Heft 4/2010 - Lektüre



Sandra Schäfer:

stagings. Kabul, Film & Production of Representation

Berlin (b_books) 2009 , S. 75

Text: Marina Vishmidt


Die Frage nach der Beziehung zwischen Realität und Fiktion im Dokumentarfilm ist ebenso lästig und hartnäckig wie die nach der Entstehung des Subjekt- und Objektgedankens im westlichen Denken. An ihrem Höhepunkt vor mehr als 30 Jahren lokalisierte die psychoanalytische Filmgrammatik den Darstellungsanspruch des Bildes in einem, dem Subjekt innewohnenden Mangel. Der Zugang des Subjekts zum Realen wurde buchstäblich auf den blinden Fleck der Retina projiziert. Der Dokumentarfilm selbst stand indes in dieser Streitfrage immer eher auf der Seite der Realität. Er wollte die Lücke zwischen Wirklichkeit und ihrer Darstellung schließen. Seine Stellung in diesem Diskurs ist folglich sogar noch problematischer – eine Verlegenheit, der sich auch die experimentelle Filmemacherin und Theoretikerin Trinh T. Minh-ha angenommen hat. Sie machte im Dokumentarfilm denselben »Realitätskomplex« wie in seinen Nachbardisziplinen Ethnografie und Anthropologie aus. Alle drei würden Wahrheiten über den Menschen mittels Beobachtung formulieren wollen, was ihr selbst mit den effektiven Methoden der postkolonialen und feministischen Kritik gelang. Nach Trinh kann der Dokumentarfilm nie »von«, sondern nur »nahe« seinen Personen sprechen. Seine humanistischen und empiristischen Voraussetzungen enthielten bereits die Trennung von Darstellendem und Dargestelltem – von Subjekt und Objekt also –, weswegen in der Lücke dazwischen nicht spontan die Wahrheit zum Ausdruck kommen könne.
Und doch bleibt die Ausgangsfrage bestehen, vielleicht sogar verschärft durch das zusätzliche Problem, ob sich ein »Sprechen neben« nicht vor der Rolle der Macht drückt, die DokumentarfilmerInnen notgedrungen einnehmen, oder ihr einen ethischen Anstrich geben, den sie in den »naiven« Verhältnissen davor nicht hatte. Lenkt man so einfach von den sozialen Bedingungen ab, die das Filmen möglich machen und durch das Filmen verändert werden? Der Eingriff der FilmemacherInnen in die Realität, das interpretierende Hinweisen auf die Aufmerksamkeit der Gefilmten ist kein Allheilmittel. Sie kann nämlich Zweifel an der Realität des gefilmten Objekts signalisieren oder aber auch die Reflexivität dazu benutzen, die Illusion zu zementieren, indem sie sie noch wahrscheinlicher macht.
In ihrem Reader »stagings. Kabul, Film & Production of Representation« versammelt Sandra Schäfer Dokumentationsmaterial und Reflexionen über mehrere Filmprojekte, die sie seit 2002 zusammen mit Elke Brandenburger und Darstellerinnen, StudentInnen und FilmemacherInnen in Afghanistan durchgeführt hat. Es handelt sich um eine dichte und provokante »Reassemblage«, um einen Filmtitel von Trinh zu bemühen, mit Essays von Schäfer, Madeleine Bernstorff und Nelofer Pazira, Interviews mit dem »Osama«-Regisseur Siddiq Barmak und der Aktivistin Diana Saqeb sowie Berichten über die Zusammenarbeit mit der Schauspielerin und Pädagogin Aiqela Rezaine, der Filmmogulin und Action-Darstellerin Saba Sahar sowie Hamida Refah. Zwischen den im Buch besprochenen und präsentierten Filmprojekten herrscht eine sehr präzise Dialektik von Genderperformance und Objektivitätsanspruch. Eine Kamera und ein Kopftuch fungieren als verbindendes Motiv und auch zur Gliederung des Gesagten und des Verschwiegenen. So können sowohl die politische als auch kulturell-kinematografische Darstellung von den einzelnen Protagonistinnen überraschend stark artikuliert werden. Der Zerfall der afghanischen Gesellschaft durch Dauerkrieg und die strengen sozialen Rollenvorschriften für die Frauen sind jene materiellen Bedingungen, die nicht nur den Alltag prägen, sondern auch das Image in den lokalen und internationalen Medien – und zwar von schundigen Actionknüllern bis zu westlichen Kunstinstallationen. Ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen performativen Geschlechterrollen und der performativen Realität des Dokumentarfilms einerseits sowie für die Untrennbarkeit von Bildpolitik und Tagespolitik andererseits ist jene afghanische Sage im Buch, die Schäfers und Brandenburgers Film »Passing the Rainbow« (2007) den Namen gegeben hat. Mädchen und Buben können ihre Geschlechterrollen erst tauschen, wenn sie am Regenbogen vorbeikommen. Ein weiteres Beispiel ist jene Episode, die Schäfer ursprünglich zu ihrer filmischen Beschäftigung mit dem Milieu afghanischer Frauen gebracht hat. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus »Osama« (2002), in dem ein Frauenprotestmarsch gegen das Verbot von Frauenarbeit durch die Taliban nachgestellt wird. 1.000 Statistinnen, deren Lebensumstände so von Hunger und Armut geprägt sind, dass der Unterschied zwischen sozialer Realität und Film zu verwischen droht, verlangen genau dieselben Veränderungen wie im Film.
Die Tausenden mit Burka verschleierten Frauen, die auf die Straße gehen, zeigen ein Paradox auf, das mit liberaler Rücksicht hinsichtlich der extremen Unterdrückung der Frauen in der afghanischen Kultur nicht gelöst werden kann. Eines der Ziele der Filmprojekte und langfristigen Gemeinschaftsarbeiten Schäfers und Brandenburgers, die im Buch präsentiert werden, ist die Aufdeckung der Instrumentalisierung von Frauenschicksalen in Ländern wie Afghanistan für den imperialistischen Krieg und für humanitäre Zwecke, die diesen rechtfertigen sollen. Die politische Wucht beruht dabei großteils auf der Betonung der Konstruiertheit und Formbarkeit der scheinbar so gereizten Wirklichkeit und auf dem nicht darstellbaren Unterschied zwischen den Erlebnissen der Frauen vor Ort und deren Wiedergabe durch engagierte Fremde. Die Maschinerie der »Geschlechterrollen« ist dabei entscheidend. In einer Fußnote zu ihrem Aufsatz verweist Madeleine Bernstorff auf einen Text von Bill Nichols, in dem er meint: »Was wir in einem System als Ethik begreifen, kann in einem anderen Politik sein.« Auch wenn die Organisatorinnen der in »stagings« gesammelten Werke nicht behaupten können, die Widersprüche, die in dieser Aussage und ihrer Arbeit selbst enthalten sind, zu lösen, appelliert ihr Buch doch stark an die Reflexivität – als Kraft, die sowohl im Sozialen als auch als formale Filmmethode Wirkung zeigt.

 

Übersetzt von Thomas Raab