Heft 4/2009 - Netzteil


Die Fäden neu verknüpfen

Die global vernetzten Projekte des angolanischen Musikers Victor Gama

Dietrich Heißenbüttel


Victor Gama bezeichnet sich selbst als Komponist. Allerdings versteht Gama Komposition etwas anders als seine europäischen KollegInnen. Komposition beginnt für ihn mit der Erfindung des Instruments. Gama hat zehn Jahre lang in Portugal als Ingenieur gearbeitet und 1991 begonnen, mittels avancierter Technologien eine ganze Reihe einzigartiger Instrumente zu entwickeln. Sie heißen Totem Harp (Toha), Espiralofone, Aneis vibrantes oder Cruzeiro do sul, ihre Form ist durch 3D-Modellierung am Bildschirm entstanden, und sie sind mit Hightechtools wie computergesteuerten Werkzeugmaschinen (CAD/CNC) und Laserschneidern hergestellt.1 Doch die Musik, für die sie gebaut sind, findet ihre nächsten Anknüpfungspunkte in der alten angolanisch-kongolesischen Tradition.
»Einer der ersten Eindrücke, an die ich mich als Kind erinnere«, erzählt Gama, der als Sohn portugiesischer Eltern in Angola zur Welt kam, »war ein alter Musiker am Strand von Luanda, der Ungu spielte, den alten Musikbogen, auf den der Berimbau zurückgeht. Der Klang des Ungu und die Musik des alten Mannes waren wie ein erstes Erwachen, das mich weit forttrug. Das wiederholte Schlagen mit dem Stock auf die eine Saite, mit einem Finger plötzlich unterbrochen und wieder freigegeben, und die Öffnung der Kalebasse am Bauch des Musikers erzeugten eine magische, hypnotisierende Klanglandschaft. Ich lief neben ihm her, so weit ich konnte, und diese Begegnungen waren vermutlich meine erste Lektion in Musik.«

Gama wuchs mit traditioneller Musik auf, mit städtischem Semba, Sungura, Kilapanga und Kizomba, aber auch mit brasilianischer Musik von Gilberto Gil und Elis Regina bis hin zu Egberto Gismonti und Nana Vasconcelos sowie schließlich auch mit Rock’n’Roll, Blues und Jazz. »Ich habe immer Musik gemacht«, bekennt der Komponist, der parallel zu seinem Studium als Elektronikingenieur Anfang der 1980er-Jahre in Lissabon nebenher Musik studierte. Im Verlauf der 1990er-Jahre gab er seine Ingenieurstätigkeit auf, um sich ganz musikalischen Ideen zu widmen: »So begann ein Konzept Form anzunehmen, das darin bestand, Design und Konstruktion der Instrumente in den Prozess des Komponierens einzubeziehen.«
Theorie und Praxis, lokale Herkunft und globale Vernetzungen sind in diesem Prozess nicht voneinander zu trennen. Ein wichtiger Schritt war 1997 eine Reise nach Cuito Cuanavale im Süden des Landes, wo es zehn Jahre zuvor zur letzten großen Entscheidungsschlacht zwischen den angolanisch-kubanischen Streitkräften auf der einen und Südafrika auf der anderen Seite gekommen war. Mit einem mobilen Aufnahme-Equipment begann Gama, ein Archiv der lokalen Musik dieser gebeutelten Region anzulegen. Er gab eine CD heraus und bot so auch den Musikern, die er als gleichberechtigte Komponistenkollegen betrachtet, ein Vehikel, ihre Anliegen zu artikulieren. Und er lernte auf dieser Reise, an der Künstler wie Fernando Alvim, Carlos Gracaioa und Gavin Younge teilnahmen, den kubanischen Kunsthistoriker Barbaro Martinez-Ruiz kennen, der seine Philosophie maßgeblich geprägt hat.2

Gamas Musiktheorie basiert, nach einem alten Notationssystem der Kongo-Region, auf den sogenannten Dikenga-Kosmogrammen: einem komprimierten Weltmodell, das den Kreislauf der Lebensenergie, N’kizi, bezeichnet. Es handelt sich also genau genommen weder um eine »Schrift« im engeren Sinne noch um eine rein funktionale, lineare Musiknotation wie in der europäischen Tradition, wo die fünf Notenlinien die Zeitachse symbolisieren. Vielmehr verlaufen die Linien im Kreis, und das Kosmogramm impliziert ein Verhältnis zum Raum, was in der plastischen Form des Instruments und im zyklischen Verlauf der Komposition wiederkehrt. Tatsächlich sind Gamas Instrumente sehr häufig »rund« und zum Teil von mehreren, im Kreis angeordneten MusikerInnen zu bespielen. Die Klangwelt erweitert das Spektrum traditioneller afrikanischer Instrumente wie den weitverbreiteten Lamellophonen, die in Angola »Kissange« heißen. Gama konstruiert aber auch Saiteninstrumente ganz eigener Prägung.
Von dieser lokalen, theoretischen und technischen Ausgangsbasis ausgehend hat Gamas Arbeit im Verlauf der letzten zehn Jahre immer weitere, globale Kreise gezogen. Bereits 1995 war er nach Kolumbien gereist, wo er wohlbekannte Instrumente antraf, nur zum Beispiel unter dem Namen »Marimbula« statt »Kissange«. Daraus entstand die Idee für den Workshop Odantalan, den Gama 2002, nach einem vorangegangenen Aufenthalt in Kuba, mit MusikerInnen, KunsthistorikerInnen und AnthropologInnen aus Angola, Kuba, Brasilien und Kolumbien in Luanda abhielt. Über die Instrumente hinaus gab es Traditionslinien in einem Schrift- oder Zeichensystem, das im Bakongo-Gebiet als »Bidimbu« bezeichnet wird. Im Katalog analysiert Martinez-Ruiz Herkunft und Bedeutung dieser Zeichenwelt, die bereits in jahrtausendealten Höhlenmalereien auftaucht und in den sogenannten »Firmas« der kubanischen Palo-Monte-Religion wiederkehrt.3 Die CD, die zu dem Projekt erschienen ist, beginnt folgerichtig mit dem Auftakt einer Palo-Monte-Zeremonie, in der der Priester Tata Nganga Matias Campos sämtliche Wesenheiten des Kosmos um Erlaubnis anruft. Eine verschüttete Tradition kultureller Codes wird wieder erkennbar. Kunsthistorisch-anthropologische Forschung und musikalische Praxis sind zwei Seiten einer Medaille.4
2004 folgte eine Tournee durch Südafrika mit zwei weiteren angolanischen Musikern sowie dem Brasilianer Nana Vasconcelos: Der angolanische Musikbogen Ungu traf auf den brasilianischen Berimbau. Im darauf folgenden Jahr nahm Gama an dem Projekt »Folk Songs for the Five Points« des New Yorker Tenement Museum teil. Auf einem interaktiven Stadtplan begegnen Gamas Musikstücke den Klängen des Stadtviertels: Rufe von Eisverkäufern, ein einfahrender U-Bahn-Zug, Proben für die Kanton-Oper, ein Straßensänger, Dixieland-Klänge von der Festa di San Gennaro im Viertel Little Italy. »Five Points« heißt der seit dem frühen 19. Jahrhundert von Einwanderung geprägte Stadtteil in Lower Manhattan: Die BenutzerInnen der Website können fünf Punkte über die Karte des Quartiers ziehen und so ihre eigene Soundscape zusammenstellen.5 Folk Songs, hier vertreten durch Gamas Musik, dienen als Metapher der Migration. Unter dem Namen »Folk Songs Trio« tourt Gama seither u.a. mit den improvisierenden Musikern William Parker und Guilhermo E. Brown.
Gama, der seit 2003 auch mit dem britischen Instrumentenerfinder Max Eastley zusammenarbeitet, stellt seine Instrumente aus, veranstaltet Workshops mit Kindern und spannte einmal in Porto ein 50 Meter langes Saiteninstrument quer über einen See.6 Die BesucherInnen seiner Ausstellungen sind durchaus aufgefordert, die Musikinstrumente selbst auszuprobieren. Speziell zu diesem Zweck entwarf er zuletzt vier neue Instrumente für das New Royal Museum in Edinburgh, das nach einer Umbauphase 2011 wieder eröffnen soll.7 Ein vom Kronos Quartet in Auftrag gegebenes Werk wird am 12. März 2010 in der Carnegie Hall in New York uraufgeführt.

Ganz besonders am Herzen liegt Gama eine CD, die er 2007 für das Sonic Arts Network zusammengestellt hat. Sie heißt »Periférico« und enthält, noch unter dem Eindruck des Libanonkriegs, Rap und Improvisationen aus dem Nahen Osten, elektronische Musik aus Kolumbien, der Ukraine, dem Iran und Peru, ein Klarinettenquintett aus São Paulo sowie eigene musikalische Erzählungen, illustriert von den sarkastischen Cartoons des libanesischen Musikers und Zeichners Mazen Kerbaj.8 Peripher sind all diese Länder nur in Bezug auf die Zentren der Macht, des Markts und der Hochtechnologie. In künstlerischer Hinsicht brauchen sie sich dagegen keinesfalls zu verstecken, wie der musikalische Reichtum der auf der CD versammelten Stücke verdeutlicht. Davon zeugt aber auch Gamas eigenes Werk, das die Fäden aus der Vergangenheit aufgreift und über alternative Netzwerke global neu verknüpft.

 

 

1 http://victorgama.org; http://www.pangeiart.org
2 Projektname und CD: »Tsikaya«; zu der Exkursion vgl. Christian Hanussek, Memórias Íntimas Marcas. Interview mit dem Künstler Fernando Alvim, in: springerin 2/2004, S. 50–53; Gamas Mutter war Alvims erste Kunstlehrerin.
3 Barbaro Martinez-Ruiz, Speaking in Action. Processes of Visual Representation in the Bakongo World, in: Odantalan.02, hg. v. Victor Gama, Pangeiart – Associação Cultural, 2002, S. 89–117; vgl. auch Miguel Barnet, Afrokubanische Kulte. Die Regla de Ocha. Die Regla de Palo Monte. Frankfurt am Main 2000; Jesús Fuentes Guerra und Armin Schwegler, Lengua y ritos del Palo Monte Mayombe: Dioses cubanas y sus fuentes africanas. Frankfurt am Main 2005.
4 Die Projekte »Tsikaya« und »Odantalan« wurden gefördert vom Prince Claus Fund.
5 http://www.tenement.org/folksongs/
6 Fundação de Serralves, Porto; Ausstellungen seit 1998 unter anderem in Lissabon, Amsterdam, Maputo, London, Belfast und New York.
7 National Museums of Scotland, vgl. http://pangeiainstrumentos.blogspot.com.
8 Periférico. Sounds from beyond the Bubble; das 1979 unter der Schirmherrschaft von Karlheinz Stockhausen gegründete Sonic Arts Network ist inzwischen aufgegangen in der Dachorganisation Sound and Music, http://www.soundandmusic.org.