, oder eine Aneinanderreihung von zwei Substantiven ist – im Sinne eines »Ich-Objekts« oder »Augen-Objekts« (Eye-Object). Wilke präsentiert sich als analysierendes Subjekt wie auch als analysiertes Objekt. Das Verhältnis zwischen dem Subjekt Künstlerin – das sich selbst inszeniert – und dem Objekt der Darstellung gerät in Bewegung. Indem sie den Blick der BetrachterInnen zurückgibt und damit die Betrachterperspektive umkehrt, kann weder der Produzentin noch dem Produkt der dargebotenen Selbstausstellung eine feste Position zugeschrieben werden.
Der Blick des Anderen
An diesen beiden Beispielen offenbaren sich die Problematik und das Potenzial des »Ich-Sagens« in der Kunst. Beide spielen mit dem Akt des »Sich-Selbst-Ausstellens« und machen ihren Körper zum Objekt der Darstellung. In den Blick rückt dabei weniger eine vermeintliche Selbstoffenbarung des Künstlers oder der Künstlerin als die Position der RezipientInnen, deren Suche nach der Instanz des »ich-sagenden« Künstlers in der offensiven Selbstausstellung zurückgeworfen wird. Trotz der Intimität der nackten Körper erfährt man nichts Persönliches über die Dargestellten. Wer ist das »Ich«, das sich hier ausstellt, zum Objekt wird oder Einspruch erhebt?
Nicht ohne Grund nutzen beide das Medium der Fotografie für ihre Selbstinszenierung. Das Zeichen »I« lässt sich auch auf dieser Ebene deuten: als (fotografisches) Auge (eye). Die Fotografie ist immer bereits eine Inszenierung auf den anderen hin und nicht ohne diesen fremden Blick denkbar. Roland Barthes beschreibt das Fotografiert-Werden als eine Form des Sich-Selbst-Nachahmens3, eine Imitation der Vorstellung des eigenen Selbstbildes, das immer schon einer Distanzierung von sich selbst bedarf. Schon die Formulierung des »Sich-Selbst-Nachahmens« weist auf die reflexive Dimension jeder Form der Selbstdarstellung hin. Nicht die Darstellung eines Selbst, sondern die Inszenierung, der Darstellungsvorgang selbst rückt in den Fokus. Die Selbstdarstellung ist somit immer eine Inszenierung eines Selbstbildes zwischen Selbstentwurf und Fremdzuschreibung.
Nicht ohne Grund kommen beide Beispiele aus der bildenden Kunst – dort gibt es eine lange Tradition der Selbstdarstellung als Selbstporträt. Indem KünstlerInnen sich selbst, ihr Selbstbild, zum Gegenstand der Darstellung machen, entäußern sie sich in ein fremdes Medium: dem Bild. Die traditionellen Künstlermythen weisen dem Selbstporträt dabei eine vermeintliche Authentizität zu: Die KünstlerInnen geben »sich selbst« zu sehen. Dabei zeigen sich die KünstlerInnen, so wie sie wünschen, dass andere sie zu sehen bekommen. Dem Selbstbild geht also ein Vor-Bild voraus, das sich am Blick der BetrachterInnen orientiert. Dass dieses Selbst(bild) immer eine Konstruktion ist und genauso der Inszenierung bedarf wie andere Sujets, zeigt sich auch darin, dass die BetrachterInnen, um den Dargestellten mit dem Produzenten des Bildes zu identifizieren, bestimmter Codes bedürfen, welche die Darstellungsabsicht oder den besonderen Autorstatus hervorheben, sei es in der Signatur oder der Rahmung. Die Selbstdarstellung wird zur eigenen »Lese- und Verstehensfigur«4. Gerade seit den 1970er Jahren greifen im Kontext von Body Art, Aktionismus oder Videokunst zahlreiche Arbeiten auf das Medium des Selbstporträts zurück, nicht um sich selbst darzustellen, als vielmehr jede Form der Darstellung von Subjektivität wie auch Konzepte von Identität und Autorschaft zu hinterfragen.
Betrachtet man diese Entwicklung aus der Perspektive des Tanzes oder des Theaters, eröffnet sich hier eine ganz eigene Problematik, denn jeder Schauspieler oder Tänzer arbeitet immer mit seinem Körper, bedarf seiner selbst, um seine Darstellung zu produzieren. Jede schauspielerische Darstellung ist immer auch eine Selbstdarstellung. Wenn also SchauspielerInnen, PerformancekünstlerInnen oder TänzerInnen auf der Bühne sich selbst zum Gegenstand ihrer Darstellung machen, bedürfen diese Formen der Selbstinszenierung wie das Selbstporträt einer Form der Distanzierung, um als solche für die BetrachterInnen lesbar zu werden.
Dabei greifen auch ChoreografInnen für ihre Bühnendarstellungen auf die Form des Selbstporträts zurück. »Portrait Series« (ab 2005) nennt beispielsweise der belgische Choreograf Michael Laub sein Projekt, das TänzerInnen und Nicht-TänzerInnen in spezifischen Selbstinszenierungen auf der Bühne zeigt, alle in einem kurzen Solo. Wiederkehrendes Prinzip aller »Portraits« ist die Stillstellung der jeweiligen PerformerInnen zu Beginn. Dazu dient auch ein Prospekt aus blauem Fotopapier, auf den zu Beginn jedes Porträts der Name der DarstellerInnen projiziert wird: Die Szene wird signiert. Anders als in der bildenden Kunst sind die TänzerInnen jedoch agierend auf der Bühne präsent. Wenn sie sich selbst zum Ausstellungsobjekt machen, dann wird dieses Objekt vor den Augen der ZuschauerInnen auf der Bühne hervorgebracht – durch die erzählten Geschichten, die Körperlichkeit, die verschiedenen Posen und Bilder. Dabei unterläuft das »Ich-Sagen« den Status des Subjekts auf der Bühne. Gezeigt wird nicht die Darstellung eines vermeintlich authentischen biografischen Selbst, sondern gespielt wird mit Strategien der Selbstpräsentation, die in der Aneinanderreihung der verschiedenen Porträts umso deutlicher vor Augen treten. Auch wenn die TänzerInnen auf der Bühne »ich« sagen, geht es letztlich nicht um die Darstellung autobiografischer Fakten, sondern sie spielen mit Modellen von Subjektivität, indem sie das Verhältnis von Darstellungsobjekt und Subjekt in Bewegung bringen.
Dies möchte ich anhand einer einfachen aber prägnanten Szene aus der Inszenierung »Close enough to kiss« (1998) des Performancekollektivs Gob Squad zeigen. In einem leeren Bühnenraum steht ein langer Spiegelkorridor, um den herum sich die ZuschauerInnen frei bewegen können. Während die ZuschauerInnen von außen in das Innere des Korridors wie durch Glas blicken, ist es von innen nicht möglich, etwas anderes als das eigene Spiegelbild zu sehen. Diesen leeren Spiegelraum betritt die Performerin Sarah Thom. Sie stellt einen Stuhl dicht vor eine der Scheiben, setzt sich, schaut in den Spiegel und beginnt mit einer Aufzählung: »I am Sarah … I am a dog lover … I am a sister … I am a daughter … I am a loyal friend … I am vain … I am in love … I am seventeen and I am a virgin … I am sixty-six.«
Zu sehen ist eine Frau, die nichts anderes tut, als sich zu beschreiben. Dabei verwendet sie ein sich wiederholendes Schema, durch das sie ihre Beschreibung ordnet. Aus der Aufzählung entsteht ein mögliches Bild einer Frau. Diese Frau heißt Sarah, mag Hunde, hat Geschwister und ist eine treue Freundin. Betrachtet man die Aufzählung der Eigenschaften, so fällt auf, dass diese sich teilweise widersprechen. Sie kann nicht 17 und zugleich 66 sein. Außerdem wird durch ihr Äußeres offensichtlich, dass beide Aussagen nicht stimmen. Durch diese Widersprüche und die Beliebigkeit der Aussagen wird das Bild der Frau, das sich aus den Beschreibungen entwickelt, nach und nach konturlos. Es löst sich auf.
Der Versuch, diese Frau als eine bestimmte Person zu identifizieren und ihr damit eine Instanz, die der Aussage zugrunde liegt, zuzuschreiben, scheitert. Wer ist es, der oder die hier »ich« sagt? Ist es die Schauspielerin Sarah Thom, die von sich spricht und ihre individuellen Eigenschaften aufzählt? Erfüllt sie die Rollenaufgabe »Selbstbeschreibung«? Die ZuschauerInnen werden mit diesen Fragen alleingelassen. In ihrem fragmentarischen und widersprüchlichen Charakter lassen sich die aufgelisteten Bekenntnisse weder zu einer Bühnenfigur zusammensetzen, noch auf ein autobiografisches Ich der Schauspielerin beziehen. Spricht die Schauspielerin von sich oder für sich?
Die Formel »Ich bin« ist wohl eine der einfachsten Formen der Selbstidentifizierung und stellt die Frage nach Identität. Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott folgert in seinen Überlegungen über Jaques Lacans Konzept des Spiegelstadiums: »Die aggressivsten und daher gefährlichsten Wörter in allen Sprachen der Welt sind die Wörter ICH BIN. Es ist jedoch unabweisbar, daß nur diejenigen, die ein Stadium erreicht haben, im dem sie diese Aussage machen können, als erwachsene Mitglieder dieser Gesellschaft gelten dürfen.«5 Wie keine andere Formulierung behauptet »Ich bin« eine Selbstsetzung und gleichzeitige Abgrenzung vom Anderen. Morris’ »I-Box« wie auch die beschriebene Szene von Gob Squad spielen mit dieser Setzung wie auch der Abgrenzung. Allerdings ist die Grenze selbst immer schon durch den Blick des Anderen markiert: sei es durch die zu öffnende Tür oder die Box aus Spiegelscheiben.
Die Formulierung »Ich bin« erinnert aber gleichzeitig an ein Bekenntnis: Hier, sieh mich an, das bin ich! Allerdings wird diese Darstellungsform »Bekenntnis« von der Schauspielerin vor einem Spiegel inszeniert. Der Spiegel als Medium der Reflexion macht die Inszenierungsstrategien dieser Darstellungsform deutlich. Für die Frage, welches »Ich« spricht, ergibt sich damit eine neue Perspektive. Gerade die Widersprüchlichkeit der Aussagen, das offensichtliche Lügen vor dem Spiegel macht eine Leerstelle in der Beschreibung sichtbar und bestimmt die (Selbst-)Darstellung als Strategie der Selbstidentifizierung. Nicht auf die Darstellung eines Selbst, sondern auf den Akt der Selbstdarstellung, als ein Sich-Darstellen verschiebt sich der Fokus: Das Darstellen wird selbstreflexiv.
Der Blick der Performerin ist auf ihr Spiegelbild gerichtet, das aber vom Zuschauerblick gedoppelt wird. Die Performerin schaut auf sich und wird angeschaut. Gleichzeitig bleibt das, was sie sieht – ihr Spiegelbild – für die ZuschauerInnen unsichtbar. Diese sehen nur ihren Blick auf sich selbst als Betrachtete und Betrachtende. Dieser Spiegelaufbau inszeniert die Darstellung um zwei Leerstellen herum: die Reflexion des Blickes der Performerin auf sich selbst und den Blick der anderen auf sie. Die Perspektiven von BetrachterInnen und Akteurin, der Position der Inszenierung und des Inszenierten geraten in Bewegung und kehren sich beständig um, damit ist in der beschriebenen Szene die Ausrichtung der Blicke nicht mehr klar bestimmbar. Die Performerin wird zur Betrachtenden, die selbst (zweifach) betrachtet wird. Das Subjekt kann nicht länger als autonome Instanz, als etwas Zugrundeliegendes betrachtet werden, sondern zeigt sich als »[u]nterworfener Souverän, betrachteter Betrachter«6, wie man es mit Foucault beschreiben könnte. Das idealistische Verhältnis eines Subjekts, das sich selbst erkennt, wird umgedreht. Doch ist der Aufbau in sich widersprüchlich konzipiert. Es stehen sich der Entwurf eines aufgelösten Subjekts in der Beschreibung und die Schauspielerin als sich selbst inszenierendes Subjekt gegenüber. Dieser Status der Inszenierenden fragt nach der Autonomie der Performerin gegenüber der Darstellung. Sie organisiert bewusst die widersprüchliche Blickkonstellation.
Auch wenn sie ihre Inszenierung nicht vollständig beherrscht, tritt sie den ZuschauerInnen doch als handelndes Subjekt gegenüber. Aus dem Widerspruch zwischen der Schauspielerin, die sich selbst inszeniert und somit ihre Position als Inszenatorin der Szene ausstellt, und dem Entwurf einer Subjektivität, die sich durch die Auflösung in der Selbstbeschreibung auszeichnet, ergibt sich eine Verschiebung der Selbstbeschreibung: Die Selbstsetzung ist immer zugleich Selbstauslöschung. »I object« bedeutet in diesem Sinne auch Einspruch gegen jede feste Subjektposition. Das Ich-Sagen auf der Bühne dient nicht einer Vergewisserung des eigenen Selbst, sondern spielt mit dem Risiko des Selbstverlustes.
Heruntergelassene Hosen
Diese Ausrichtung auf einen anderen hin, die konstitutiv für jede Form der Selbstinszenierung ist, thematisiert nicht nur den Blick der BetrachterInnen, sondern eröffnet eine neue Ebene der Diskursivität. Beispielhaft lässt sich dies an der Inszenierung »BAD« (2003) des Performancekollektivs She She Pop zeigen. Die fünf Performerinnen von »BAD« begeben sich auf eine Trainingsstrecke über ihre eigenen Fantasien, Machtgelüste und »dunklen Seiten«. Es geht um Macht und Unterwerfung, ein Versuch, den sadomasochistischen Pakt auf das Theater zu übertragen. Ilia Papatheodorous für den Abend formuliertes Trainingsziel beispielsweise ist es, ein Selbstporträt mit dem Titel »Ich selbst mit runtergelassener Hose« herstellen. Sie erklärt, dass sie ein verkopfter Mensch sei, der schwer loslassen könne, deshalb will sie einen »kontrollierten Kontrollverlust« inszenieren. Es sei eine ihrer schlimmsten Horrorvorstellungen, betrunken, mit runtergelassenen Hosen auf einer Party zu stehen. Ihr Ziel für den Abend der Aufführung sei es, dieses Szenario gemeinsam mit den ZuschauerInnen zu realisieren. Sie geht nach und nach zu immer anderen ZuschauerInnen und bittet diese, ihr eine Hose auszuziehen. Verweigert diese/r, der Aufforderung nachzukommen, beginnt die Performerin eine Diskussion und trinkt einen Tequila. Immer wieder erklärt sie ihr Konzept: Es ginge darum, gemeinsam mit dem Publikum Objekt und Subjekt der Performance zu werden. Das heißt nicht nur, wie in der Performance Art den eigenen Körper zum Material zu machen, sondern die Position auch auf das Publikum anzuwenden. Sie verhandelt mit dem Publikum, diskutiert, versucht zu überzeugen. Sieben Hosen sind herunterzuziehen, und entsprechend viele Tequilas werden getrunken. Schließlich ist die Performerin nackt und besoffen, und bietet ihren Hintern einem Zuschauer zum Signieren an. Er solle sich in das gemeinsame Kunstwerk einschreiben. Wie die Performerin sich selbst auf der Bühne thematisiert, so inszeniert sie auch die Position der ZuschauerInnen. Sie können Einspruch erheben gegen ihr Vorhaben – und werden doch Teil davon, egal wie sie sich entscheiden. Der wechselseitige und widersprüchliche Prozess der Selbstinszenierung wird von der einzelnen Darstellerin weg auf die kollektive Situation der Aufführung übertragen. Wie bei Morris oder Wilke wird den ZuschauerInnen die Position zugewiesen, die Performerin zum Objekt zu machen. Dieser Weg, zum Kunstobjekt zu werden, wird allerdings als kollektiver und diskursiver Prozess ausgestellt und so nach gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten gefragt.
Die Praxis der Selbstausstellung, sei es in der bildenden Kunst, im Tanz oder in der Performance Art, arbeitet am Widerspruch, sich einerseits zum Objekt der Betrachtung zu machen, sich den Blicken der BetrachterInnen auszusetzen und zugleich gegen diesen Status Einspruch zu erheben: ein Zwischenraum zwischen Selbstentwurf und fremder Zuschreibung, zwischen Selbstbehauptung und Unterwerfung.
1 Vgl. dazu Robert Morris, The Mind/Body Problem. Ausstellungskatalog The Solomon R. Guggenheim Museum. New York 1994, S. 122. Vgl. auch W. J. T. Mitchell, Picture Theory. Chicago 1994.
2 Hannah Wilke zitiert hier die Position der Puppe in Marcel Duchamps Schlüssellochinstallation »Étants Donnés«: eine Installation, die hinter einer schweren Holztür verborgen nur durch zwei Astlöcher den Blick auf eine surreale Landschaft mit einem nackten Frauentorso erlaubt.
3 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1989, S. 22.
4 Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, in: ders., Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt am Main 1993, S. 131–146, hier S. 134.
5 Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1987, S. 155.
6 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 1974, S. 377.