Heft 1/2011 - Artscribe


»Habiter poétiquement le monde«

25. September 2010 bis 30. Januar 2011
Lille Métropole Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut (LaM), Villeneuve d’Ascq / Villeneuve d’Ascq

Text: Guillaume Désanges


Villeneuve d’Ascq. Jene Ausstellung, die historisch gesehen die meisten BesucherInnen anzog, war jene über »entartete Kunst«. Sie war in den 1930er-Jahren von den Nazis organisiert worden und wurde von mehreren Millionen Menschen besucht. In dieser Wanderausstellung wurde eine Parallele zwischen der Kunst Verrückter, jener von Kindern und der damaligen Avantgarde gezogen. Dadurch, dass gerade dieses, auf ästhetischer und ideologischer Ebene reaktionäre Regime eine solche Verbindung hergestellt hatte, trat die wichtige Grundbedeutung dieses Zusammenhangs in den Hintergrund und wurde in der Folge für Institutionen praktisch unmöglich gemacht. Es kam zu einer Art Verdrängung, die viel über den Fortbestand eines tiefen Unbehagens sowohl in Bezug auf die moderne Kunst als auch auf die Psychiatrie aussagt. Hans Prinzhorn, der mit seinen Arbeiten Künstler wie Paul Klee und Dubuffet beeinflusste, stellte allerdings schon in den 1920er-Jahren in seiner Heidelberger Klinik eine Verbindung zwischen moderner Malerei und dem, was später Art Brut werden sollte, her. Sollte man daher nicht eher, anstatt von der gemeinsamen Ablehnung der modernen Kunst und der Geisteskrankheiten durch die Feinde der Intelligenz und des Fortschritts peinlich berührt zu sein, sein Augenmerk auf die gemeinsame Widerstandskraft der Kunst und mancher konstruktiver Formen von Psychiatrie lenken? Also auf den Ausdruck eines bestimmten Verhältnisses zur Welt, auf eine bestimmte, von einer Minderheit vertretene und an den Rand gedrängte Position, die sich nicht in den Rahmen der Uniformierung von Affekten und Perzepten pressen lässt. Heute wurde es durch das Wiederaufleben einer Standardisierung von Verhaltensweisen, die dem Faschismus den Weg bereiteten, sogar notwendig, diese peripheren Positionen aktiv zu bekräftigen.
Anlässlich der Wiedereröffnung des Museums für moderne Kunst in Villeneuve d’Asq, in dessen Besitz sich zahlreiche Werke der Art Brut befinden, organisierte dieses zusätzlich zu seinen Dauersammlungen eine Ausstellung mit dem Titel »Habiter poétiquement le monde« (Die Welt poetisch bewohnen). Sie wurde gemeinsam von Savine Faupin, Christophe Boulanger und François Piron kuratiert und stellte den oben erwähnten Zusammenhang, der an sich sehr heikel sein könnte, mit Intelligenz und etwas Abstand in den Mittelpunkt der Schau. Darin wird der Werdegang von einigen, hauptsächlich konzeptuellen KünstlerInnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, und zwar nicht auf der Basis der Art Brut, deren Definition Unbehagen hervorruft, sondern ausgehend von einigen ihrer Grundvoraussetzungen und Themen. Es geht um Praktiken, die im Zustand der Obsession, der Repetition, der Einsamkeit, des Glaubens oder der Magie eingesetzt werden und sich um Begriffe wie das Alltägliche, das Archiv des Selbst, die Kunst als Spur von Erfahrungen oder als selbstständiges System drehen. Es soll aufgezeigt werden, welch verschiedene Arten es gibt, das Leben »aufzuführen«, das heißt, es zu »bewohnen«, indem man sich einen anderen, eben »nicht spektakulären« Blick darauf aneignet, womit am ehesten das bezeichnet wird, was Harald Szeemann »individuelle Mythologien« nannte. Daraus entstehen winzige und intime, manchmal einfach leicht verschobene Ausdrucksformen, die unser Verhältnis zur Welt insofern umkehren, als dass sie das Außerordentliche in den Mittelpunkt des Gewöhnlichen stellen, das Große ins Kleine, den Luxus in armseliges Material, das Anderswo in die tägliche Geste. In diesem Sinne wird Kunst nicht als eine höher stehende, sondern als eine alternative, am Rande angesiedelte und autonome Tätigkeit gesehen.
Wie als Widerhall zu diesem Thema legt die Ausstellung das Hauptaugenmerk auf KünstlerInnen, die eher außerhalb des Geschichtszentrums angesiedelt waren – von den persönlichen Archiven von Anna Oppermann (einer Sammlung von Notizen und Objekten, die nach und nach in manche »Baustellen« einflossen) über die quasi unsichtbaren Aktionen auf Straßen und Plätzen in Prag von Jiri Kovanda in den 1970er-Jahren bis zu den auszuführenden Skulpturen von Franz Erhard Walther und den Minimalismus Helen Mirras, die Material verwendete, das mit Geschichten und Erinnerungen beladen ist. Auch die programmatische, quasi spiritualistische Praktik des Slowaken Stano Filkos, eine überquellende und obsessionelle Installation Thomas Hirschhorns, welche für Robert Walser die Form eines »Wasserfalls« annahm, in der die Mittel der Kunst zwar ohne Virtuosität, aber mit Engagement und dem Gefühl einer Dringlichkeit eingesetzt werden, sind zu sehen. Zu erwähnen ist auch die Präsenz von Leitfiguren der Literatur wie Robert Walser und die selten vorgestellten mythischen Mikrogramme, die er an den Rand von Büchern in einer so kleinen und geheimnisvollen Schrift geschrieben hatte, dass man lang brauchte, um sie zu entziffern; auch Stéphane Mallarmé sowie W. G. Sebald und seine Arbeitsunterlagen, in denen Herumirren, Kartografie und Erinnerung miteinander verbunden sind, werden vorgestellt. Wir finden weiters Arbeiten von Lygia Clark, Alighiero e Boetti, Stanley Brown, Ian Wilson und Absalon, die im Lichte dieser nicht scharf umrissenen und subtilen Thematik neu bewertet werden, wie auch jene Rosemarie Trockels oder Aija Celmins’ faszinierende Zeichnungen vom Meer oder von Spinnennetzen.
Ob die Werke nun minimalistisch oder üppig, virtuos oder simplistisch, abstrakt oder gegenständlich seien – was sie gemeinsam haben, ist nicht die Form, sondern ein gewisser »Gefühlshaushalt« der Arbeit, unabhängig von der Ästhetik. »Intensität findet immer ihren Weg«, sagte Harald Szeemann über die Fotografien Miroslav Tichys. Dies ist mehr eine Frage der Position und des zurückgelegten Weges als eine des Terrains. Nach dem Beispiel einiger Praktiken, die als Art Brut oder Outsider Art bezeichnet wurden, wie unter anderem jene des Briefträgers Cheval, der über viele Jahre hinweg an seinem »Palais idéal« baute oder jene des eigenartigen A. G. Rizzoli, der Porträts von Bekannten in Form von Zeichnungen von unwahrscheinlicher und utopischer Architektur anfertigte, schuf jeder dieser »Insider«-Künstler sein eigenes, oft unbenennbares System, indem sie auf die Kraft der bildenden Künste als Ersatz für eine gewisse diskursive Ratio setzten. Paradoxerweise ist diese Annäherung von Minderheitspositionen vielleicht Teil eines gewissen Universalismus, insofern nämlich, als Geisteskrankheiten eher als soziale Differenzierungen denn ontologisch betrachtet werden, als graduellen und nicht als Wesensunterschied. In jedem Fall weisen diese gleichermaßen subversiven wie lebensnotwendigen Positionen stumm, bloß durch die Abwesenheit dieser Krankheiten bei sich, Uniformierung und »Normopathie« als das wirkliche Leiden aus.

 

Übersetzt von Isolde Schmitt