Heft 3/2009 - Escape Routes


Grenzen der Immunität

Ein Dialog mit dem Philosophen Roberto Esposito über die Möglichkeit einer globalen Gemeinschaft

Krystian Woznicki


Für den vorliegenden Dialog mit Roberto Esposito begab ich mich im Sommer 2008 nach Neapel. In dieser Stadt wurde er 1950 geboren, hier arbeitet er heute als Professor für Philosophie und politische Wissenschaften sowie als Kodirektor der Zeitschrift »Filosofia Politica« und Mitarbeiter der politischen Zeitschrift »Micromega«. Hier schreibt er Bücher, die von Suchbewegungen getragen werden, welche die Konstitution von Sozialität auf ihre neuzeitlichen Gründungsmomente zurückführen. In den Bauplänen für die inzwischen ruinösen Gebäude der Moderne versucht Esposito Prinzipien und Ideen herauszulesen, welche sich für eine Zukunft im Zeichen der Öffnung, der Affirmation und der Erneuerung starkmachen lassen. Diese Prinzipien verdichten sich in den Titeln seiner internationales Aufsehen erregenden Trilogie: »Communitas« (1998), »Immunitas« (2002) und »Bíos« (2004) – Espositos Begriffe für die Neubestimmung von Gemeinschaft, Immunität und Leben.
Auf Augenhöhe mit Giorgio Agamben, Peter Sloterdijk und Jean-Luc Nancy entwickelt er darin einen Diskurs, der sich aus den jeweils nationalen Vereinnahmungen des Denkens befreit. Damit löst er sich nicht zuletzt aus handlichen Containerisierungen wie »Italian Philosophy«, »German Philosophy« und »French Philosophy« heraus, um einem sprichwörtlichen »Denken von Welt« stattzugeben. Dieses Denken hat die Welt auf unterschiedliche Weise in sich aufgenommen, nicht zuletzt beflügelt von den Chancen, Risiken und Nebenwirkungen einer internationalen Rezeption. Zuletzt sind seine Schriften in den einflussreichen Universitätsverlagen der US-Städte Minnesota und Stanford in englischer Sprache herausgebracht worden, was das weltweite Echo künftig um ein Vielfaches potenzieren dürfte – befeuert von Michael Hardt und Toni Negri, den Autoren des Theoriebestsellers »Empire«, die Ende vergangenen Jahres die englischsprachige Übersetzung des dritten Teils besagter Trilogie in den USA lancieren halfen. Bereits heute ist die Rezeption Espositos breit gefächert: Ob das US-amerikanische Theoriejournal »Diacritics« (das seiner Arbeit eine Sonderausgabe widmete), das britische Medienkritik-Zine »Mute« (das kürzlich eines seiner Bücher mit einer 25.000 Zeichen langen Rezension würdigte) oder das digitale Minifeuilleton »Berliner Gazette« (das im Juni bei einem interdisziplinären Symposium in Berlin die maritime Dimension seines Denkens der Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte) – Medien diverser Sparten stellen Anschlüsse zu den verschiedensten Diskussionen her. Kürzlich erschien die Anthologie »Impersonale«, in der sich DenkerInnen aus Italien, Frankreich und USA mit Espositos theoretischen Beiträgen auseinandersetzen.

Krystian Woznicki: In Ihrer Trilogie »Communitas«, »Immunitas« und »Bíos« entwickeln Sie eine neue konzeptuelle Sprache, welche dabei helfen soll, die globale Krise der Immunität zu begreifen und zu überwinden. Könnten Sie möglichst bündig erklären, was das für eine Krise ist?

Roberto Esposito: Die »Krise der Immunität« ist ein Ausdruck, den ich mit einem impliziten Hinweis auf das von René Girard verwendete Konzept der Opferkrise benutze. Für Girard entsteht eine Opferkrise dann, wenn die Gewalt, die bis zu einem bestimmten Moment auf ein designiertes Opfer konzentriert war, um die Gesellschaft als Ganzes zu schützen – wenn diese Gewalt die Grenzen, welche das Opfer isolieren, zerstört und sich schnell auf allen sozialen Ebenen verbreitet. Das Blut spritzt also auf das ganze Bild und droht es zu überfluten. Auch im Fall des Immunisierungsprozesses gibt es einen Moment, in dem die Vorrichtungen des sozialen Schutzes, basierend auf der Reduktion und manchmal auch auf dem Ausschluss eines Lebensbereiches, sich am Ende gegen sich selbst richten und folglich auch gegen die Gesellschaft, die sie konstituieren. In der modernen Welt haben wir viele dieser Momente erlebt, sukzessiv überholt von einer unbestimmten Anzahl von Opfern – man denke an die großen ökonomischen oder ökologischen Krisen. Auf der biopolitischen Ebene haben sich die vernichtendsten Immunitätskrisen in Zusammenhang mit dem Schutz der Rassen herausgebildet. Der Nationalsozialismus, der – als Rassenverteidigung des deutschen Volkes angedacht – sich an einem gewissen Punkt in einen entsetzlichen Mechanismus der Selbstzerstörung verwandelt hat, bildet diesbezüglich das eklatanteste Resultat dieser Krise, aber sicherlich nicht das einzige. Die Weltlage nach dem 11. September, die sich freilich schon viel früher zugespitzt hat, lässt die konkrete Möglichkeit einer globalen Immunitätskrise offen zutage treten. Es ist, als sei das Immunitätssystem, welches, auf dem Gleichgewicht des atomaren Terrors basierend, nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde – als sei dieses Immunitätssystem zerstört und als sei die Welt in einen gigantischen autoimmunitären Wirbel geraten, aus dem sie sich noch nicht befreien konnte.

Eine autoimmunitäre Krise im Weltmaßstab

Woznicki: In »Bíos« beginnt Ihre Skizze der globalen autoimmunitären Krise mit Nahaufnahmen von Orten in Frankreich, Afghanistan, Russland, China und Ruanda, an denen sich die Symptome auf jeweils unterschiedliche Weise verdichten. Insbesondere im Hinblick auf die globale Dimension Ihrer Bestandsaufnahme scheint mir, dass die Medien in diesem Kontext eine dialektische Rolle spielen und deshalb mit einer dialektischen Frage problematisiert werden sollten: In welchem Maße ist Ihre Bestandsaufnahme der globalen autoimmunitären Krise ein Produkt der globalen Medien (CNN etc.)?

Esposito: Tatsächlich habe ich in »Bíos« einige Orte weltweit ausgesucht, die sich, wegen eines biopolitischen Regimes, das immer riskiert, sich thanatos-politisch zu gebärden und dasselbe Leben zu zerstören, welches es eigentlich fördern und beschützen will, in einem akuten Notfall befinden. Es handelt sich um einen Widerspruch, der von Michel Foucault festgestellt, aber nicht tief genug analysiert wurde. Einen Widerspruch, den ich auf die konstitutive Antinomie des immunitären Apparates zurückführe, welcher gleichzeitig schützend und potenziell autodestruktiv ist. Die Rolle, die in dieser weltweiten Ausdehnung des biopolitischen Widerspruchs die Medien spielen, ist janusköpfig. Auf der einen Seite heben sie die Sachlage hervor, weil sie sie in Echtzeit beschreiben. In jedem Winkel der Welt wissen wir, was in genau diesem Moment überall passiert. Auf der anderen Seite können die Massenmedien diese globale Dynamik, von der sie selbst ein entscheidender Teil sind, nicht nur beschreiben, sondern unmittelbar hervorbringen. Zunächst, weil die Massenmedien – speziell die elektronischen – dem Ansturm von Viren ausgesetzt sind und folglich über eine immer größer werdende Zahl von Antivirenprogrammen verfügen. Das bedeutet, dass sie sich vor sich selber schützen, genauer gesagt: vor einer Ansteckung, die sie selbst erzeugt haben, was bis zu einem Punkt gehen kann, an dem das gesamte System implodiert. Zweitens, wie schon Niklas Luhmann erläutert hat, in einer Welt, in der es keinen Unterschied mehr zwischen intern und extern, draußen und drinnen, Teil und Ganzem gibt – in einer solchen Welt gilt: Je mehr die Kommunikation zunimmt, desto mehr erzeugt sie Immunisierung und umgekehrt. Kommunikation macht nichts anderes, als die eigene Immunisierung zu kommunizieren und Immunisierung reproduziert Kommunikation.

Woznicki: Ihre Diagnose fußt auf der weitverbreiteten Annahme, dass die Welt, die wir heute bewohnen, eine durch und durch globalisierte Welt ist: eine Welt ohne außen und deshalb eine Welt, in der es keinen Raum gibt, der noch nicht in das kapitalistische Weltsystem samt seiner inhärenten Machtlogik integriert ist. Diese Entwicklung, die aus der Welt einen Ort macht, an dem »das Innen mit dem Außen in eins fällt, sowie das Konkave mit dem Konvexen, und alles mit Nichts«, wie Sie an einer Stelle sagen – diese Entwicklung erreicht auch in Ihrer Analyse den vielleicht entscheidenden Kipppunkt im Zuge der Implosion des sowjetischen Kommunismus und der sukzessiven Auflösung von Unterscheidungen zwischen privat und öffentlich, staatlich und gesellschaftlich, global und lokal. Wenn diese Implosion mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine vermeintlich geeintere und vollständiger globalisierte Welt hervorgebracht hat, müssen wir nach den terroristischen Attacken vom 11. September 2001 nicht in Rechnung stellen, dass sowohl ein sogenannter arabischer Block als auch neue Grenzen in einer vermeintlich grenzenlosen Welt entstanden sind? Und haben diese Konsequenzen nicht wiederum Räume hervorgebracht, die die Eigenschaft und Funktion des einstigen Außen neu besetzten?

Esposito: Mit dieser Frage treffen Sie einen entscheidenden Punkt: die Präsenz und die Rolle des Negativen in der aktuellen Weltlage. Die gesamte »Maschine der Modernität« wird von der Präsenz des Negativen in Gang gesetzt, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in unübertrefflicher Weise gezeigt hat. Nur durch den Gegensatz und den Kampf kann das moderne Subjekt auf die Höhe des Konzepts gelangen. Dabei gelangt es von einer partikularen Perspektive zu einer potenziell universellen. Dasselbe begründet Karl Marx in seiner Diagnose sowie auch Prognose mit der Potenz des Negativen. Nicht zufällig verbindet Alexandre Kojève seine eigene Theorie vom Ende der Geschichte mit der Erschöpfung des gesamten Negativen in einer Weltordnung, in der die Präsenz des Konflikts stufenweise ausgelöscht wird. Das besagte Ende, die Implosion des sowjetischen Systems, hat für einen Moment den Eindruck erweckt, dass diese Vorhersage in irgendeiner Weise begründet gewesen ist. Nämlich, dass es gegenüber dem Westen – das heißt gegenüber unseren kapitalistischen Systemen – keine geschichtlich relevante Opposition gegeben habe. Aus einer gewissen Perspektive betrachtet, waren solche Analysen richtig, zur gleichen Zeit aber auch falsch, wie mit dem Auftauchen des islamistischen Terrors deutlich wurde. Sicher, das aggressive Auftreten des islamischen Fundamentalismus zerstreut das Trugbild oder den Albtraum einer geeinten Welt, die in sich selbst vollständig aufgelöst und ohne innere Konfliktgrenzen ist, gewissermaßen zum Beweis, dass das Negative als solches nicht entfernbar ist – in einem gewissem Umfeld neutralisiert, explodiert es in einem anderen, wie schon Carl Schmitt in den 1920er Jahren des vergangenen Jahrhunderts behauptet hat. Aber von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, den man zusammen mit dem ersten sehen muss, zeigt sich der islamistische Terror auch im Inneren einer politischen Semantik, Technologie und Medienwirksamkeit der westlichen Welt, die sich gegen ihn aufgestellt hat. Man kann dies ziemlich genau aus der Dynamik des Angriffs auf die Zwillingstürme ableiten. Dieser Angriff wurde mit den Mitteln und Mechanismen des Westens durchgeführt. Kurz und gut, das Wiederauferstehen des Negativen negiert nicht, sondern kompliziert eher die globale Logik, in der die gegenwärtige Welt gefangen ist.

Woznicki: Um Ihre Diagnose von der globalen autoimmunitären Krise weiter zu befragen, scheint es mir notwendig, jene Verschiebung zu betrachten, die auf der Ebene der Macht ausgemacht wird. Es handelt sich dabei um eine Verschiebung, die den Machtbegriff betrifft, welcher Ihrer Konzeption von Immunität und Gemeinschaft zugrunde liegt: die Verschiebung von Territorium zum Bürger, beziehungsweise von der Erde zum Fleisch beziehungsweise Körper. Wenn das moderne immunitäre Paradigma auf dieser Verschiebung basiert und wenn es in zunehmendem Maße in sich zusammenfällt, und zwar in einer Abfolge von selbstzerstörerischen Episoden, dann frage ich mich, welche Rolle Sie der Rückkehr der Geopolitik zuschreiben, beziehungsweise der Rückkehr des Territoriums nach dem 11. September 2001? Eine Rückkehr, für welche die zunehmende Aufmerksamkeit gegenüber natürlichen Ressourcen ebenso symptomatisch ist wie die Umwertung New Yorks – vorher primär ein Knotenpunkt in einem globalen Netzwerk von finanziellen Strömen und anderen zeitbasierten Transaktionen, danach wieder stärker eingebettet in die politischen, ökonomischen und nicht zuletzt territorialen Diagramme des Nationalen.

Esposito: Es stimmt, dass das immunitäre Paradigma bis zu einem gewissen Punkt mit Foucaults Analyse von einem hebräisch-christlichen pastoralen Regime korrespondiert. Anders als in der traditionellen souveränen Gesellschaftsordnung zählen nicht so sehr der Besitz und die Nutzbarmachung eines Territoriums, sondern der Schutz und zugleich die Kontrolle des Hirten über seine eigene Herde. Von hier, von diesem produktiven Knotenpunkt zwischen Sorge und Folgsamkeit, verlagert sich der Blick der Macht erst auf die Seelen der Untertanen und dann auf die Körper an sich. Die Reise von der Erde zum Körper beschreibt symbolisch diese Verlagerung des Paradigmas vom Herrschermodell zu dem, was ich eben als »biopolitisch« definiert habe. Offensichtlich bezieht sich auch die Semantik der Immunisierung, der biologischen Abstammung nicht nur auf ein juristisch ähnliches analytisches Bild. Jedenfalls lässt sich das, was ich eben als Übergang definiert habe – von der Staatsgewalt zur Biopolitik oder zur Immunität –, fast als Widerspruch oder besser wie eine antinomische Mitanwesenheit beschreiben. Schon Foucault unterstrich, dass mit dem Anbruch des biopolitischen Regimes keinesfalls das Souveräne vollständig vergeht. Vielmehr verändert es sich: Der Herrscher, so kann man sagen, ist nicht der, der die Gesetze macht, sondern der, der sie unwirksam macht, indem er sich eine Lücke zwischen den Gesetzen zunutze macht. Was mich anbetrifft, zeige ich in »Bíos«, wie das Konzept der Biopolitik zusammen mit dem Konzept der Geopolitik entstanden ist. Um die Komplementarität der beiden Konzepte zu beweisen, ziehe ich denjenigen heran, der wahrscheinlich als Erster den Begriff Biopolitik gebraucht hat: den Schweden Rudolph Kjellen, Autor eines Buchs über den »Staat als Lebensform« sowie Erfinder des Begriffs »Geopolitik«. Insofern überrascht es nicht, dass die gegenwärtige weltweite Entfaltung des biopolitischen Regimes ein relatives Wiederaufleben des territorialen Konflikts als immunitäre Reaktion hervorruft. Der Rest ist bekannt und unter anderem Jacques Derridas letzten Werken zu entnehmen.

In Richtung einer globalen Gemeinschaft

Woznicki: Die weltweite autoimmunitäre Krise geht auf einen immunitären Apparat zurück, dessen negative Logik der Selbsterhaltung in eine tödliche Logik der Selbstauslöschung zu schnappen droht. Vor diesem Hintergrund argumentieren Sie, dass eine Verschiebung bzw. Umkehrung dieser Logik notwendig sei, um die Lage zu entschärfen. Eine Umkehrung, im Zuge derer aus den Ruinen des immunitären Apparates die Konturen einer Gemeinschaft sich herausschälen, welche eben nicht auf der Negation ihrer vitalsten Elemente bzw. auf der Negation von Vitalität im Allgemeinen fußt. In diesem Kontext erarbeiten Sie den vielleicht weitreichendsten Aspekt der Interdependenz von Immunität und Gemeinschaft: Gemeinschaft konstituiere sich nicht jenseits der Logiken und Mechanismen der Immunität, gleichwohl funktioniere Immunität nicht außerhalb der Logiken und Mechanismen der Gemeinschaft. Vor diesem konzeptuellen Hintergrund scheint es nur zu logisch, dass aus einem dysfunktionalen immunitären Apparat eine neue Form von Gemeinschaft hervorgehen kann. Was aber ist die genaue Rolle von Negation und Affirmation, Negativ und Positiv im Falle dieser Gemeinschaft in spe?

Esposito: Was Sie sagen, ist sehr wichtig, um meine Gedanken in diesem Zusammenhang zu präzisieren. »Comunità« und »Immunità« können nicht als zwei unabhängige und gegensätzliche Kategorien und – noch weniger – als zwei separate Wirklichkeiten verstanden werden. Vielmehr sind beide die jeweilige Kehrseite ein und derselben Medaille, in dem Sinn, dass sie zwei spiegelbildlich umgekehrte Modalitäten definieren, die sich – dies zeigt uns jedenfalls die Etymologie: Beide Begriffe gehen auf den lateinischen Terminus »munus« zurück – auf unseren gemeinsamen »Munus« beziehen, das heißt, auf unsere eigene Existenz. Schon Georges Bataille meinte, dass jedes menschliche Wesen mit einem doppelten Anspruch geboren wird – dem immunitären und dem gemeinschaftlichen. Der immunitäre Anspruch impliziert, dass individuelle Grenzen gezogen und entsprechend des Selbsterhaltungstriebs verteidigt werden. Der gemeinschaftliche Anspruch tendiert hingegen dazu, eben diese Grenzen zugunsten von ekstatischen Momenten der Ansteckung und Kommunikation mit anderen zu zersetzen und aufzulösen. Auf einer anderen, allgemeineren Ebene bedeutet diese unvermeidliche Verstrickung von »comune« und »immune«, dass keine menschliche Gemeinschaft ohne irgendein immunitäres System überleben kann, welches in der Lage ist, sie zu verteidigen, nicht nur vor externen Angriffen, sondern auch vor ihrer eigenen Tendenz zur Selbstenteignung. Und es bedeutet eben auch, dass sich das immunitäre Verfahren immer auf eine Gemeinschaft bezieht. Aber nicht nur: Wenn man über eine hyperdefensive oder aggressive Logik hinausdenkt, kann sie selber gemeinschaftliche Ergebnisse hervorbringen. Es reicht, um ein eloquentes Beispiel zu geben, an die selbstbeschneidenden Mechanismen unserer immunitären Systeme zu denken, welche durch einen als »immunitäre Toleranz« definierten Mechanismus Organtransplantationen und Schwangerschaften ermöglichen. Auf dieselbe Art und Weise kann eine neue Form der Gemeinschaft hergestellt oder zumindest imaginiert werden, und zwar nicht in einem absoluten Gegensatz zur immunitären Logik, sondern aus ihrem eigenen Inneren heraus. Zu diesem Zweck reicht kein einfaches Reformverfahren der soziopolitischen Institutionen. Man braucht vielmehr eine radikale Veränderung von großen Teilen der gegenwärtig gebräuchlichen politischen und philosophischen Kategorien.

Woznicki: Der postkommunitäre Intellektuelle Benjamin Barber behauptet, die globale Gemeinschaft der Gegenwart sei in einem »Imperium der Angst« eingebettet. Auch in Ihrer Arbeit spielen die Rhetoriken der Angst eine fundamentale Rolle. Ihre Befürwortung eines affirmativen immunitären Apparates erhebt jedoch einen gezwungenermaßen unkonventionalen Anspruch: Freundschaft mit dem Feind und Bejahung von Risiko als die konstitutiven Faktoren der Gemeinschaft – Friedrich Nietzsches dionysische Philosophie dient in diesem Zusammenhang als wohl wichtigster Bezugspunkt. Diesen philosophischen Anspruch auf die Bühne der globalen Politik zurückübersetzen zu wollen, scheint jedoch ein aussichtsloses Unterfangen. Wir sind weit davon entfernt, einem affirmativen immunitären Apparat stattzugeben, welcher der Gemeinschaft eine neue Zukunft ermöglichen könnte. Was also sind die konkreten Möglichkeiten einer künftigen Gemeinschaft, welche Risiko jenseits der negativen Logik des autoimmunitären Apparates affirmiert?

Esposito: Es gibt keinen Zweifel, dass das primäre Element, welches heute die westlichen Gesellschaften in einem einzigen semantischen Horizont verbindet, die Angst ist. Nicht zufällig spielt sie bei der Geburt der modernen politischen Philosophie eine zentrale Rolle: Ohne die Angst vor einem gewalttätigen Tod hätten die Menschen laut Thomas Hobbes nie das Bedürfnis nach der Bildung einer zivilen Gesellschaft und noch weniger nach der Gründung eines politischen Staates verspürt. Diese Logik, die explizit oder implizit den Hintergrund des gesamten modernen politischen Denkens bildet, erwächst aus der Idee, dass die Ressourcen, die die Menschen anstreben, von der Nahrung über das Prestige bis zum Sex, quantitativ minderwertig sind, im Vergleich zu ihren Bedürfnissen und folglich einen Konflikt verursachen bezüglich ihrer Aufteilung. Nur wenige Denker drehen derartige Entwürfe um. Nietzsche oder Bataille etwa stellen sich einen Überfluss der energetischen Ressourcen vor und sehen folglich die dionysische Notwendigkeit oder jedenfalls die dionysische Möglichkeit ihrer Verschwendung. In diesem Fall ist offenkundig, dass die Angst um die Erhaltung des Lebens und der Güter vor dem »Willen zur Macht« bei Nietzsche oder vor dem »Willen des Verlusts« bei Bataille zurückweicht. Ich weiß nicht, wie diese Philosophien des energetischen Überschusses und des dionysischen Wahnsinns heute einen Bezug zu einer affirmativen Gemeinschaft bilden könnten. Wie ich schon gesagt habe: Keine Gesellschaft kann die anderen und sich selbst ohne irgendeine Variante des immunitären Apparates überleben. Anstatt ihn abzuschaffen oder ihn in sein unmittelbares Gegenteil umzukehren, sollte es darum gehen, innerhalb der Dialektik zwischen Gemeinschaft und Immunität zu arbeiten, um etwas zu erhalten, das in Wirklichkeit nicht nur noch nie stattgefunden hat, sondern auch noch nicht einmal gründlich durchdacht wurde. Ich denke, dass die zeitgenössische Philosophie auf die Notwendigkeit hinweisen muss, worin die einzige Möglichkeit besteht, dem immer selbstzerstörerischeren Auftreten der zukünftigen immunitären Krisen zu entgehen.

Woznicki: In Ihrer Analyse taucht die Figur des lebenden Toten auf, und zwar als Erinnerung an die Begrenzungen, welche herkömmliche Vorstellungen von Gemeinschaft prägen. Mit einer Lektüre von Bram Stokers »Dracula« (1897) stellen Sie einen Zusammenhang zwischen der Welt des »Nicht«, also jenen, die nicht länger am Leben sind, und der Welt der ausgeschlossenen Juden her, welche ungefähr ein halbes Jahrhundert nach Stokers Roman mit dem gelben Stern als sprichwörtlich lebende Tote stigmatisiert wurden. Die Figur des lebenden Toten führt auf ganz andere Weise vor Augen, was die gemäß einer negativen Logik immunisierte Gemeinschaft an ihrem Grund unterdrückt – und führt in diesem Sinn vor, was die Gemeinschaft konstituiert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint die schiere Popularität von Zombie-Filmen wie »I Am Legend« (2007), »Diary of the Dead« (2007) und »Otto or Up With Dead People« (2008) die Validität und das Potenzial dieser Metapher infrage zu stellen – nicht zuletzt, weil sich damit zeigt, dass diese Metapher in die apokalyptische Logik des Kapitalismus längst integriert ist. Würden Sie dem zustimmen? Und: In welchen politischen und sozialen Kontexten könnte die Metapher des lebenden Toten reaktiviert werden, um einer künftigen Gemeinschaft konkrete Konturen zu geben?

Esposito: Ich bin mit dem, was Sie sagen, einverstanden. Die Kinofilme sowie der Roman Bram Stokers beschreiben eine janusköpfige Sachlage: Während sich die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Komplexität um ein Prinzip der Ausnahme bzw. des Ausschlusses strukturiert, kann sie in ihrem eigenen Inneren einige Personengruppen einschließen und andere nur ausschließen in einer Art, die nicht unbedingt die gewaltsame Unterdrückung, zum Beispiel im Falle des Nationalsozialismus, sein muss, sondern sie kann auch die Entbehrung des Vermögens und der Grundrechte sein. Walter Benjamin sagt: Das menschliche Leben kann auf eine Nacktheit reduziert werden, die an den Tod grenzt. Die moderne und zeitgenössische Geschichte ist voll von Situationen dieser Art. Aber den Bezug zum lebendigen Tod oder zum bereits toten Leben kann man auch in einem anderen Sinn verwenden bzw. als Modalität verstehen, in der Ereignisse der Vergangenheit, die manchmal für überholt gehalten werden, zurückkehren, um in der Gegenwart wie Schatten des Todes zum Vorschein zu kommen. Man denke diesbezüglich an die Rückkehr der militärischen Herrschaft innerhalb eines biopolitischen Regimes, das die Gesellschaft überwunden zu haben schien. Oder an die Wiederaufnahme der territorialen Logik, auf die Sie selbst verwiesen haben, und an die Forderung der lokalen Identitäten im Inneren einer globalen Welt, welche den Anschein erweckt, als hätte sie all dies hinter sich gelassen. Und es zeichnet sich nicht selten auch die Rückkehr der Religiosität ab, wenn der Tod für sich und die anderen predigt und praktiziert, wie ein Geist der theologischen Politik, von dem die moderne Säkularisierung dachte, sie hätte ihn überwunden. Heute lebt das Zeitgenössische mit archaischen Elementen gespenstischer Natur zusammen. Wie sollen sie in die Vergangenheit zurückgeschickt werden? Wie sollen wir uns von den Gespenstern befreien, die unser Leben bevölkern? Wie kann man sich eine zukünftige Gemeinschaft vorstellen, in der sich das Leben schließlich gegen sein Gegenteil durchsetzt? Ich persönlich denke, dass es einerseits darum geht, alle modernen politischen Kategorien, so wie sie bis jetzt festgelegt wurden, zu dekonstruieren. Und andererseits darum, die Gemeinschaft nicht mehr in Begriffen der Identität zu denken, sondern in Begriffen des Unterschieds, welche die Konzepte des Unpersönlichen und Singulären mit beinhalten. Das ist der Grund, warum ich mich bemüht habe, mein letztes Buch in der dritten Person zu schreiben. Nur ein langer und kollektiver Einsatz kann zu konkreten Ergebnissen führen.

Der Autor dankt Georgine Schmiech für Übersetzungen aus dem Italienischen.

 

 

Literatur:

Roberto Esposito, Communitas. Origine e destino della comunità. Turin: Einaudi 1998 (Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Zürich: Diaphanes 2004; Communitas. The Origin and Destiny of Community. Palo Alto: Stanford University Press 2009).
Roberto Esposito, Immunitas. Protezione e negazione della vita. Turin: Einaudi 1998 (Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Zürich: Diaphanes 2004).
Roberto Esposito, Bíos. Biopolitica e filosofia. Turin: Einaudi 2004 (Bios. Biopolitics and Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota Press 2008).
Roberto Esposito, Termini della Politica. Comunità, Immunità, Biopolitica. Mailand: Mimesis Edizioni 2008.