Heft 3/2009 - Escape Routes


Die Zukunft entziffern

Experimentelles Arbeiten auf mobilen Territorien

Brian Holmes


Wir befinden uns an der Schwelle zu einem gesellschaftlichen Wandel, verursacht von einem gescheiterten Wirtschaftsmodell, das noch dazu zu schmelzenden Polarkappen und schrecklichen Kriegen geführt hat. Das Paradoxe ist, dass nur wenige Menschen gewillt zu sein scheinen, ihr eigenes Leben zu ändern und zu einem historischen Wandel beizutragen. Anders als im Argentinien um die Jahrtausendwende haben die Banken nicht einmal vorübergehend ihre Pforten geschlossen, und auch die Mittelschicht sieht man nicht gemeinsam mit der Arbeiterklasse und den Ausgegrenzten auf die Straße gehen. Nicht, dass es damit getan wäre.

Es fällt schwer, die Fotos zu vergessen mit den endlosen Reihen bewaffneter Polizeikräfte vor den Geschäften von Buenos Aires, während die Aufständischen zu Tausenden aufmarschiert sind. Ebenso schwer zu vergessen ist die Aussage eines der »enragés« vom Mai 68 in Paris, eines Mannes, den ich zufällig traf und der mir erklärte, wie schockiert und unendlich enttäuscht er gewesen sei, als der August kam und die Radikalen, die eben noch die ganze Stadt paralysiert hatten, in die Ferien fuhren. Solche symbolträchtigen Bilder eignen sich gut als Einleitung für eine Untersuchung, die sich an einer dreifachen Frage versuchen möchte. Was macht einen Bruch, eine Ruptur, in Gesellschaften wie den unseren aus? Wie wird eine momentane Abkehr von der Norm zu einer dauerhaften Alternative im Leben der Menschen? Und wenn es solche Alternativen gibt, wie stehen ihre Chancen in der derzeitigen Krise?

Elektrische Schatten
Die Linke ist sich einig, dass der letzte historische Bruch in der globalen Bewegung von 1968 zu verorten ist, nicht nur im reichen Norden, sondern auch im Süden, wo er den Höhepunkt der nationalen Unabhängigkeitskämpfe kennzeichnete. Widerwillig wird nach dieser Denkweise ein weiterer Bruch im Jahre 1989 eingeräumt, häufig dargestellt als unvermeidliche Implosion. Dabei leitet sich die Idee des »historischen Bruchs« von der marxistischen Dialektik her. Und wie die scharfsichtigsten unter den ZeitzeugInnen der 1960er Jahre sich erinnern, zeigten die kulminierenden Episoden der Befreiung der Dritten Welt ebenfalls eine Auflösung der kommunistischen Idee des kollektiven Handelns an, welche die Linke seit 1917 definiert hatte.

In seinem Film »Sans soleil« (1982) reflektiert Chris Marker die vom Kollektivismus des 20. Jahrhunderts ausgelöste »Breaking Wave«, insbesondere in der 1980 in Guinea-Bissau gefilmten Szene, in welcher der damalige Präsident Luis Cabral einen Soldaten für seine revolutionären Taten mit einem Orden auszeichnet. Cabrals Halbbruder Amilcar hatte einen erfolgreichen Guerillakrieg gegen Portugal geführt, dem in dieser Zeremonie gedacht wurde. Doch die bei der Verleihung des Ordens vergossenen Tränen des Soldaten »waren nicht Ausdruck der Emotionalität eines ehemaligen Kämpfers, sondern des verletzten Stolzes eines Helden, der das Gefühl hatte, zu Unrecht nicht höher dekoriert worden zu sein als die anderen«. Ein Jahr später sollte dieser Soldat, Major Nino, einen Militärcoup anzetteln. Das Verlangen nach Singularität ist der Wurm in der Frucht der kollektiven Vision. Der Kommentator fährt fort: »Hinter jedem dieser Gesichter ein Andenken. Und anstelle eines angeblich daraus entstandenen kollektiven Gedächtnisses Tausende von Erinnerungen von Männern, die ihre persönlichen Traumata durch das große Trauma der Geschichte hindurch zur Schau tragen.«

Der Verlauf des Films durch die Spirale einer im Entstehen begriffenen Weltgesellschaft, von Europa bis Afrika, Asien und Nordamerika, hat seinen Ursprung in diesem Bruch. Marker besteht auf diesem Punkt und zitiert den portugiesischen Dichter Miguel Torga, der über die 1975er-Revolution gegen die Salazar-Diktatur Folgendes schrieb: »Jeder Protagonist repräsentiert nur sich selbst; anstelle einer Veränderung der gesellschaftlichen Situation sucht er im revolutionären Akt lediglich die Sublimierung seines eigenen Bildes.« Doch dann wechselt die Szene, und wir sehen faszinierende, von Hayao Yameneko mit dem Videosynthesizer bearbeitete Bilder, elektrische Schatten, die die Kämpfe der 1960er und 1970er nachspielen. Die Faktizität filmischer Aufzeichnung (was André Bazin als »Ontologie des fotografischen Bildes« bezeichnete) hat sich in mobile Sprühnebel aus bunten Punkten aufgelöst, welche die Bildsequenzen wie Schatten des Todes erscheinen lassen. In einem bittersüßen Satz, der den Schlüssel zu seiner eigenen Zwangslage liefert, zieht der Erzähler die kulturellen Konsequenzen aus dem sublimierten Selbstbild: »Ich sehe mir seine Maschinen an. Ich denke an eine Welt, in der jede Erinnerung ihre eigene Legende schaffen könnte.«

20 Jahre zuvor hatte die Pop-Art Presse- und Comicbilder monumentalisiert und damit die fabrizierten Kollektivitäten der fordistischen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg ihren eigenen affektiven Ursprüngen ausgesetzt. In »Sans soleil« führt Marker dies weiter, indem er Ströme japanischer Menschenmassen unter gigantischen idiosynkratischen Reklametafeln zeigt. Was er zu Beginn der 1980er Jahre dank des jugendlichen Vermittlers Hayao Yameneko begriffen hatte, war, dass alle zukünftigen historischen Darstellungen von Subjektivität auf persönliche elektronische Spiegel reduziert würden, wie diese verspiegelten Brillen, die die Welt einfärben und jede/n für die anderen zu einem Mysterium machen. Gibt es so etwas wie die Politik des endlos mediatisierten urbanen Traums, von dessen Musik der Erzähler in »Sans soleil« erklärte, er habe sie in der Tokioter U-Bahn dechiffriert?

Seit den 1980ern behaupten postmoderne SoziologInnen das Gegenteil. Sie sagen, unser Zeitalter sei das des flüchtigen Lebens, der flüchtigen Liebe, der flüchtigen Zeit.1 Inmitten des Stroms technowissenschaftlicher Veränderung, sagen sie, können unsere Reaktionen auf den Wandel niemals die Konsistenz praktikabler Politik und gemeinsamer ethischer Prinzipien erreichen. Und in einer Sache haben sie recht: Jede Alternative zur postmodernen Norm muss sich mit dem chaotischen Fluss der Veränderung auseinandersetzen – und deren systemischen Gesetzmäßigkeiten.

99, unser 68
Das kommunistische Konzept der Kollektivität hat einen langen Schatten geworfen, über seine AnhängerInnen wie über seine GegnerInnen. Um »ernsthaft nachzudenken«, halten wir auf der Linken immer noch an der Idee der Kategorisierung in Klassen fest, wenngleich diese im allgemeinen Bewusstsein keinen Platz hat. Wir erwarten, dass die vom Neoliberalismus hervorgebrachten Individuen in der Krise automatisch eine kollektive Identität finden bzw. annehmen werden. Bereits vor Jahrzehnten hätte klar sein müssen, dass nicht Individuen sich einem Bewusstseinsmanagement unterworfen haben, sondern dass nur gesellschaftliche Bewegungen, jede einzigartig in ihrer Zeit, Veränderungen in der politischen Subjektivität lancieren können. Und dass in unserem Zeitalter unbarmherziger Überkodierung nur experimentelle Gruppen und eng verwobene Netzwerke diese Veränderungen zu irgendeiner dauerhaften Alternative machen können.

Von dieser Warte aus betrachtet steckt die heutige Gesellschaft voller Brüche. Das Jahr, das zählt, ist das Jahr, welches das eigene Leben verändert hat, das Jahr, in dem man mit der Menge verschmolzen ist und eine Sprache entdeckt hat, eine Reihe von Gesten, eine Art des Argumentierens und Handelns, Formen von Vergnügen, von Sexualität, eine gewisse Art, sich im Freundeskreis zu bewegen, zu arbeiten, sich zusammenzutun. Es ist aber auch das Jahr, in dem man Systeme entdeckt hat, erbarmungslose und tödliche Mächte in großem Umfang, die auf einer starken instrumentellen, juristischen und unangefochtenen Basis operieren. Du willst dich von diesem Kräftekonnex lösen. Du tauchst aus der heterotopischen Menge der Protestierenden auf und versuchst zu kommunizieren, was du begriffen hast – und um dich herum findest du eine ungeheure Palette an Erklärungen, Interpretationen, Aufrufen zu Aktionen und sogar Lifestyles. In solch einem Zustand ambienter Verwirrung wird eine politische Subjektivität geboren.

99 war unser 68. Das lese ich in einem Weblog und vernehme dabei das Echo meiner eigenen Gedanken.2 Im Juni desselben Jahres organisierte Reclaim the Streets den ersten »Karneval gegen das Kapital«, gefolgt von dem Protest in Seattle. Das Jahr hätte aber auch 1997 sein können, als in Spanien das »Zapatista encuentro« abgehalten wurde, oder 1998 mit den ersten globalen Aktionstagen gegen die Welthandelsorganisation. Wieder einmal eröffneten sich Möglichkeiten der Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den militarisierten Bastionen der Konsumgesellschaft des Nordens und anderen Formen des Lebens und Überlebens in Lateinamerika, Afrika, Indien und sogar China: Die Weltkarte wurde neu gezeichnet, ein wenig wie damals, als die Erfindung einer »Dritten Welt« die bipolare Landkarte der Weltordnung des Kalten Krieges in den 1950er Jahren veränderte. Aber die eigentliche Kreuzschraffur der Kontinente war anders. Denn nun war die Weltkarte mit einem mikroskopisch feinen Netz überzogen, und wenn weit entfernte Kämpfe hier eine Bedeutung hatten, dann, weil die eigenen Kämpfe auch in enger Beziehung standen mit weit entfernten Gemeinschaften von Gleichgesinnten, Compañeros, überzeugenden Stimmen, FreundInnen.

Die Experimente mit Netzwerken waren nicht bloß eine Modeerscheinung. Sie boten Zugang zu den persönlichsten Gedanken von Fremden, zu neu erfundenen Austauschritualen, zu Debatten und Dialogen über brennende Themen, zu den Massen auf der Straße und vor allem zu politischer Handlungsmacht. Sie ließen das Gefühl von Großzügigkeit wieder aufleben, eine Geschenkökonomie im großen und molekularen Stil. Durch soziale Bewegungen, die für ExpertInnen und MainstreamsoziologInnen nicht zählen, in Wirklichkeit aber enorm waren, erhielt eine politische Generation wieder die Fähigkeit, sich mit einer beispiellosen geografischen Verlagerung von Kapitalismus auseinanderzusetzen – dessen krisenanfällige Geschäftszyklen und brutalen Ausbrüche von Barbarei sich gerade wieder einmal in ihrer ganzen Pracht zeigen wollten.

Diese neue Generation war erfüllt von einem produktivistischen Geist und sprach in unserer Zeit auf die Experimente der sowjetischen Avantgarden an. Doch hat sich dieser neue Produktivismus im Kontext des »Linguistic Turn« der Wirtschaft entwickelt und muss von daher nicht nur in Bezug auf Werkzeuge und Arbeitsroutinen diskutiert werden, sondern vor allem auch in Bezug auf Kommunikation und Codes.3 Mitte der 1990er Jahre brachte das Aufkommen des Internets als transnationaler öffentlicher Bereich eine buchstäbliche Dekodierung des Spezialwissens von Regierungen, Militärs und Unternehmen mit sich. Die »Black Boxes« der Technologie des Kalten Krieges wurden nach und nach geöffnet und die Betriebscodes der planetaren Kommunikation für das Profane offengelegt.

HackerInnen erweiterten den Dekodierungsprozess unaufhörlich auf alles, was eine digitale Sperre besaß, und brachten damit die Idee offener Kulturen auf den Weg. Das Linux-Projekt durchkreuzte die globalen Spielpläne unternehmerischer Expansion. Als die offenen Medienformate weithin zugänglich wurden, entwickelten sich neue Formen freiwilliger und selbstorganisierter Zusammenschlüsse, um sich ihrer zu bedienen. Kontrollhierarchien, Verbindungsmöglichkeiten, strukturelle Einschränkungen und Standardoptionen wurden allesamt neu kodiert, einmal auf der maschinellen Ebene selbst, aber auch allgemeiner in einer zunehmend transnationalen Gesellschaft. Schließlich explodierte das Internet in einer Zeit plötzlicher Grenzöffnungen und Demokratisierungen. Ausgestattet mit neuen Werkzeugkisten und ohne irgendein Gefühl von Beschränkungen oder festen Regeln kämpften Individuen, Gruppen und Organisationen für einen Neuanfang. Dekodierung und Neukodierung wurden für den gesellschaftlichen Wandel fundamental.

Was wir seit 2000, dem Jahr, in welchem dem Dotcom-Boom die Luft ausging, beobachten – und als intensiven Druck auf das Nervensystem wahrnehmen –, ist eine versuchte Rückkehr zur Ordnung oder eine planetarische Kampagne der Überkodierung, wie Deleuze und Guattari es in »Tausend Plateaus« genannt haben. Die aus der Kritik des linguistischen Strukturalismus hervorgegangene Vorstellung beschreibt die Analyse menschlichen Verhaltens, den Aufbau abstrahierter und regularisierter Modelle, die erdacht wurden, um dieses in bevorzugte Bahnen zu lenken, sowie die Auferlegung dieser Modelle für ganze Bevölkerungen mithilfe von Geräten, Interaktionsroutinen, kollektiven Einrichtungen und gebauter Umwelt.

Ich habe sowohl die Geschichte dieser Idee als auch ihre Relevanz für die derzeitige Situation ausführlich beschrieben.4 Für ein intuitiveres Verständnis des Begriffs Überkodierung muss man nur an die Explosion der Web-2.0-Plattformen in Bezug auf das Drängen zu bestimmten Verhaltensweisen und deren alltägliche Überwachung denken, an die Einrichtung rigoros zurückverfolgbarer Identitäten, die Sicherung des öffentlichen Raumes und die noch finstereren Aspekte gegenwärtiger Militärprogramme – darunter sogenannte »Homeland Security«-Programme. Die planende Gesellschaft, in der wir leben, ist eine Eindämmungsstrategie, die versucht, jene wabernde Wolke aus Emanzipationsbestrebungen zu überschreiben und zu kodifizieren, die sich immer in kapitalistischen Demokratien ausbreitet. Wie missverständlich und verschwommen die vernetzte Existenz grundsätzlich ist, wurde nach 2001 für alle sichtbar. Ihre zutiefst symbolischen und affektiven Strukturen – ihre mächtigsten Fangapparate – sind es, mit denen sich die heutige Generation auseinandersetzen muss, um sich selbst zeitliche Konsistenz zu geben und Antworten auf die Gegenwart zu finden.

Territorium und Experiment
Mir wurde bewusst, was ich tat, als ein Freund zu mir sagte: »Das ist ein Territorium.« Er meinte die Straßenbilder, die Chroniken der globalen Aufstände. Die Erfahrung von mobilem Grund, im Zusammenspiel mit ästhetischen Performances, unterschrieben mit oppositionellen Diskursen und als wuchernde soziale Vereinigung fungierend, die dann an andere Territorien weitergeleitet wird, wo die Frage jedes Mal die Artikulation von vielen im Hinblick auf einen gemeinsamen Horizont ist. Weil nämlich ein Horizont offen ist und einen nicht davor bewahrt zu sehen, wo man sich befindet. Die Kartografie von Potenzialen wurde nicht zufällig zum sinnbildlichen Ausdruck einer rhizomatischen Kultur.

Der Höhepunkt der Ästhetik der Kartografie war für mich die Wiederentdeckung von Félix Guattaris singulärstem Projekt, seinen schizoanalytischen Kartografien.5 Die vier Erfahrungsbereiche, die Guattari hier darlegt, nehmen keine räumliche Kartografisierung vor, stattdessen versuchen sie sich an einem Diagramm überlappender Rhythmen, Bilder, Ideen und Gangarten, die es ermöglichen, dass eine Subjektivität an einem bestimmten Ort Kohärenz erlangt – dem Territorium. Doch neigt genau dieser Rhythmus dazu, den einen Ort, an dem er den Boden berührt, in die Fänge anderer Milieus zu entlassen, anderer möglicher Aktivitäten, die wiederum selbst zu Orten werden können. Solche mobilen »Orte« einzurichten und ihren Möglichkeitshorizont zu erforschen, wird zum Interessantesten, was man tun kann. Es beinhaltet das Herbeizitieren von Metaphern, die Analyse von Tatsachen, das Bereitstellen von Geräten und Eingangspunkten, die Entfesselung eines experimentellen Projekts in der Gesellschaft mit all den Energien und Kapazitäten derer, die sie konstituieren.

KunstaktivistInnen haben diese soziale und maschinelle Kreativität in die unterschiedlichsten Richtungen getragen. Projekte wie Makrolab oder Hackitectura liefern hierfür explizite Beispiele. Aber ich denke auch an die Kernpunkte marginaler und ästhetischer Aktivitäten, die sich überall in der Welt multipliziert haben, von den Sozialforen zu den wildesten anarchistischen Zellen, den Nachbarschaftszentren und KünstlerInnenkooperativen bis hin zu Publishing Groups und Forschungsprojekten. Das sind keine Blaupausen für zukünftige Gesellschaften, sondern territoriale Experimente. In Anlehnung an einen Satz des uruguayischen Soziologen Raúl Zibechi könnte man sagen, in vielen Ländern und auf vielen verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen ähnelt die Entwicklung alternativer Projekte derzeit einer Phase der Latenzzeit und des »crecimiento interior« (= inneres Wachstum).6

Der Verweis auf Zibechis Arbeit über autonome soziale Bewegungen im Argentinien der 1990er Jahre ist von Bedeutung, obgleich ein riesiger Unterschied zu jeglicher Situation in der nördlichen Hemisphäre besteht. Nach einer Zeit der gewaltigen wirtschaftlichen Expansionspolitik, welche die Lebensenergien großer Bevölkerungen zu beeinflussen suchte, sehen sich die BürgerInnen der nördlichen Staaten jetzt mit einer zunehmenden Erosion der Mittelschicht und ihres Status konfrontiert, wie es seit den 1970er Jahren bereits in mehreren aufeinanderfolgenden Wellen in ganz Lateinamerika zu beobachten war. Doch kann das »Prekariat«, gerade weil es die institutionelle Stabilität erschüttert, der Kritik eine Chance auf Anerkennung bieten und Alternativen sinnvoll erscheinen lassen. In Griechenland sind sogar ganz neue Basisbewegungen entstanden, die sich wie Lauffeuer ausbreiten und von entschlossenen AufrührerInnen angeführt werden. Doch weder kann man von allen Ländern so widerstandsfähige soziale Kräfte erwarten, noch verspricht uns die argentinische Erfahrung, dass sich die Weltordnung ändern wird, wenn die Straßen blockiert sind und die Stadt für einen Monat oder zwei stillsteht. Wenn die Bewegung des »crecimiento interior« gerade jetzt so wichtig ist, dann, weil das dringende Bedürfnis besteht, den Boden zu kennen, auf dem man steht, inklusive der Risse, der darin verborgenen Geheimnisse, Rückstauungen und Sackgassen. Die Grenzerfahrung politischer Marginalität besteht darin, sich die Menschen in einer Menge anzuschauen und sich darüber klar zu werden, dass man keine Ahnung hat, was sie tun würden, wenn die Situation plötzlich kritisch würde.

Unter Sphinxen
Das Problem mit überkodierten Gesellschaften ist, dass sie angesichts unserer Fragen nicht verschwinden. In der Kunst wie in der Politik gehen die ernsthaften Diskussionen immer auf die 1960er und 1970er Jahre zurück. Vielleicht müssen unsere Chronologien neu bewertet werden. Vielleicht sind es die Fragen der Gegenwart oder gar der Zukunft, die vergangene Ideen wichtig werden lassen. Um die Maßstäbe der Existenz auf einem nordamerikanischen Territorium zu ergründen, möchte ich jedenfalls mit einer unvollendeten Geschichte schließen, die ich mir von einem zeitgenössischen Videomacher ausgeborgt habe.

MedienaktivistInnen ist Brian Springer durch seine großartige Raubdoku »Spin« (1995) ein Begriff. Damals kaufte er sich eine Satellitenschüssel und einen handelsüblichen Dekoder, der es ihm ermöglichte, Sendungen aus dem aufkommenden privaten Satellitenfernsehen aufzuzeichnen. In den frühen 1990er Jahren hatten sich die großen Nachrichtensender gerade produktionstechnisch vernetzt und schickten Live-Mitschnitte von Interviews und Augenzeugenberichten quer durch das Mikrowellenspektrum. Das durchschnittliche Fernsehpublikum blieb bei den altbewährten Sendern und ignorierte diese unzensierten Frequenzen. Doch Springer gelang es, um die 500 Stunden Nachrichtenrohmaterial aufzuzeichnen, gespickt mit schockierenden Erklärungen, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen waren. Das televisuelle Dekorum wurde von seinen wichtigsten VertreterInnen erschüttert. Es gestattete einem Medienaktivisten, ohne großen finanziellen Aufwand einen eindrucksvollen Dokumentarfilm über die Clinton-Bush-Kampagne von 1992 zu konstruieren, indem es ihm einen Blick zwischen anstatt hinter die Kulissen gewährte. »Spin« wurde zum Maßstab einer Generation taktischer Medienschaffender, die versuchten, das System der Fernsehanstalten und Sender zu öffnen, sowohl um offizielle Manipulationen aufzudecken, als auch um neue Arten informierter Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen.7

Schnellvorlauf zu 2007: Springer brachte in diesem Jahr einen ganz anderen, semi-autobiografischen Film heraus mit dem Titel »The Disappointment: Or, the Force of Credulity« (Die Enttäuschung: oder die Macht der Gutgläubigkeit).8 Seinen Titel verdankt der Film der ersten amerikanischen Balladenoper, entstanden 1767 als Satire über zwei koloniale Marotten: Schatzsuche und Spiritismus. Doch beginnt die 2007er-Version mit der Nahaufnahme einer seltsamen synkretischen Skulptur, einer »Kreatur«, die zugleich Insekt, Reptil, Amphibie und Säugetier ist. Eine zögerliche, weibliche, eindeutig mit dem Computer synthetisierte Stimme mit einem leichten britischen Akzent liest einen Datenbankeintrag zu diesem geheimnisvollen steinernen Artefakt. Dann Wechsel zur ersten Person, und die elektronische Stimme der Kreatur erklärt: »Ich war sehr lange verloren …«

Die hybride Kreatur, Erzählerin ihrer eigenen Legende, stellt uns die Familie Springer vor: die Mutter Doris, den Vater C.W. und die beiden Söhne Larry und Brian. Ihre Geschichte besteht aus der Suche nach dem goldenen Schatz und persönlichen Tagebuch eines spanischen Abenteurers, beide angeblich in den Kalksteinhöhlen unterhalb einer Farm in Missouri vergraben. Aber es gibt noch eine weitere Hauptperson: Kate Austin, eine Freundin von Emma Goldman und eine unbesungene Heldin der amerikanischen Anarchiebewegung, die im späten 19. Jahrhundert auf ebendieser Farm gelebt hat. Ihre persönlichen Papiere verschwanden mit ihrem Tod. Ein Satellitenbild der Landschaft Missouris wird zur Schatzkarte. Ein roter Punkt auf dem Gelände der Austin-Farm verbindet sich mit drei weiteren: der Kalksteinhöhle, einer geheimnisvollen in einen Felsen gehauenen Hieroglyphe und dem Punkt, an dem in den 1880er Jahren die hybride Kreatur gefunden wurde. Damit ist alles da, was es für eine Ausgrabung des nationalen Unbewussten braucht.

Nach und nach entspinnt sich die Geschichte eines ganz normalen Mannes, C.W. Springer, der die Vereinigten Staaten verließ, um in einen der am gründlichsten vergessenen Kriege Amerikas zu ziehen, den »Koreakrieg«. Seine Aufgabe war es, vor den vordersten Linien zu operieren und die extensive Napalmbombardierung zu dirigieren, die Hunderttausende das Leben kostete. Als er aus dem Krieg zurückkehrte, konnte er wochenlang nicht sprechen; doch nach und nach kam er zurück ins Leben und – wie wir von der kühlen, fast ungläubigen elektronischen Erzählstimme erfahren – »stieg auf in die Mittelschicht und kaufte ein Eigenheim im Osten von Kansas«. Jahre später führten Geschichten über einen vergrabenen Schatz C.W. und seine Familie nach Church Hollow in Missouri, wo sich die Austin-Farm befand. Die traumatischen Erinnerungen aus Korea lösten sich mit der Zeit in einer scheinbar endlosen Suche nach dem vergrabenen Gold auf.

Geheimnisvoll wird der Film in der Mitte, wenn automatische Schreib-Seancen von Doris, Springers Mutter, reinszeniert werden. Sie denkt zunächst, ihre Hand sei auf mysteriöse Weise verletzt worden, doch dann wird ihr klar: Was sie damit tun kann und muss, ist, die Tagebücher eines spanischen Priesters nachzuzeichnen, der im Besitz des Goldes eines vergangenen Reiches von Indianern in der Höhle ermordet wurde. Dieses »gelenkte« Tagebuch wird von Springer als »unterdrückte Nacherzählung der Erfahrungen ihres Mannes mit den Gräueln des Krieges« beschrieben. Es wird zur Blaupause einer endlosen, vergeblichen und zunehmend gefährlichen Suche in der Höhle, die der Film auf mehreren Ebenen zu beschwören sucht. Was jedoch nie ans Licht kommt, sind Kate Austins verschwundene Aufzeichnungen: ein möglicher Wegweiser in eine andere Zukunft, außerhalb des Albtraums des imperialen Kriegs und der innerstaatlichen Zwangsenteignung, aus dem nun Millionen von leichtgläubigen AmerikanerInnen mit großen Augen aufzuwachen versuchen.

Um den »Fangapparat« zu definieren, beleuchtet »Tausend Plateaus« zwei gegensätzliche Ideen: den legalistischen Begriff »mutuum«, das Medium des Austauschs, welches freiwillig aufgesetzte und freiwillig aufgelöste Verträge zulässt; und den hierarchischen Begriff »nexum«, der Bund, das soziale Band des Gehorsams und der Unterwerfung. Letzterer ist die symbolische Domäne des »furchterregenden Magier-Herrschers«, der in Georges Dumézils Studien zur indoeuropäischen Mythologie in zahlreichen Gewändern auftaucht. Im letzten Jahrzehnt haben wir in den USA die ernüchternde Rückkehr dieser Figur gesehen; und doch scheint die Annahme, ein grenzenloser Strom gegenseitigen Austauschs stelle die definitive Überwindung der alten territorialisierenden Souveränitätsansprüche dar, jetzt falsch. Letztendlich kennzeichnen die beiden Begriffe die entgegengesetzten Pole einer einzelnen wirtschaftlichen Verbindung, wie Dumézil klarstellt: »Mutuum, eigentlich (aes) mutuum, heißt ›geborgtes Geld‹ oder auch ›borgen‹. Nexum ist der Zustand des nexus, des insolventen Schuldners, der buchstäblich vom Gläubiger gefesselt und unterjocht wird.«9

Springers Film erforscht die gleichen Themen in materieller wie übertragener Form. Der Drang nach Befreiung von der Lohnarbeit (durch vergrabene Schätze, Grund und Boden, den Aktienmarkt …) reißt einen düsteren Morast uralter Schulden auf, wo Gefühle von Versprechung und Verstrickung untrennbar werden. Es gibt entscheidende Hinweise auf einen zukünftigen kulturellen Aktivismus, der sich nicht nur mit fortschrittlichen technologischen Kommunikationsmethoden, sondern auch mit undurchsichtigeren menschlichen Motivationen wird auseinandersetzen müssen sowie mit der Archäologie einer Wirtschaftsordnung, die in einer Unzahl jener Löcher, blinden Tunnels und Scheinarchitekturen zu kollabieren droht, die ihre eigentliche Grundlage bilden. »The Disappointment« erschließt eine eindrucksvolle Untergrundader – die Art, die vor begrabenem Leben pulsiert und die man nur auf eigene Gefahr ganz tief unten abbauen kann.

In seinen »Cartographies schizoanalytiques« assoziiert Guattari das Territorium nicht nur mit der Offenheit für Deterritorialisierung, sondern auch mit der Gefahr eines »schwarzen Lochs«: dem Verlust des Außen, der Unfähigkeit zu denken, zu fühlen, irgendetwas anderes zu sehen als eine nahe Umgebung, die uns so nahe gekommen ist, dass sie mit der eigenen Haut verschmilzt. Gruppen, die auf territorialer Ebene experimentell arbeiten und sich mit der Ästhetik des Alltags auseinandersetzen, versuchen einen Horizont zu öffnen, nachdem sie die allgemein bekannten Fallgruben, in denen die Sprachen der Macht in ganzen Generationen verwurzelt werden, erkannt und erforscht haben. In den industriellen Demokratien bleiben die Verbindungen zwischen fordistischer Massenproduktion, Konsumwünschen und entlegenen Kriegen – abgesichert durch kolonialen Rassismus – die Grundpfeiler einer symbolischen Politik, die in unserer Zeit durch einen komplexen und dennoch brutalen finanziellen Nexus überkodiert wird. Unter Druck wird jedes Land zum Enigma, das danach schreit, entziffert zu werden. Auf dieser Ebene der gesellschaftlichen Lähmung ein mobiles Territorium zu öffnen, kommt einem Bruch des psychischen Dekors gleich, der einer verunsicherten Menschenmenge im Moment höchster Anspannung einen Ausweg bietet.

Inmitten der Industrieruinen des mittleren Westens stellt die feministische Anarchie von Emma Goldmans unbekannter ländlicher Freundin ein Diagramm von noch ungenutzten Möglichkeiten dar, ein freies Rhizom. Indem sie seinen gedachten und erwünschten Pfaden folgte, gelangte die Erzählerin, eine lokale Sphinx mit einer elektronisch eingefrorenen Stimme, ans Tageslicht und konnte mit den anderen reden.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Siehe Zygmunt Baumans Arbeiten zu diesen Themen, beginnend mit Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003.
2 Vgl. Karl Palmås, »99, our 68«, http://www.isk-gbg.org/99our68/?page_id=37
3 Vgl. meine Schlussfolgerungen zur Konferenz »The New Productivisms«, 27. bis 28. März 2009, im Audioarchiv des Museums für Zeitgenössische Kunst in Barcelona (MacBa): http://tinyurl.com/new-productivisms .
4 Vgl. die Essays im Abschnitt »Dark Crystals« meines Buchs Escape the Overcode: Activist Art in the Control Society. Zagreb/Eindhoven, angekündigt für 2009, einzusehen unter: http://brianholmes.wordpress.com/2008/02/02/book-materials/ .
5 Vgl. Félix Guattari, Cartographies schizoanalytiques. Paris 1989.
6 Vgl. Raúl Zibechi, Genealogía de la revuelta. La Plata 2003.
7 »Spin« wird über die Illegal-Art-Website vertrieben, http://www.illegal-art.org/video/index.html .
8 »The Disappointment« wird vertrieben von Video Data Bank, Chicago, http://www.vdb.org .
9 Vgl. Georges Dumézil, Mitra-Varuna: An Essay on Two Indo-European Representations of Sovereignty. New York 1988, S. 99.