Unabhängig von jeder etwaigen Handlung ist der Grund, warum wir für 3-D-Filme mehr zu zahlen bereit sind als sonst (oder überhaupt noch ins Kino gehen), der 3-D-Effekt – der Tiefeneindruck, das Gefühl, dass uns Gegenstände förmlich »entgegenspringen«. Das 3-D-Kino ist mithin eine Fortsetzung dessen, was Tom Gunning »Kino der Attraktionen« genannt hat.1 Gunning meint, dass bereits die frühesten Filme diesem Kino zuzuordnen waren. Die Sinne der ZuschauerInnen wurden optisch geschockt, Bilder stürmten auf das Publikum ein. Obwohl Filme wie »Avatar« der Auffassung widersprechen, dass das 3-D-Kino auch heute nicht viel mehr als eine Attraktion, gleichsam eine filmische Achterbahn ist, ist es doch kein Zufall, dass viele der jüngsten 3-D-Filme auf eher niedrigem Niveau rangieren. Es sind Horror- oder Fantasy-Filme, die von »Action« und nicht von der Handlung leben. Obwohl einige 3-D-Filme durchaus Handlung und Spektakel vereinen können, vermitteln die meisten den Eindruck, dass die Handlung nur ein Vorwand für das Spektakel ist – ein »Pausenfüller« zwischen den Action-Szenen.
»Step Up 3-D« (2010) von Jon Chu zum Beispiel ist wie ein Porno aufgebaut. Die Tanzszenen demonstrieren die neuen Techniken des Genres. Die Tanzenden fliegen gleichsam in den Kinosaal hinein. Der zweidimensionale Handlungsstrang dazwischen wirkt indessen wie eine öde Seifenoper. »Piranha 3-D« (2010) von Alexandre Aja gibt den Bezug zum Pornogenre sogar freimütig zu, ist seine Hauptfigur doch ein Pornoregisseur. Wie die tödlichen Piranhas wartet auch das Publikum nur auf die nächste bestialische Action-Szene.
Ein Musterbeispiel für das Kino der Attraktionen ist laut Gunning »L’Arrivée d’un train à la Ciotat« (1895) von den Brüdern Lumière. Wie man weiß, wird dieser Film gern damit in Zusammenhang gebracht, dass das damalige Publikum so naiv gewesen sei, das Bild des auf sie zurasenden Zugs mit einem echten Zug zu verwechseln, worauf sie in Panik davonliefen. Christian Metz indessen nennt dies einen Mythos. Das Publikum von heute sei einfach zu leichtgläubig, was die Kinderjahre des Films betreffe. Der Mythos des damals naiven Kinobesuchers erlaube uns, unseren eigenen Glauben an die Kinoillusion zu leugnen.2 Das 3-D-Kino liefert, wenn auch mit anderen Mitteln, eine ganz ähnliche Illusion. Es sieht so aus, als kämen Gegenstände auf einen zu. Deswegen versinkt es in seinem Status als Attraktionskino – als wäre das Publikum gänzlich unfähig, die Illusion zu erkennen.
»Final Destination 3-D« (2009) von David R. Ellis ist vielleicht das beste Beispiel für 3-D als Attraktionskino. Es handelt sich um den dritten Teil der »Final Destination«-Serie. Es geht um Katastrophen, die dreidimensional beinahe so greifbar wirken, als flögen dem Publikum tatsächlich die Dinge um die Ohren. In einer Szene, in der die Dreidimensionalität des Films selbst thematisiert wird (laut Gunning machte der frühe Film genau dasselbe), hören wir jemanden »Ihr Scheißidioten!« schreien. Dann sehen wir einen grässlichen Unfall, bei dem das gesamte Publikum im 3-D-Kino in Flammen umkommt. Wie in den anderen Filmen der Serie ist diese Szene aber nur ein Vorgriff. Das Publikum wird schließlich vor der Katastrophe gerettet. Offenbar mögen die Filmemacher ihr Publikum nicht besonders, das dafür bezahlt, mit Dingen beworfen zu werden, können es andererseits aber auch nicht töten. Immerhin zahlen diese Idioten ja!
Die Doppelbödigkeit dieser Szene – fiktive Katastrophe, gerettetes Publikum – belegt die Zugehörigkeit des 3-D-Kino zum Kino der Attraktionen. Glaubt man Gunning, dann war das Publikum von »L’Arrivée d’un train à la Ciotat« nicht so einfältig, einen Filmzug mit einem echten zu verwechseln. Stattdessen seien sie von der Illusion des Kinoapparats selbst ergriffen gewesen. Gunning schreibt, dass in den ersten Vorführungen der Lumière-Brüder zuerst nur Standbilder gezeigt wurden, die sich dann langsam zu bewegen begannen. »Der Betrachter verwechselte nicht das Bild mit der Realität, sondern war erstaunt über die Verwandlung der Realität durch die neue Illusion der Filmprojektion. Er war ganz und gar nicht leichtgläubig, sondern sprachlos angesichts der Unglaublichkeit dieser Illusion.«3
Auch wir laufen nicht, wie in »Final Destination 3-D« dargestellt, vor Angst weg, wenn etwas von der Leinwand auf uns zufliegt. Auch wenn die Szene Todesgefahr vorspiegelt, wissen wir doch immer, dass wir uns im Schutz des Kinosaals befinden. Davonlaufende ZuschauerInnen sind ein Mythos des 3-D-Kinos, das nicht nur sein Publikum latent verachtet, sondern auch mythisch an seine eigene Macht glaubt. So wie das Publikum der frühesten Filme sind auch wir nicht naiv. Wir glauben nicht, dass echte Gegenstände auf uns zufliegen, sondern sind über die neue Technik und die dreidimensionale Illusion erstaunt. Nur das ergreift uns. Wir wissen, dass wir nicht verletzt werden, genießen aber die Vorstellung eines echten Unglücks.
Im 3-D-Kino sind die Bilder nicht mehr an eine flache Leinwand gebunden, sondern spuken wie Geister durchs Kino. So gesehen ist dieses Genre ein Abkömmling der Phantasmagorien, sogenannter Geistervorführungen im späten 19. Jahrhundert, die »Gespenster« mithilfe der Laterna magica zum Vorschein brachten. Im Dunkeln konnten dem Publikum mittels unsichtbarer Leinwände fantastisch leuchtende Gestalten vorgemacht werden, die unerklärlich durch die Luft schwebten. Wie auch das frühe Kino der Attraktionen vermittelten diese Phantasmagorien zwischen rationalen und irrationalen Imperativen. So schreibt Terry Castle, dass ihre Produzenten nicht selten behaupteten, ihr Unterhaltungsprogramm diene der öffentlichen Aufklärung. Das Publikum würde durch die optischen Illusionen vor ihrer eigenen Einbildung geschützt. Doch dieser Vorwand löste sich ins Nichts auf, sobald die Schau begann. »Alles wurde schamlos zugunsten der übernatürlichen Wirkung ausgenutzt. Das Publikum wurde ins Dunkel verbannt und unheimlichen Geräuschen ausgesetzt. Dann begann eine schaurige, bizarre und letztlich wirre Gespensterparade. Die Illusion war sichtlich so überzeugend, dass manche die auf sie ›einstürzenden‹ Phantome mit den Händen abzuwehren versuchten oder in Panik hinausliefen.«4
Auch das 3-D-Kino arbeitet mit dieser Technik. Das Publikum wird einerseits in eine durchschaubare, sichere und gewohnte Situation versetzt, andererseits aber dem Fantastischen, Übernatürlichen oder Virtuellen anheimgegeben. So spielt »Final Destination« zugleich auf irrationale Ängste und das Wissen um die eigene Sicherheit an. Obwohl wir wissen, dass es sich »nur« um einen Film handelt, soll uns der Eindruck vermittelt werden, dass da vielleicht doch noch mehr ist. Dieser Eindruck entsteht, weil im 3-D-Kino die Leinwand als Grenze fungiert, die darauf hinweist, dass sie überschritten werden wird.
Jean-Louis Baudry hat darauf hingewiesen, dass das Kinopublikum, obwohl es in Gedanken frei bleibt, wie Häftlinge in seiner Bewegung eingeschränkt im Saal festsitzt. Diese hemmende und doch genießerische Gefangenschaft folgt, so Baudry, aus einem »Dispositiv«, das die ZuschauerInnen im Sinne Althussers ideologisch positioniert. Die physische Konvention des Kinos stelle eine gewisse Geisteshaltung her. Dass die ZuschauerInnen sich physisch auf vorgegebene Weise verhalten müssen, führe zu seiner Regression: »Die Dunkelheit im Kinosaal, die relative Passivität, die erzwungene Bewegungslosigkeit des Kinozuschauers, der Kinoapparat – all das führt zu einer künstlich hergestellten Regression.«5
Während sich viele Rezensionen von »Avatar« auf dessen Kolonialstory konzentrierten (Aliens werden von weißem Messias gerettet), ist der Film auch unter dem 3-D-Aspekt äußerst aufschlussreich. Wie in Hitchcocks »Das Fenster zum Hof« (1954) ist der Protagonist körperlich gehandicapt und reist mithilfe der Kinotechnik in andere Welten. In »Avatar« erscheint der menschliche Körper künstlich und verstümmelt, während die Navi-Aliens vollständige und natürliche Körper haben, die in symbiotischer Harmonie mit der Natur leben. Der Widerspruch der Geschichte besteht darin, dass wir, um wieder »natürlich« zu werden, unsere Körper verlassen müssen, und zwar mit technischen Hilfsmitteln. Was im Film aber als natürlich erscheint, ist in Wahrheit virtuell. Wir sehen eine irreal perfekte Welt, die von unnatürlich phosphoreszierenden Farben erleuchtet ist.
Die Fantasie der 3-D-Technik speist sich also zugleich aus der Phantasmagorie der Vergangenheit, wie sie in eine virtuelle Zukunft weist. Unsere Beschränkungen sollen durchbrochen werden, neue Körper in neuen Welten erwarten uns. Das 3-D-Kino ist das fehlende Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Doch kann es sich nicht völlig von den Ketten seines Dispositivs lösen. Die Technik von »Avatar« ist ein Vehikel für das Bewusstsein der ZuschauerInnen, doch bleiben ihre Körper an den Kinositz gefesselt. Das Publikum bekommt einen dreidimensionalen Einblick in andere Welten, bleibt aber letztlich gehemmt. Trotzdem hängt die Auflösung der Leinwandfläche mit der Auflösung des Subjekts zusammen. Gänzlich ins Virtuelle einzutreten, bedeutet nämlich, beide abzuschaffen. Wenn der Protagonist in »Avatar« am Ende des Films durch seinen eigenen Körper reist, zeigt dies die vorläufige Grenze des 3-D-Kinos.
Übersetzt von Thomas Raab
1 Vgl. Tom Gunning, The Cinema of Attraction: Early Film, Its Spectator, and the Avant-Garde, in: Wide Angle, Vol. 8, No. 3 & 4, 1986, S. 63–70 (dt. in: Meteor, Nr. 4, 1996, S. 25–34).
2 Vgl. Christian Metz, Der imaginäre Signifikant: Psychoanalyse und Kino. Münster 2000 (Französische Originalausgabe 1977).
3 Tom Gunning, An Aesthetic of Astonishment: Early Film and the (In)Credulous Spectator, in: Art & Text 34 (1989), S. 31–45.
4 Terry Castle, Phantasmagoria: Spectral Technology and the Metaphysics of Modern Reverie, in: Critical Inquiry, Vol. 15, No. 1, Herbst 1988, S. 26–61.
5 Jean-Louis Baudry, Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur: Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, S. 381–405.