Heft 4/2010 - Lektüre



Georges Didi-Huberman:

Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille

München (Wilhelm Fink Verlag) 2010 , S. 72

Text: Peter Kunitzky


Monsieur Breton war auf Monsieur Bataille gar nicht gut zu sprechen: »Monsieur Bataille, der zurzeit in der Zeitschrift ›Documents‹ einen vergnüglichen Feldzug führt gegen das, was er ›den schmutzigen Durst nach jeglicher Integrität nennt‹. [...] Er, der tagsüber seine vorsichtigen Bibliothekars-Finger über alte, oft reizvolle Manuskripte gleiten lässt, er weidet sich des Nachts an dem Unrat, mit dem er sie gern beladen sehen möchte«, so lauteten etwa die Anwürfe aus dem »Zweiten Manifest des Surrealismus« (1930), das der in seiner Eitelkeit und Allmacht getroffene André Breton als Forum nutzte, um über seine Widersacher Gericht zu halten. Doch dieses »argumentum ad hominem« traf auch einen wahren Kern, denn Batailles Wesen war tatsächlich von aufreizender Ambivalenz: einerseits der einen durchaus bourgeoisen Habitus pflegende biedere Bibliothekar (der Bibliothèque Nationale), andererseits der aufrührerische Philosoph der Verfemung und Überschreitung, der Prediger des Exzesses, ja der Pornograf, der – einer guten französischen Sitte folgend, man denke hier beispielsweise an Sartre oder Camus – seine Ketzereien nicht nur in theoretischen, sondern auch literarischen Schriften unters aufgeschlossene Volk brachte. Gerade die Erotika (»Die Geschichte des Auges«, 1928) trugen ihrem zeitlebens randständigen, keiner Clique wirklich zugehörigen Autor eine gewisse Berüchtigtheit ein.
Weniger bekannt, wenigstens hierzulande, dürfte freilich sein, dass Bataille – wie obiges Zitat erhellt – auch als Publizist wirkte: In den Jahren 1929 und 1930 firmierte er nämlich als »Generalsekretär« der Zeitschrift »Documents«, die ihr Financier, der Galerist Georges Wildenstein, gerne als herkömmliche, das heißt bloß um die damals modische primitive Kunst erweiterte »Gazette des beaux-arts« lanciert hätte, die Bataille und seine Mitstreiter, neben anderen Widersachern Bretons vor allem Carl Einstein und Michel Leiris, aber im Gegenteil als Anathema jeder intellektuellen und ästhetischen Konvention begriffen. Dass die Sprengkraft dieses Sabotagewerkes jedoch nicht nur von solchen textlichen Extravaganzen wie den Einträgen des berühmten »Kritischen Wörterbuchs« – jenem mit geradezu dadaistischem Furor, aber trotzdem großem Bedacht vorgetragenen Generalangriff auf Semantik und Systematik – herrührt, sondern sich insbesondere einem elaborierten und von Bataille selbst verantworteten Bildprogramm verdankt, hat Georges Didi-Huberman in einer groß angelegten Studie nachzuweisen versucht, die mit 15-jähriger Verspätung nun auch ins Deutsche übertragen wurde. Diese Verzögerung ist durchaus zu bedauern, weil der von Bataille entlehnte Begriff des Formlosen, den Didi-Huberman hier fruchtbar zu machen versucht, eben – wenn man von der postmodernen Subjektphilosophie einmal absieht – vor allem Mitte der 1990er-Jahre im Schwange war, da er sich in solchen Phänomenen wie der von Rosalind Krauss und Yve-Alain Bois konzipierten Ausstellung »L’Informe« im Pariser Centre Pompidou oder überhaupt der abjekten Kunst materialisierte.
Das Formlose wird von Didi-Huberman freilich nicht als einfache Negation der Form, als stabile Nichtform bestimmt, sondern als eine Bewegung, als ein Prozess, der zu einer – wenig überraschend – Überschreitung der Form führt; genauer gesagt zu einer Überschreitung oder einem tentativen Umsturz des Axioms, »dass jedes Ding seine Form hat«. Bataille verwirft mithin die Vorstellung einer essenziellen oder substanziellen Form und präferiert stattdessen eine Sichtweise, wonach die Form als fortwährender Unfall/Zufall gedacht werden muss. Diese akzidentielle Formauffassung lässt naturgemäß den Ähnlichkeitsbegriff nicht unberührt, und das in besonderer Hinsicht auf den Menschen. Dessen Selbstähnlichkeit, die im letzten und metaphysischen Sinne eine Gottähnlichkeit ist, bestreitet Bataille flamboyant, indem er ein solch idealisiertes Menschenbild auf vielfältigste Weise zu zersetzen trachtet – sei es, dass die menschliche Figur als lächerlich, disproportioniert oder zermalmt präsentiert wird. Wobei jener dementierende Effekt in der Hauptsache durch ein Montageverfahren hergestellt wird, das Formen sowohl in Kontakt als auch Kontrast bringt, das Formen sowohl vernäht als auch zerreißt, Formen sich an Formen, aber auch an Materien reiben lässt und das, wie Didi-Huberman hellsichtig herausstreicht, frappant an das Vorgehen Sergej Eisensteins erinnert (wie übrigens auch an dasjenige Aby Warburgs bei der Erstellung des »Bildatlas Mnemosyne«). Deshalb darf es auch nicht verwundern, dass Bataille – aufgrund seiner Art, Bilder zu denken, Prozesse gegen Ergebnisse, Relationen gegen fixe Terme und die Materie oder das Material gegen die Idee auszuspielen – letztlich so ein verständnisvoller Parteigänger und Förderer der künstlerischen Avantgarden der 1920er-Jahre (Picasso, Masson etc.) wurde.