Heft 2/2010 - Netzteil


Smelling Sounds, Hearing Images

Das Versprechen der Medienentgrenzung

Christian Höller


Von einem »total assault on the senses« war die Rede, als Andy Warhols »Exploding Plastic Inevitable« im April 1966 erstmals aufgeführt wurde.1 Von einer im positiven Sinne entgrenzten synästhetischen Erfahrung, die dem Einfluss psychedelischer Drogen in nichts nachstand. Hier ging es weniger um eine »Visualisierung« von Musik, wiewohl die Sound-Komponente, welche The Velvet Underground zu den Aufführungen beisteuerte, einen wichtigen Bestandteil ausmachte. Vielmehr gab es in dem Multimediaspektakel eine ganze Reihe weiterer Zutaten – Film- und Diaprojektionen, wobei die projizierten Bilder zum Teil mit Farbfiltern versetzt oder im Fall der Dias mit Lebensmittelfarbe eingefärbt waren, aus zuckendem Stroboskoplicht, einem rotierenden Spiegelball, aus manischen, teils sadomasochistischen Tanzeinlagen, die zwischen MusikerInnen und Publikum platziert waren, aus mobilen Scheinwerferprojektionen und anderem mehr. Als müssten so viele Sinne wie möglich gleichzeitig angesprochen, ja regelrecht bombardiert werden, um eine Medienwirkung zur Geltung zu bringen, das jedes Fassungsvermögen bzw. eine klar definierte Sinneszuordnung (Ohr zu Musik, Auge zu Bild etc.) radikal überstieg. Impliziert war dabei auch eine neue Form von Subjektivität, eine Infragestellung herkömmlicher Bild-, Ton- und vielleicht auch taktiler bzw. Körperwahrnehmung, welche die Grenzen des Selbst nicht unangetastet ließ. Worauf das »Exploding Plastic Inevitable« abzielte, war, wie etwa Jonas Mekas (damals Kritiker für »The Village Voice«) meinte, »the last stand of the ego, before it either breaks down or goes to the other side«.2

Dem »Exploding Plastic Inevitable« sollte kein allzu langes Leben beschieden sein, wobei – so viel steht fest – die damit in Berührung gekommenen Egos mitnichten zusammengebrochen sind. Was allerdings als Versprechen seit der Zeit dieser vielleicht geballtesten Multimediashow nachhallt,3 ist Folgendes: dass sich Medien, egal ob Bild-, Klang- oder sonst wie basiert, immer wieder an Grenzbereiche heranführen lassen; an Wahrnehmungszonen, die mit herkömmlichen Formen von Visualität oder Musikalität nichts mehr gemein haben; an Übergangsterrains, wo die bekannten Parameter des Visuellen und Auditiven außer Kraft gesetzt sind. In Zeiten von Stadionrockinszenierungen und sonstigen Megaevents mag es wie ein Gemeinplatz klingen, dass solche »interkreative Großformen« eine entrückende oder entgrenzende Wirkung haben. Aber »Entrückung« oder »Zerstreuung« wäre nur die eine Seite der Geschichte von Musikbebilderungen oder Visualisierungen. Die andere Seite besteht – wesentlich elementarer – in wechselseitigen Infragestellungen, Unterwanderungen, ja auch Versuchen, die Schraube stets noch weiter zu drehen und sich gegenseitig zu überbieten, was den Intensitätsgrad des eigenen Mediums betrifft. So dockten, historisch weit zurückreichend, immer wieder Formen der bildenden, mit unterschiedlichsten Medien operierenden Kunst an die Sound-Produktionen der jeweiligen Zeit an. Nicht so sehr, um den spezifisch klanglichen Medien eine Art visuelles Korsett überzustülpen, sie mit der Opulenz eines anderen Mediums zuzudecken bzw. zu überhäufen, sondern ganz im Gegenteil: um tatsächlich eine Art Entgrenzung zu bewirken; die sinnliche Materie oder Energie, die beispielsweise ein bestimmter Sound dem Ohr darbietet, in einem anderen Medium aufzufangen, gleichsam weiterzumodulieren und so auch eine andere Form von wahrnehmender Subjektivität auf den Plan zu rufen.
Ein Versprechen war es in der Tat, das die verschiedenen Formen der Multimediainszenierung ab den 1960er-Jahren in Aussicht stellten. Ein Versprechen darauf, das Ich der RezipientInnen nicht länger über einen festgelegten, von anderen Wahrnehmungsformen abgekoppelten Sinneszugang zu affizieren, sondern viel grundlegender: den ganzen Körper als eine Schnittmenge orgiastischer Sinnesbombardements zu betrachten, wodurch auch die einzelnen Sinnesvermögen im Verhältnis zueinander ins Wanken gebracht werden sollten. Hatte man einen bestimmten Klang nicht gerade deutlich vor Augen gehabt? Hallte diese Projektion nicht in einem bestimmten Sound nach? Konnte man gewisse Töne nicht förmlich riechen, vor allem wenn sie extrem verstärkt aus meterhohen Lautsprechertürmen ausströmten? Die historischen Licht- und Multimediashows der 1960er-Jahre, sei es von Expanded-Cinema-Gruppen wie der US Company (USCO) oder von Gruppen, die eher von der Rockmusik herkamen, wie The Joshua Light Show oder The Single Wing Turquoise Bird,4 sie alle hatten eines gemeinsam: dass sie dem wahrnehmenden Ich gleichsam den festen Boden unter den Füßen wegziehen wollten, indem sie die einzelnen Sinnesvermögen auf suggestive Weise ineinander verschwimmen ließen. Das Entgrenzungsmoment lag darin, möglichst viele Sinneseindrücke auf einmal entstehen zu lassen, sodass keine geordnete Wahrnehmung mehr möglich war. Ein Strudel aus Sinnesüberlagerungen sollte das kategorisierende bzw. rationale Ich gleichsam mit sich fortreißen. Nicht umsonst ist in vielen Arbeiten dieser Zeit von Vortex und Spirals, von Wirbeln und Malströmen, von Eruptionen und Explosionen die Rede.

Will man sehen, was aus diesem historischen Versprechen geworden ist, braucht man sich nur eine Installation wie Mike Kelleys »Sex, Drugs, and Rock and Roll Party Palace« (2009) vor Augen führen.5 Eine mehrteilige Hüpfburg wird aus unterschiedlichsten Richtungen mit Ausschnitten aus Pornofilmen bespielt, dazu gibt es gezielte Beschallungen einzelner Kammern und Nischen – meist handelt es sich dabei um dumpfe, funktionale Techno-Beats, so als müsse die geistlose Mechanik der ganzen Anlage noch zusätzlich betont werden. Im Gegenzug zu den Pornobespielungen werden enzyklopädische Inserts auf die Skulpturen projiziert, die ein kleines Lexikon von weitgehend unbekannten Soundtrack-Komponisten bzw. eine Auflistung sämtlicher existierender psychedelischer Drogen enthalten. Dem dröhnenden und flackernden medialen Wirrwarr wird so eine Art lexikalische Ordnung entgegengehalten, was den reflexiven Charakter der Installation zutage treten lässt. Mike Kelley meinte einmal, erst im Kontext der Sixties-Gegenkultur hätten sogenannte »transgressive« Ansätze, wie sie sich im Gender-Crossing oder in der Verherrlichung des Abseitigen und Bösen vieler damaliger Rockgruppen manifestierten, zu so etwas wie Populärkultur werden können.6 War der gegenkulturelle Aufbruch eine Art Motor, mit dem sich ein neues Sensorium, ja neue Sinnesbegehrlichkeiten wie -kapazitäten befördern ließen, so ist diese Schubkraft (aus welchen Gründen auch immer) historisch längst verpufft. Die Überstimulierung der Sinne, wie sie von der Unterhaltungskultur seit Langem auf hohem Energielevel betrieben wird, lässt die ehemaligen Aufbruchs- und Befreiungsszenarien beinahe kümmerlich erscheinen. Mike Kelley »Sex, Drugs, and Rock and Roll Party Palace« setzt dieser Dynamik ein unheimliches Denkmal, das nicht zuletzt die in Kunstinstallationen gewohnten Dimensionen sprengt. Der erwähnte Entgrenzungsaspekt, das Versprechen einer anderen, erweiterten Sinneswahrnehmung, ist hier in ein überdimensioniertes Monster transformiert.
Multimediaspektakel, wie sie in den 1960er-Jahren ihren Ausgang nahmen und in exzessiven Installationen wie jener von Kelley eine zeitkritische Reflexion erfahren, beschreiben den einen Weg der Medien- bzw. Sinnesentgrenzung: Das Verfahren ist addierend oder kumulativ, wie man sagen könnte – einem bestehenden Medium möglichst viele andere hinzufügen, sodass die Wahrnehmung des Ersteren zu verschwimmen beginnt, die klare Zuordenbarkeit, was genau im Gesamteindruck von der Musik herrührt, was von den projizierten Bildern, was vom zuckenden Stroboskoplicht, nach Möglichkeit verloren geht. KünstlerInnen wie Kelley setzen dem noch eins drauf, indem sie das Befreiungsversprechen, das in solcherlei Medienanhäufung einmal mit angelegt war, wie unter einem Vergrößerungsglas auseinandernehmen. Der Eindruck, der bleibt, ist kalt, mechanisch, monströs, überproportional.

Die Augen schließen

Den umgekehrten Weg der Medienentgrenzung bzw. der Reflexion darauf führen seit einiger Zeit KünstlerInnen vor, die – wie man vereinfacht sagen könnte – nicht anhäufen, sondern wegnehmen. Ihr Verfahren ist weitgehend reduktiv, sprich: Es geht von der Fragestellung aus, wie viel man von einem Bild weglassen kann, ohne dabei das Medium völlig zu verlassen oder es aufzulösen. Wie viel, wenn es um Musik geht, von erkennbaren Harmonien, Rhythmen, Melodik und so weiter abstrahiert werden kann, ohne dass dadurch nur noch indifferentes Rauschen übrig bliebe. Oder auf das Zusammenspiel von Bild und Ton bezogen: Wie sehr sich der synästhetische Gesamteindruck von Visualität und Klang, das, was gemeinhin Audiovision genannt wird, gleichsam herunterkochen lässt, sodass zwar nicht mit dem Medium als Ganzem gebrochen wird, dafür aber dieses ominöse Zusammenspiel in Einzelbestandteile zerlegt bzw. in seiner Feinmechanik erfahrbar wird. Viele der interessantesten Arbeiten in diesem Bereich befassen sich daher weniger mit »Visualisierung« im herkömmlichen Sinn, sprich: mit der Bebilderung eines bereits existierenden oder den Visuals vorgängigen Musikstücks. Vielmehr loten sie die wechselseitigen Übertragungs- und Beeinflussungsmomente gleichsam von null weg aus, das heißt, sie rücken die Impulse und Spannungselemente, die von der Sound-Ebene in den visuellen Bereich hineindrängen und umgekehrt (vom Gesehenen ausgehende Klangimpulse), in den Mittelpunkt. Sie widmen sich, um es anders zu sagen, den Übersprungsphänomenen zwischen den einzelnen Bereichen – dem, was von der Musik her von sich aus bildgenerierend wirkt und umgekehrt.

Wie derlei Spannungssprünge konkret aussehen und klingen, zeigt eine Arbeit wie »Broadway« (2004) des Duos NTSC (Abkürzung für Not The Same Color, bestehend aus der Videokünstlerin Billy Roisz und dem Musiker dieb13).7 Piet Mondrians 1942/43 entstandenes Gemälde »Broadway Boogie-Woogie« mag im Hintergrund Pate gestanden haben, zumal dieses selbst auf musikalischen Parametern, dem besagten Boogie-Woogie-Rhythmus, aufgebaut ist. Dennoch ist das in beiden Werken dominierende Gelb nicht das Gleiche, was nicht weiter überrascht, nennt sich das KünstlerInnenduo schließlich Not The Same Color. Jedenfalls scheinen in »Broadway« die Stör- und Knackgeräusche der Tonspur direkten Eingang in die Bildebene zu finden – die flatternden, sich zersetzenden Linien legen dies durchaus nahe. Umgekehrt gehen auch von den kontinuierlich gestörten Pixelschraffuren Impulse für die Sound-Ebene aus– wie kleine Stromstöße, die vom Bild zum Ton und umgekehrt überspringen. Darüber hinaus ziehen sich beide Akteure, Bild und Ton, immer wieder auf sich selbst zurück, koppeln sich voneinander ab, bis sie von Neuem beginnen, einander übersprungartig zu animieren.
Das Ich scheint hier tatsächlich auf die andere Seite hinübergewechselt zu sein, um noch einmal auf das Eingangszitat von Jonas Mekas zurückzukommen. Soll heißen: Das Bild- und Tonagglomerat, das wir hier vorfinden, widersetzt sich dem geordneten Wahrnehmungsschema, wonach das Auge für Bilder, das Ohr für Töne und so weiter zuständig ist. Vielmehr wird dem wahrnehmenden Subjekt ein gekoppeltes, in sich nicht auflösbares mediales Vexierspiel entgegengehalten, ein ständiges Hin- und Herspringen bzw. unablässiges Gleiten zwischen den verschiedenen Ebenen. Vielleicht war es genau dieser Effekt, den die historischen Multimediaformen einst vor Augen hatten, der sich aber in der zunehmenden Spektakelhaftigkeit und Aufgeblasenheit von derlei Shows immer mehr verflüchtigt hat. Demgegenüber treiben Werke wie »Broadway« das Bild-Ton-Zusammenspiel von innen her an seine Grenze, lassen gerade in der Reduktion (und nicht in der Addition) die Sinnesmaterien untrennbar ineinander verschwimmen.

Solcherlei »kleine Formen«, was das Spiel mit Entgrenzung und Entäußerung betrifft, haben vielerlei historische Vorläufer – man denke etwa an Tony Conrads »The Flicker«, die Filme von Paul Sharits oder Peter Kubelkas »Arnulf Rainer«. Sie scheinen immer dann besonders angesagt zu sein, wenn die Größenordnung der zeitgleichen Multimediaspektakel ein neues Level erreicht (wie in den 1960ern die erwähnten Psychedelikshows oder heute die gang und gäbe gewordenen immersiven VJ-Environments8). So gesehen sind die »kleinen«, meist abstrakt gehaltenen Bild-Ton-Durchmischungen die unablässigen Begleiter der außer Rand und Band geratenden Multimediaauswüchse. Nur dass sie den subtrahierenden, von der Bild- und Tonfülle eher etwas »abziehenden«, und nicht den addierenden, immer mehr Schichten übereinander türmenden Weg eingeschlagen haben. Derlei Abzug findet sich besonders markant in einer neuen Arbeit des Duos NTSC dargestellt. »close your eyes« heißt das Video, das sich von den Meskalinexperimenten des französischen Schriftstellers und Malers Henri Michaux hat inspirieren lassen.9
Das psychedelische Programm der Entkonditionierung bzw. Enthierarchisierung der Wahrnehmung ist hier beim Wort genommen. Ausgangspunkt des synästhetischen Experiments ist ein mit einer Jalousie abgedunkeltes Fenster – »close your eyes« –, das zu einer Art visuellem Sprungbrett in eine abstrahierte Halluzinationswelt wird. Nachbilder, Umrisse, Silhouetten, aber auch gänzlich aus dem digitalen Jenseits kommende Störelemente, Kratzer und Eruptionen bilden eine sich autonom gerierende, sich ständig verformende Wahrnehmungsmaterie, die sich von der Außenwelt weitgehend verabschiedet hat. Auch hier ist der Sound gleichsam in die Bilder »eingelassen« bzw. werden umgekehrt die abrupt aufblitzenden Bilder von der hochfrequenten Tonspur »freigesetzt« – eine Art Vexierspiel bzw. ein Mischverhältnis, in dem nicht eins zum anderen kommt, sondern die »mediensprengenden« Effekte aus dem immer schon Gemeinsamen resultieren.

Der »total assault on the senses«, von dem in 1960ern die Rede war, mag angesichts einer Arbeit wie »close your eyes« um vieles bescheidener geworden sein. Dafür ist hier eine bestimmte Grenzauslotung in das Medium selbst hineinverlagert. Die Devise lautet weniger: Wie kann ich einem Medium in einem anderen etwas Entscheidendes hinzufügen? – sondern vielmehr: Wie lässt sich den Durchdringungen, die zwischen Bild, Ton und anderen Wahrnehmungsmaterien immer schon existieren, in zeit- und anlassgemäßer Form gerecht werden? Gerade darin scheint eine der wichtigsten Herausforderungen intermedialer Zusammenarbeit zu liegen.

 

 

1 Die Aussage geht auf Abbie Hoffman zurück, zitiert bei David Joselit, Yippie Pop: Abbie Hoffman, Andy Warhol, and Sixties Media Politics, in: Grey Room, 08, Sommer 2002, S. 72.
2 Vgl. ebd.
3 Vgl. die Beschreibung bei Richie Unterberger, White Light/White Heat. The Velvet Underground Day-By-Day. London 2009, S. 82ff.
4 Vgl. David E. James, Light Shows and Multimedia Shows, in: Dieter Daniels/Sandra Naumann (Hg.), See This Sound – Audiovisuology Compendium. Köln 2010, S. 177ff.
5 Die Installation war Teil der Ausstellung »Schere – Stein – Papier. Pop-Musik als Gegenstand Bildender Kunst«, Kunsthaus Graz, 6. Juni bis 30. August 2009.
6 Vgl. Mike Kelley, Cross-Gender/Cross-Genre, in: ders., Foul Perfection: Essays and Criticism, hg. v. John C. Welchman. Cambridge/London 2003, S. 108.
7 Vgl. http://www.filmvideo.at/filmdb_display.php?id=1403&len=de bzw. http://www.sixpackfilm.com/catalogue.php?oid=1403&lang=de
8 Vgl. die Beiträge zu VJing in Cornelia und Holger Lund (Hg.), Audio.Visual – On Visual Music and Related Media. Stuttgart/New York 2009, S. 154ff.
9 Vgl. http://www.sixpackfilm.com/catalogue.php?oid=1790&lang=de