Heft 3/2010 - Rechte Ränder


The New Killer

Ein Konversationsprojekt über Selbstmordattentate und den Abbau von Bürgerrechten

Fadi Toufiq


V
00:07:05:03

Der Selbstmordattentäter drückt auf den Auslöser – es explodiert, was für einen Moment wie ein Mann erschien. In einem Augenblick spielt sich vor uns ab, was wir nicht ertragen aufzunehmen, was wir gar nicht aufnehmen können. Was gerade geschehen ist, hinterlässt bei uns ein Schwindelgefühl. Plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde, verwandelt sich etwas in sein Gegenteil. Was uns wie ein Mann erschien, war eine Bombe, die explodiert ist.
Eine schnelle, überraschende Verwandlung. Für uns ungewohnt, denn solche Sequenzen kennen wir nur aus Kinofilmen. Doch selbst im Kino werden solche Ereignisse im Zeitraffer dargestellt, überbrücken Zeit und Distanzen. Die wirkliche Zeit wird im Kino zu einer unwirklichen Zeit, verwandelt zur Filmzeit. Auch die Filmcharaktere durchlaufen Veränderungen, die mit der Wirklichkeit und deren Zeit nicht übereinstimmen.
Im Kino begegnen uns solch schnelle unwirkliche Sequenzen auch bei Ortsveränderungen: Um von Paris nach New York zu gelangen, braucht es lediglich zwei Einstellungen. Die erste am Flughafen in Paris, und schon die nächste Filmsequenz zeigt den Schauspieler auf den Straßen von Manhattan. Uns ZuschauerInnen reicht das schon um zu verstehen, dass unser Held nun in New York ist. Was wir jedoch selbst im Kino nicht nachverfolgen können, ist die Verwandlung der Charaktere in ihr glattes Gegenteil, und zwar im Bruchteil einer Zehntelsekunde. Solch ein Film wird keinen echten Anfang haben, auch wenn er sich über Stunden hinzieht. Es ist jener Film, in dem wir die Charaktere erst dann zu bemerken scheinen, wenn sie explodieren; und manchmal sehen wir sie erst, wenn sie bereits explodiert sind; was uns wie ein Fisch erschien, war eine Bombe, die explodiert ist.

VII
00:10:39:93

Es geschieht jedoch auch, dass die gesamte Geschichte aus unzähligen Knöpfen besteht. Mit dem Drücken des Auslösers zwingt uns der Selbstmordattentäter geradezu, auf den Einschaltknopf des Fernsehers zu drücken. Dort lassen wir uns dann von Nachrichten und Informationen berieseln, über das Attentat, das stattgefunden hat. Und manchmal spricht plötzlich – von demselben Bildschirm – der Attentäter direkt zu uns. Es ist eine Aufnahme, die eingeblendet wird: Er spricht zu uns, verwendet die Gegenwartsform und versäumt es dabei nicht, subtil auf den Unterschied zwischen der Gegenwart der Aufnahme und der Gegenwart der Übertragung hinzuweisen; er erinnert uns daran, dass in dem Moment, in dem wir diese Aufnahme sehen, er sich bereits an einem anderen Ort befindet.
Inzwischen habe ich mich schon in etwas anderes verwandelt; noch lebend verkünde ich bereits als Stimme der Toten ihren Tod, meinen Tod! »Ich bin die Märtyrerin, Sana Mehaydali.«1
Es ist der Moment, in dem der Selbstmordattentäter den Zeitunterschied zwischen uns und ihm kundtut. Doch es ist ein Unterschied, der sich vom Unterschied zwischen Beirut und New York grundlegend unterscheidet; vom Unterschied zwischen dem Zeitpunkt der Ausführung und der Ausstrahlung; dem des Schreibens und des Lesens. Es ist ein viel offensichtlicher, ins Auge springender Unterschied. Es ist der Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten; der Unterschied zwischen jenen, die ihre Gegenwart abgeschlossen haben und uns, den ZuschauerInnen, den Kindern ebenjener Gegenwart.

Was ist der »New Killer«?
Die Arbeit am »New Killer« kostete mich knapp fünf Jahre. In dieser Zeit geschah es aber auch, dass ich die Arbeit an dem Projekt niederlegte, und zwar mehr als ein Mal, für unterschiedlich lange Zeit. Während dieser Unterbrechungen arbeitete ich an anderen Projekten. Ich las viele Bücher, sah ebenso viele Filme und Aufführungen. Bin nach New York gereist und kehrte nach zweieinhalb Jahren zurück. Und jedes Mal, bei jeder Auseinandersetzung, jedem Treffen mit einer Person, einer Stadt, einem Buch, einem Film, einem Bild, einer Aufführung, hinterließ diese Auseinandersetzung ihre Spuren in dem »New Killer«-Projekt; wobei das resultierende Buch jetzt nur mehr ein Teil dieser Auseinandersetzungen ist. Damals drückte der Selbstmordattentäter einem seiner vielen Themen den Stempel des Unmöglichen auf, nachdem er es zu seinem einzigen Thema gemacht hatte. Das war am Anfang.
Am Anfang hätte das Buch zu dem werden sollen, was ein Buch ausmacht. Ein Buch, dessen Inhalt recherchiert wurde, mit aufeinanderfolgenden Kapiteln, dessen erstes Kapitel zum zweiten führt, das zweite zum dritten und so weiter, aufeinander aufbauend, bis zum letzten Kapitel. Dort, wo der Schriftsteller das Thema hätte aufbereiten, sein Geheimnis hätte preisgeben müssen, sodass die LeserInnen das Buch nicht ohne ein breites tiefes Wissen um das Thema beenden würden, dort geschah mit dem »New Killer« jedoch nichts dergleichen; ganz im Gegenteil.
Die letzten zwei Jahre, die ich in New York verbracht habe, hatten erheblichen Einfluss auf die Gestalt, die das Projekt schließlich annahm. Denn dort hatte ich die Gelegenheit, den Alltag einer Stadt zu erleben, die der ständigen Bedrohung eines Selbstmordattentates ausgesetzt ist. Die Stadt der zwei Türme des World Trade Centers, wo sich die Angst vor SelbstmordattentäterInnen in jeden Winkel eingenistet hat, am Flughafen, in den Bussen, in den U-Bahn-Stationen. In New York konnte ich die Brutalität jenes Gefühls erahnen; dem Gefühl, der Bedrohung durch SelbstmordattentäterInnen ausgesetzt zu sein.

»If you see something, say something«
»Siehst du etwas, dann sag’ etwas« lautet das Motto, das die Stadt New York nun vor sich her trägt, im Bestreben, ein zweites Selbstmordattentat abzuwehren. »Siehst du etwas, dann sag etwas« ist eine offene Einladung an die BürgerInnen einer Stadt, sich gegenseitig zu beobachten.
»Sei wachsam, siehst du etwas, das verdächtig scheint, oder findest du zurückgelassene Gegenstände (eine Tasche, einen Sack) oder bemerkst du Rauch oder riechst du einen starken Gestank oder bemerkst du sonst etwas Unnatürliches, dann melde es sofort«. Mit diesen Worten richten sich die Verkehrsbetriebe in New York an ihre Fahrgäste.
»Es ist der Polizei unmöglich, überall zu sein und alles zu sehen. Die Unterstützung durch die Fahrgäste potenziert unsere Möglichkeiten, und erhalten wir Informationen von den Fahrgästen, dann erhöhen wir damit unsere Sicherheit.« Dies erklärt William A. Morange, Manager und Sicherheitsdirektor der Metropolitan Transportation Authority von New York, zur Beförderung der Kampagne »Siehst du etwas, dann sag etwas«.
Es ist wohl eine gefährliche Bestätigung, wenn ein Sicherheitsmann die Polizei bloßstellt, indem er zugibt, dass die Polizei ohne Unterstützung der Bevölkerung hilflos ist. Fast so, als wolle er indirekt sagen, dass die Grundvoraussetzung für die Sicherheit angesichts eines Selbstmordangriffs die Verwandlung der BürgerInnen in SpionInnen, 24 Stunden im Einsatz, sei. Es ist die Einladung, Beobachtung zu einer Lebensweise zu machen und nicht die Arbeit von Spezialeinheiten sein zu lassen. Doch es gibt auch die Situation in Städten wieder, die von SelbstmordattentäterInnen bedroht werden.
Diese Thematik, die Umkehrung der Strafe, der von SelbstmordattentäterInnen ausgelöste Schock, die Veränderungen, die stabile Gesellschaften trifft, wenn sie von SelbstmordattentäterInnen ins Visier genommen werden, sowie die Vorahnung, die Gegenwart des Tötens und die Gegenwart des Reisens, die Zeit der Verfolgung und die Zeit der Flucht und viele andere Themen bilden die Inhalte des Projekts »The New Killer«.
Während der Arbeit am Projekt fehlte es nicht an Thesen über SelbstmordattentäterInnen. Sie umfassten zahlreiche Bücher, die dieses Phänomen behandelten. In diesem Zeitraum kam es auch zu zahllosen Gesprächen zu der Thematik der Arbeit und dem Zugang, den ich für das Phänomen der SelbstmordattentäterInnen vorschlagen würde. Mit der Zeit wandelten sich jedoch die Diskussionen und wurden zu einem Teil der Arbeit selbst. Das Buch in seiner nunmehrigen Form, mit seinen wiederholt unterbrochenen Teilen, seinem zögernden, unsteten Ton, seinem Stottern, seiner Intensität, ist nichts weiter als die Spuren und gleichzeitig die Merkmale dieser Gespräche.
Daher weicht die Arbeit in ihrer jetzigen Form auch von herkömmlichen Büchern ab und nimmt stattdessen das Gespräch als Form an; wobei dies eine klare und offensichtliche Vorliebe widerspiegelt, das Gespräch mehr als Form des Denkens selbst und weniger als Mittel zum Gedankenaustausch zu betrachten. Eine Vorliebe auch für den Zeitpunkt der Gedanken, der dem Formulieren von kohärenten Schlussfolgerungen vorhergeht – nämlich dem Zeitpunkt des Gesprächs.
Wenn es stimmt, dass ein Gespräch zwei Sprechende erfordert, dann stimmt es auch, dass zwei Sprechende noch lange kein Gespräch ausmachen. Um ein Gespräch zwischen zwei Personen entstehen zu lassen, müssen die Aussagen jeweils Köder enthalten, die den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin zu Argumentation und Kommentaren verführen. Voraussetzung dafür ist der Aufbau einer Beziehung zu den Gedanken, die während des Gesprächs Raum beanspruchen. Letzteres lebt von manchmal unsteten Gedankenfetzen. Es sind jene Gedankenfetzen, die ihren Besitzer während des Gesprächs zwingen, sie einzufangen, sodass sich manche davon im Gespräch klar herauskristallisieren können. Daher verwundert es auch nicht, wenn ein Gespräch droht, in einen Schreiwettbewerb auszuarten, der jedoch Gläubige noch nie dazu brachte, ihrem Glauben abzuschwören oder ihren Standpunkt zu ändern.

IX
00:13:11:21

Das Handeln des Selbstmordattentäters schockiert uns. Die Verwirrung darüber verlässt uns nicht mehr. Wir, die es gewohnt sind, dass Menschen am Leben hängen, deren stetes Bemühen und Bestreben darum kreisen, den Kelch des Todes von ihnen fernzuhalten; denn wenn es schon nicht möglich ist, dem Tod auszuweichen, so möge man ihn zumindest so lange wie möglich hinauszögern.
Es fällt uns schwer, die Logik von SelbstmordattentäterInnen in ihrer selbstverständlichen Klarheit nachzuvollziehen. Wir scheinen unfähig, uns eine Logik vorzustellen, die aktiv nach dem Tode trachtet, mit strahlendem Gesicht und einem Lächeln auf den Lippen. Eine Grimasse des Bösen, die wir zu ertragen unfähig sind. Wir sind fähig, mit einem Gesicht des Bösen umzugehen, dessen Ursache im Trachten nach einem Leben mit mehr Reichtümern liegt. Ohne weiter nachzudenken, bestrafen wir dieses Böse, indem wir es daran hindern, mit den uns entrissenen Reichtümern glücklich zu werden, und indem wir ihm seine Grundrechte aufs Leben, auf Arbeit und auf uneingeschränkte Ortswechsel entziehen.
Ein Selbstmordattentat ruft bei uns im Allgemeinen Verwunderung hervor. Dass sich ein Mensch selbst das Leben nimmt, ist schon ein Gedanke, den wir nicht ertragen können; wie verhält es sich dann erst mit einem Menschen, der sich einzig und allein deswegen das Leben nimmt, um uns töten zu können.
Es fällt uns schwer, die Logik von SelbstmordattentäterInnen in ihrer selbstverständlichen Klarheit nachzuvollziehen. Solch eine Tat scheint uns einfach unmöglich. In anderen Worten: schwer vorstellbar, nicht verständlich. Und was unverständlich bleibt, wird zu einer schwebenden unbeantworteten Frage. Unbeantwortete Fragen wiederum beunruhigen uns, sodass wir uns der Versuchung, schnelle Antworten darauf zu finden, kaum entziehen können. Es sind jedoch Antworten, mit denen wir uns der Illusion hingeben, ein Wissen zu haben, das wir in Wahrheit gar nicht besitzen.

?
Es gibt keine Frage ohne eine Antwort – sagen wir. Richtig ist hingegen, dass auf eine Frage mehrere Antworten zutreffen. Schon seit langer Zeit besitzen wir einen Fundus an Antworten, der die Anzahl der Fragen bei Weitem übertrifft. Es stellt sich keine Frage ohne eine gleich mitgelieferte Antwort. Wir finden es schwer, mit unbeantworteten Fragen zu leben; mit Fragen, auf die wir keine Antwort wissen. Fragen, die uns wiederholt der Prüfung aussetzen, Phänomene, die uns umgeben, zu verstehen und in unserem Bewusstsein aufzunehmen. Antworten zu haben bedeutet zu beherrschen, was außerhalb unserer Beherrschungsmöglichkeiten ist, Kompliziertes zu erleichtern, unser Entsetzen zu beruhigen.
Dies trifft auf viele Hypothesen über SelbstmordattentäterInnen zu. Jene Thesen, die vorgeben, das Phänomen von SelbstmordattentäterInnen verstanden zu haben, zerstreuen lediglich unsere Unsicherheit angesichts eines komplexen Phänomens, das der Komplexität des Attentäters selbst in nichts nachsteht.

!
Die Attentäter des 11. September lebten in den Vereinigten Staaten. Sie nahmen dort Flugunterricht, reisten zwischen den Staaten umher und trafen AmerikanerInnen. Trotzdem wurde nichts Angsteinflößendes in ihren Handlungen bemerkt. Die 19 Attentäter des 11. September straften alle bisherigen, vor dem Angriff verbreiteten Überzeugungen über die Persönlichkeit von SelbstmordattentäterInnen, über ihre soziale Schicht, ihr Ausbildungsniveau, ihr äußerliches Auftreten, ihr Benehmen, Lügen. Die Vereinigten Staaten hatten nunmehr ihre diesbezüglichen Anhaltspunkte verloren; den Selbstmordattentätern war es gelungen, sie zu überlisten.
Doch ohne Anhaltspunkte verfällt eine Gesellschaft schnell der Blindheit; denn Sicherheitskräfte brauchen ein Bild ihres Gegners. Und ist es nicht genau dieser Umstand, der die Vergänglichkeit all jener Thesen über SelbstmordattentäterInnen aufdeckt? Eine These folgt der nächsten, nach jedem Selbstmordanschlag folgt eine neue solche These; und jedes Mal erfolgt ein Anschlag mit neuen ausführenden Personen, die aufs Neue jede These und damit unser illusorisches Wissen um den Attentäter zunichtemachen.
Bedeutet das nun, dass es tatsächlich unmöglich ist, SelbstmordattentäterInnen zu enträtseln? Oder ist unsere Unfähigkeit, sie zu enträtseln, auf unsere Unfähigkeit zurückzuführen, die Trampelpfade des herkömmlichen Umganges mit und der Fragestellung zu dem Thema zu verlassen?

Gegenwart des Todes
»Zahlreiche Gründe, doch nur ein Tod« ist ein häufig zitierter Ausspruch, mit dem die Lebenden versuchen, die latente Unruhe, welche die Frage nach dem Tod in ihrem Inneren aufwirft, zum Schweigen zu bringen. In diesem Ausspruch schwingt allerdings auch der Versuch mit, dem Tod einen Mantel der Gleichbehandlung überzustreifen; denn im Tod sind wohl alle Menschen gleich. Hier drängt sich aber die Frage auf, ob es um den Tod tatsächlich so einfach bestellt ist, wie uns dieser Ausspruch glauben lassen will? Oder zitieren wir diesen Satz nur, um uns selbst angesichts eines Schmerzes, des Todes, zu trösten …
Eine weitere Frage: Stimmt es, dass es nur einen Tod gibt und, dass kein Unterschied besteht zwischen einem Toten und dem anderen? Oder ist dies nur die Meinung der Lebenden zur Sache? Und wenn es so wäre, was meinen dann die Toten, jene, die in einer Direktbeziehung zum Tod stehen?
Mit dem Tod verbindet uns eine komplexe unlösbare Beziehung. Einerseits das Wissen um den Tod als unser aller Schicksal und andererseits die Erfahrung des Todes, die für uns unerreichbar ist. In anderen Worten: Es ist eine geschlossene, auf ihre ProtagonistInnen, nämlich auf die Toten, beschränkte Erfahrung.
Unter all den Toten sticht der/die SelbstmörderIn hervor, der/die als einzige Person befähigt scheint, diese Fragen zu beantworten. Der/die SelbstmörderIn, der/die seinen/ihren Tod beschleunigen will, nach ihm trachtet, scheint im Augenblick seines/ihres Suizids, oder kurz davor, auf einer Schwelle zu stehen, die das Leben vom Tod trennt. Was die zeitliche Abfolge anbelangt, so folgt dem Entschluss, das Leben zu beenden, die Zeit des Nachdenkens über ein probates Mittel. Das Mittel, um das Leben beenden zu können.
Lassen wir unseren Blick etwas weiter schweifen, weg von den Abschiedsbriefen der SelbstmörderInnen, in denen viel über ihre Meinung zum Leben steht, mehr als über ihre Meinung zum Tod. Betrachten wir stattdessen die Technik, die der/die SelbstmörderIn für seinen/ihren Selbstmord gewählt hat. Dabei wird uns auffallen, dass der Prozess der Wahl eines geeigneten Suizidmittels die Unterscheidung zwischen einem Toten und dem anderen nicht ganz leugnen kann. So lässt der/die SelbstmörderIn alle möglichen Mittel Revue passieren, um eines zu wählen, das einen schnellen Tod garantiert; so als wolle er tot sein, ohne zu sterben; als wolle er die Zeit, die das Sterben in Anspruch nimmt, auf ein Mindestmaß reduzieren. SelbstmörderInnen möchten in ihrer eigenen Abwesenheit sterben, im Bruchteil einer Sekunde.
Es ist richtig, dass es der Tod ist, den wir fürchten. Doch wenn wir den Tod aus dem Blickwinkel der SelbstmörderInnen betrachten, dann werden wir entdecken, dass es etwas gibt, das wir mehr fürchten als den Tod, nämlich den andauernden Schmerz. Jener Schmerz, von dem uns nur der Tod erlösen kann. Ist es nicht das, was wir meinen, wenn wir den Tod als »barmherzig« bezeichnen, um einen Kranken von seinem Leid zu erlösen?
Dies geschieht andauernd. Unsere Geburt nehmen wir verspätet wahr. Sie scheint uns mehr wie ein Ereignis, das sich in unserer Abwesenheit zugetragen hat. Erst später, wenn wir herangewachsen sind und das Mögliche vom Unmöglichen unterscheiden können, wird uns bewusst, dass es wohl nicht sein kann, dass ein Mensch in seiner Abwesenheit geboren wird.
Vom Szenario der Geburt nicht weit entfernt ist jenes des Todes. Der Tod, dessen Erhabenheit uns zeit unseres Lebens begleiten wird und dessen Schrecken uns, für uns selbst sowie für unsere Lieben, insgeheim einen gesegneten Tod, einen Tod im Schlaf, wünschen lässt. So als wollten wir von unserem Tod nichts wissen, so als wollten wir in Abwesenheit sterben. Wir wollen einen Tod, der seine Toten nicht zu Zeugen ihres eigenen Todes macht, einen Tod, der nicht in der Gegenwart stattfindet, einen Tod, nach dem wir nur mehr als Tote das Bewusstsein wiedererlangen.
Besteht hier möglicherweise ein Zusammenhang zu dem Pfad, den die Menschheit eingeschlagen hat, in Richtung einer Beschleunigung der Gegenwart, der Geschehnisse und der erforderlichen Zeit für ihre Umsetzung?
Die Sache mit der Beschleunigung begann, als sich Transportmittel vom Pferd auf den Wagen verlagerten. Mit der Erfindung des Rades endete ein Szenario des Reisens, und ein anderes, schnelleres begann. Im Zuge dessen verringerten sich auch die Möglichkeiten der Erzählung. Reisen, die vorher in Tagen gemessen wurden, konnten nunmehr in Stunden zurückgelegt werden. Vom Pferd zum Wagen, zur Bahn, zum Auto, zum Flugzeug. Reisedistanzen in Erzählungen verringerten sich, bis sie in manchen Erzählungen nur mehr als vorübergehender Hinweis auf einen Ortswechsel der ProtagonistInnen wahrzunehmen ist.
Damit eine Erzählung in einer Reise Platz hat, muss die Reise länger dauern. Die Reise erfordert ein Mindestmaß an Langsamkeit, um eine ganze Erzählung in sich aufnehmen zu können. Eine Erzählung, die letztlich nur die Erlebnisse der HeldInnen wiedergibt; wie Ibn Battuta zum Beispiel.2
Die Erzählung ist eine Aneinanderreihung der Erlebnisse des Helden bzw. der Heldin, der Geschichten der Menschen, auf die er/sie in den verschiedenen Ländern traf, der Gefahren, denen er/sie ausgesetzt war, der unebenen Wege, die er/sie ging, der Dunkelheit, der Kälte und des Schnees, der Füchse, des Hungers, des Pferdes, der Wegelagerer und der Taschendiebe, der Prostituierten und der Clowns, der Bettler und der Pelzträger. Dies und vieles mehr begegnete ihm/ihr unterwegs; Bären, doch auch wundersame Gestalten, die vorher noch nie ein Mensch erblickt hatte, kreuzten seinen/ihren Weg. Da war auch das Dorf, in dem alle Männer Bärte trugen. Das und vieles mehr lässt die Reise über die Erzählung hinauswachsen, lässt die Erzählung enden, bevor die Reise zu Ende geht.
Was auf die Transportmittel zutrifft, trifft gleichermaßen auf Tötungswerkzeuge zu. Die zerstörerische Kraft moderner Waffen ist nichts weiter als das Ergebnis andauernder Bemühungen, die Gegenwart des Tötens zu komprimieren. Ihren Höhepunkt erreichten die Bemühungen mit der Erfindung der Atombombe, die in wenigen Augenblicken alles zerstört; die eine Zerstörung hinterlässt, die davor den Einsatz Tausender kräftiger Soldaten mit herkömmlichen Waffen und Schlachten erfordert und die möglicherweise Monate, wenn nicht gar Jahre gedauert hätte.
Vor dem Terror der Al-Qaida war Terrorismus für uns eine Sache, die, wenn sie die Gegenwart nicht gerade erschütterte, so doch wenig Spuren hinterlassen hat. In diesem Zusammenhang zitieren wir oft eine der größten Terroraktionen der 1970er-Jahre. Ich meine damit das »Attentat von München«. Ein kurzer Rückblick auf den Ablauf und die Einzelheiten dieses Attentates verdeutlichen, wie solch ein Attentat ZuschauerInnen auf der ganzen Welt zu ZeugInnen eines sich von Minute zu Minute verdichtenden Ereignisses werden lässt. Der Schauplatz, den die Entführer wählten, erfüllte seinen Zweck, und das von den Entführern gewählte Szenario verfehlte seine Wirkung nicht. Wobei sich die Entführer nichts sehnlicher wünschten, als dass jemand (in diesem Fall Israel) einen Schritt setzt, der, wirksam inszeniert, die Katastrophe verhindern kann. Die Entführer ließen keinen Raum für Spekulationen. In die Liste ihrer Forderungen hatten sie auch eine Möglichkeit versteckt, die uns erlaubt hätte, den Geschehnissen, deren Zeuge wir wurden, ein Happy End zu verleihen; anstatt jenem Ende, mit dem die Entführer drohten, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden sollten. Vergleicht man diesen Anschlag von München mit dem Attentat des 11. September, so wird man den großen Unterschied zwischen beiden Anschlägen bemerken.

LVIII
01:54:45:33

Die komprimierte Gegenwart des Tötens am 11. September ist auf die Technik zurückzuführen, die bei dem Anschlag verwendet wurde: die Umwandlung eines Passagierflugzeuges in eine gesteuerte Rakete. Sie ist aber auch auf die Natur des Verbrechens und die Denkweise der Täter zurückzuführen. Was jedoch zusätzlich dazu beitrug, dieses Verbrechen des 11. September in solch hohem Maße in der Gegenwart zu komprimieren, ist die suizidale Natur der Welt, aus dem dieses Verbrechen stammt. Der Übergang von MörderIn zu SelbstmörderIn ist nicht ein Übergang von einer Tötungsweise zu einer anderen, sondern der Übergang vom Töten zu einer in höchstem Maße komprimierten Gegenwart. Denn der Selbstmordattentäter beendet durch seinen Tod die Szene des Tötens mit dem Tod selbst. Das Töten tritt hier ohne Erzählung auf, denn es geschieht in einem Augenblick.
Eine Erzählung verlangt hingegen nach einer Nachricht, von der berichtet wird. Sie erfordert eine Ausdehnung der Zeit auf das Geschehen und erfüllt sich im Fortgang der Handlung. Hingegen kann das Erzählen eines Ereignisses, dessen Geschehen nicht länger als einen Augenblick dauert, nicht mehr als ein komprimiertes Aufzählen sein.
Das Verbrechen eines Selbstmordattentates erlaubt keine erzählte Handlung, die letztlich zum Verbrechen führt. Denn Letztere entsteht nur dort, wo wir Dinge nicht mit einem Wort beschreiben können. Wir erzählen keine Handlungen, wenn wir sagen: Das ist rot, oder: Das ist gelb, oder: Jener ist ein Mann, und das ist Tinte. Die Erzählung lebt von ihrer Darstellung, der Darstellung einer Nachricht.

LXIV
02:05:09:21

Mehr als 2.000 Tote forderte der Anschlag, den Selbstmordattentäter auf das World Trade Center in New York ausführten. Durch einen Satz erfahren wir alles über das Verbrechen. Wir befinden uns an dem Punkt, an dem die Ermittlungsarbeit endet und die Bestrafung beginnt. Aber der Verbrecher ist beim Anschlag umgekommen; er tötete seine Opfer, indem er sich selbst tötete.
In einem Satz, mit nur ein paar Worten kommen wir zur Handlung des Verbrechens; kommen zu alldem, was wir brauchen, um mehrere Hundert Seiten darüber zu schreiben, wie es zu solch einem Verbrechen kommen konnte. Stirbt nun der Mörder, verlieren wir weitere Hunderte Seiten, die sich dem brisanten Stadium widmen zwischen der Überstellung des Mörders an die Justiz und dessen Verurteilung. Der Wahrheit muss hier keinerlei Dienst mehr erwiesen werden, denn der Mörder befindet sich noch am Tatort, ist leicht zu finden. Im gleichen Augenblick, in dem wir die Leichen einsammeln und zählen, befindet sich auch der Mörder hier, vor Ort, die Teile seines Körpers hier und dort verstreut.

LVI
01:50:40:29

Sind die Geschichte eines Verbrechens und dessen Handlung bis zum Auffinden des Täters eine Gutenachtgeschichte für eine Gesellschaft, die eine derartige Kriminalität schockiert; und wird diese Gesellschaft nun von einem Attentat heimgesucht, dessen Handlung in wenigen Worten erzählt werden kann, dann drängt sich die Frage auf, wie eine derart bedrohte Gesellschaft ihrer Angst Herr werden kann. Geschieht dies über verstärkte Schutzmaßnahmen, oder über Verhaftungswellen, die uns auf Abruf genügend Geschichten zu Verbrechen und TäterInnen liefern? Ersetzt eine Gesellschaft die verloren gegangene Erzählung eines stattgefundenen Verbrechens durch Erzählungen über Verbrechen, die geschehen hätten können? Und werden dadurch die Ermittlungsarbeit und alle jene Maßnahmen, die durch das vorgefallene Verbrechen Schaden genommen hatten, durch diese anderen Erzählungen rehabilitiert?
Gutenachtgeschichten, die nur erzählt werden, um unsere Angst vor der Dunkelheit zu zerstreuen…
Ich frage nur …

CXX
03:48:19:74

Es handelt sich um ein Verbrechen, bei dem Kriminalität und Bestrafung eng miteinander verwoben sind. So als würden sich die SelbstmordattentäterInnen durch die Tat selbst kriminalisieren und gegen sich auch gleich das strengste aller Urteile fällen, die Todesstrafe. In einem Augenblick, nicht länger als eine Zehntelsekunde, die es dauert, den Auslöser zu drücken, durchschreitet er bzw. sie Stadien, die sonst ein Jahr oder länger dauern würden: die Verhaftung, Befragung, Überstellung an das Gericht, die Ernennung eines Verteidigers, das Urteil des Richters und letztlich die Ausführung des Urteils.
All das geschieht in dem Augenblick, in dem das Verbrechen ausgeführt wird. Damit werden die Bestrafung und ihre widerhallende Wirkung zunichtegemacht. Damit wird die Pflicht des Staates auf die Ausstellung von Totenscheinen und die Feststellung der Schäden begrenzt. Und damit trifft man den Staat in seiner Gesamtheit in seinem Stolz und verführt ihn zu Reaktionen, die hauptsächlich darauf abzielen, seinen verletzten Stolz und Ruf wiederherzustellen.

CXXII
03:53:45:09

Und weil dem so ist, lebt der Grundsatz der Präventivvorkehrungen auf. Weit entfernt von der gegen die amerikanische Politik der Präventivmaßnahmen gerichteten Kritik sind jene Maßnahmen, welche die Welt nach dem 11. September von Amerika über Europa und Asien überall erlebte, doch nicht mehr und nicht weniger als solche Präventivmaßnahmen. Razzien gegen vermutliche TerroristInnen, Ausdehnung des Personenkreises der Verdächtigen, Ausstellung von Personalausweisen, neue strengere Einwanderungsgesetze, strengere Sicherheitsmaßnahmen in Flug- und Seehäfen, der Krieg gegen Afghanistan und den Irak, die Lizenz, im Verdachtsfall zu töten … bis zum Ende der Liste.
Geradeso als würde die Gesellschaft, angesichts der Bedrohung durch SelbstmordattentäterInnen, sich nicht anders zu verteidigen wissen, als vermutliche KameradInnen der AttentäterInnen zu verhaften. SelbstmordattentäterInnen machen den Verlauf zunichte, dem ein Verbrechen mit flüchtigen TäterInnen folgen und der die Verfolgung der TäterIn beinhalten würde. Es ist dies jener Verlauf, von dem unsere Gesellschaften überzeugt sind, ihm ein vorbildliches Ende verleihen zu können, und zwar durch den Sieg der Gerechtigkeit. Diese Überzeugung lässt uns selbst einen gefährlichen Verbrecher, ganz gleich wie gefährlich er auch sein mag, niemals so sehr fürchten wie der Glaube, dass sich ein Selbstmordattentäter oder eine Selbstmordattentäterin unter uns befinden könnte, den/die wir nicht erkennen, bis sein/ihr Körper nur mehr aus Teilen besteht, die sich mit unseren Körperteilen vermengen.

CXXIV
03:56:59:78

Setzt der/die SelbstmordattentäterIn seine Tat um, so macht er/sie uns unfähig, ihn/sie zu bestrafen. Als Erstes wird die Bestrafungsmaschinerie außer Kraft gesetzt. Den Gedanken an eine strafrechtliche Verfolgung degradiert er/sie damit zu einem unnützen Werkzeug.
Liegt darin die Erklärung, dass bedrohte Gesellschaften zur Vorverurteilung anstatt zur Strafverfolgung greifen? Dass sie die Reihenfolge bei der Umsetzung von Gerechtigkeit neu ordnen? Dass sie urteilen, Präventivmaßnahmen ergreifen, anstatt wie üblich erst nach einer Straftat zu verfolgen und zu verurteilen?
Verfolgung noch bevor eine kriminelle Tat durchgeführt wird: Ist nicht genau das der Inhalt einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem 11. September ergriffen wurden und die unsere bedrohten Gesellschaften in einen Zustand der dauernden Alarmbereitschaft versetzen? Bereit für ein Ereignis, das dauernd präsent ist, dauernd angekündigt und doch auch dauernd verschoben wird.
Vielleicht liegt darin auch das Ungewöhnliche der Tat von SelbstmordattentäterInnen und deren Folgen. SelbstmordattentäterInnen verlassen das Gewohnte und zwingen damit die bedrohten Gesellschaften, auch ihrerseits den Weg des Gewohnten zu verlassen; zwingen sie, sich in einen Ausnahmezustand zu begeben. Dieser Ausnahmenzustand unterscheidet sich jedoch von bisherigen ähnlichen Situationen, genauso wie sich auch ihr Auslöser vom Bisherigen unterscheidet. Dieser Ausnahmezustand birgt gleich viel Aktualität wie Wahrscheinlichkeit und ist von unbekannter Dauer.

XC
02:52:15:92

Dies geschieht bei einem einzigen Selbstmordanschlag. Stellen wir uns nun vor, was geschehen würde, wenn mehrere solcher Taten aufeinander folgten. Wir sind Ziel eines Selbstmordattentäters, und jedes Mal entgeht er uns durch seinen Tod. Unser Sicherheitssystem kann mit solch einem Fall nicht umgehen, noch kann es unser Justizsystem. Und doch sind beide Systeme dazu aufgerufen, einen Weg zu finden, um damit umgehen zu können. Beide Systeme werden geradezu gezwungen, Möglichkeiten zu finden, ein Selbstmordattentat zu verhindern und damit ihre Unfähigkeit zu überwinden, was wiederum darauf abzielen würde, ein Verbrechen verhindern zu wollen, das von TäterInnen begangen wird, die den Tod nicht fürchten. Ganz im Gegenteil: deren Tod das eigentliche Werkzeug ihres Verbrechens ist. Dies wiederum würde bedeuten, die Lebenden in ihrem Leben zu ersticken.
Die MörderInnen sind umgekommen. Es bleibt kein anderer Ausweg, als sich vor solch potenziellen MörderInnen auf ähnliche Weise zu schützen. Wobei solche Schutzmaßnahmen zur Folge haben, dass die bedrohte Gesellschaft zusätzliche Verluste zu ertragen haben wird, im rechtlichen wie im zivilen Bereich.

XCII
02:55:07:90

Die Mörder sind umgekommen. Dadurch entgingen sie ihrer Strafe. Doch die Angst vor NachfolgerInnen wird Gesellschaften veranlassen, sich selbst Strafen aufzuerlegen. Kann man in diesem Fall schlussfolgern, dass sich die Sache nicht mehr auf einen Mörder oder eine Mörderin beschränkt, der/die sich einer Bestrafung entzieht, sondern dass dies bedeutet, dass jene, die dem Attentat entkommen sind, nun bestraft werden? Dass nun die Überlebenden bestraft werden – jene, die aufgrund ihrer Angst vor dem Tod nur allzu bereit sind, ihr Leben einzutauschen? Ihr eigenes Überleben zu tauschen gegen all jene erworbenen Rechte, auf die vor dem Attentat niemals hätte verzichtet werden können?

 

Übersetzt von Magda Assem

 

1 Sana Mehaydali, Libanesin, sprengte sich 1985 nahe eines israelischen Militärkonvois im Südlibanon in die Luft; wird als erste Selbstmordattentäterin betrachtet. (Anm. d. Ü.)
2 Abu Abdullah Muhammad Ibn Battuta (geb. am 24. Februar 1304 in Tanger/Marokko; gest. 1368 oder 1377 in Marokko): Im arabischen Kulturraum berühmter berberischer Forschungsreisender des 14. Jahrhunderts, der auf seinen Reisen mehr als 120.000 Kilometer zurücklegte. Seine Reiseaufzeichnungen gehören bis heute zur arabischen Standardliteratur. (Anm. d. Ü.).