Heft 3/2011 - Umbruch Arabien


Atlas Dubai

Zur Aktualisierung des Blattes 69 aus dem Atlas von Gerd Arntz und Otto Neurath

Alice Creischer, Andreas Siekmann


Seit 2003 arbeiten wir mit wechselnden Kooperationen an der Aktualisierung des »Atlas zu Gesellschaft und Wirtschaft«, der 1929/30 von dem Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath zusammen mit dem Künstler Gerd Arntz entwickelt wurde. Neurath hatte 1924 das Institut für Bildstatistik gegründet, eine Methode, die statistische Größenverhältnisse nicht proportional, sondern numerisch umsetzt. Man ist gezwungen, eine gewisse Zeit mit dieser Information zu verbringen, indem man zählt. In den Jahren 1931 bis 1934 entstanden ähnliche Institute in der UdSSR. Gerd Arntz war Mitglied der anarchosyndikalistischen Kölner Künstlergruppe Die Progressiven.
Arntz und Neurath flohen vor den Nationalsozialisten nach Den Haag. Dort wurde die »Wiener Methode der Bildstatistik« weiterentwickelt und in »International System of Typographic Picture Education« umbenannt. Das Akronym »ISOTYPE« brachte in seiner griechischen Nebenbedeutung auch einen Aspekt des bildstatistischen Programms von Neurath und Arntz zum Ausdruck – »immer dasselbe Zeichen«.1 An der Typisierung ist alles falsch. Arbeitslose stecken ihre Hände nicht in die Hosentaschen, MigrantInnen gehen nicht dauernd mit Koffern umher. Aber die Abstraktion, die Entindividualisierung, lässt die Relationen der Macht zwischen den Individuen deutlich werden, sie lässt die Darstellung von Gesellschaft als Erzählung von Einzelschicksalen, die zu Herzen gehen, nicht mehr zu. Sie politisiert. Arntz schreibt: »Es müsste noch untersucht werden […], wie weit die verschiedenen Gebiete und besonders die Darstellung sozialer Kämpfe umformend wirken würden auf die Methode selbst, die jetzt in einer gewissen demokratischen ›Objektivität‹ angewandt wird.«2 Bei der Aktualisierung des Atlasses geht es uns darum, diese enge Verbindung von künstlerischem und politischem Engagement weiterzuverhandeln.
Für das Projekt »Islands and Ghettos« (Heidelberger Kunstverein 2008) haben wir Blatt 69 aktualisiert. Es befindet sich in einer Reihe von Blättern zur städtischen Entwicklung, die sich dem Wachstum der Struktur und der Einwohnerzahl der Städte durch Migration widmen. Migration impliziert ökonomische Verwerfungen. Dubai mit seinem überproportionalen Anteil von WanderarbeiterInnen an der Gesamtbevölkerung (verschiedenen Schätzungen nach ca. 85 bis 95 Prozent) und den sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen ist ein extremes Beispiel für diese Verwerfungen.
Recherchen über Dubai bewirken oft ein atemloses Staunen: die größte Shoppingmall, der größte Flughafen, die gigantischen Dimensionen der neuen Bauprojekte. Die im Netz abrufbaren Karten sind Bestandteil eines Stadtbrandings, das jede Beurteilung mit Superlativen verstopft. Die Immobilienkonsortien schaffen nicht nur eine Logistik der Arbeiter- und Materialströme, sondern diese Logistik scheint sich auf den Lebensentwurf der BewohnerInnen beziehen zu lassen. Dubai schöpft seinen Reichtum aus den zahlreichen Freihandelszonen, den verkehrstechnischen Hubs, der Tourismusindustrie und einem Anlegerkapital, das in die »self-fulfilling prophecy« dieser Vorstellung von glücklichem Leben investiert, eine Suburbia-Seifenoper.
Wir haben zwei Blätter hergestellt. Das eine hält sich eng an die Vorlage. Das andere ist ein Zusatzblatt für die Ausbreitung des »Dubai-Modells« in der Menasa-Region (Nordafrika, Naher Osten und Südasien).

Dubai I
Wie in Blatt 69 zeigen wir die Entwicklung der Stadt und der Bevölkerung in vier Schritten: 1971 (Gründung der Vereinigten Arabischen Emirate, Beginn der Ölförderung), 1980 (iranische Revolution, Auswanderungswelle und Kapitalflucht von regimetreuen IranerInnen), 2001 (die strategische Bedeutung der Golfregion nach dem 11. September 2001, zum Beispiel hat der Waffen- und Söldnerkonzern Halliburton seinen Hauptgeschäftssitz in Dubai), 2010 (Datum der Fertigstellung der ersten Phase der neuen Bau-Events).3
Wir haben die Bevölkerung in BürgerInnen (mit Pass und Buttons, die auf ihre Rechte hinweisen) und NichtbürgerInnen (mit durchgestrichenen Rechten) gezeichnet. Dabei sind NichtbürgerInnen und ArbeiterInnen fast gleichzusetzen. Die ArbeiterInnen werden größtenteils für Bauarbeiten oder im Haushaltsbereich eingesetzt. Es liegt teilweise in der lokalen Tradition begründet, dass das Beschäftigungsverhältnis oft Formen von Leibeigenschaft annimmt. Der Arbeitgeber nimmt die Pässe der Beschäftigten an sich. Das Aufenthaltsrecht ist an den Arbeitsvertrag gekoppelt. Die Unterteilung in Bauarbeiter und Hauspersonal in den Icons entspricht einer vorhandenen Geschlechtsspezifik in männlich und weiblich. Wir haben bei den BürgerInnen den Anteil der Darstellung von Frauen in etwa der öffentlichen Präsenz von Frauen angepasst. Die Anzahl der illegalen ArbeiterInnen lässt sich nur vermuten. Sie entsteht in den Grauzonen der ineinander geschachtelten Hierarchie von Subunternehmen, die ein Effekt des Outsourcing Managments der großen Konzerne ist. Ebenso »illegalisierend« ist die Form des Immobilienangebots mit »Hotelierung«, das heißt mit bereits für die Immobilie angeworbenem Personal.4
2002 lockerte die Regierung in Dubai das Verbot des Eigentums von Immobilien für AusländerInnen, was einen Boom auf dem Immobilienmarkt hervorrief, meist städtische Subzentren, in denen Freihandelszonen mit Arbeits- und Wohnparks, Freizeitanlagen, Luxushotels, Malls und Erlebnisparks kombiniert sind (siehe die rosa Buttons an der Seite der Karten).
Ab Herbst 2004 gab es spontane Streiks der Bauarbeiter, die trotz starker Repressionen immer wieder aufbrechen.

Dubai II
»The Dubai Model […] has been cultivated mostly by semi-public companies based in Dubai and Qatar: Emaar, Sama Dubai, Nakheel […] DAMAC, and Qatari Diar. These corporations have established a euphoric construction zone of shopping centers, Mediterranean-style homes and luxury hotels within the largest swath of the globe barely touched by globalism. This once ignored void […] can now be listed alongside other world class luxury destinations. Resorts, second home villas and greened deserts are now the tell-tales of a new hybrid money management and foreign policy. Emaar claims that among its built and proposed projects, it will ›cover‹ 1,5 billion people more, than China’s population.«5 Bei der Darstellung dieser Zone beziehen wir uns auf die Grafik des von Ole Bouman, Mitra Khoubrou und Rem Koolhaas herausgegebenen Readers über Dubai, »Al Manakh«. Sie zeigt die Topografie eines Gürtels von Luxusvierteln und Geschäftsstädten von Nordafrika bis China. Es sind insulare Zentren als Ergebnis einer internationalen Finanzpolitik in nationalen Ökonomien, in denen der Großteil der Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebt, deren BIP aber durch die globalen Investmentfonds und ihre lokalen Schwitzbuden hochgetunt ist. In der Karte haben wir die Firmen, die Länder und die Art der Projekte dargestellt.
Nachtrag zur Höhe der Bausummen (in USD):
Nakheel: Dschibuti: 1,5 Mrd.; Saudi Arabien: 25 Mill.; Indien: 20 Mrd.
Limitless: Russland: 11 Mrd.; Pakistan; 20 Mrd.
Emaar: Tunesien: 1,88 Mrd.; Marokko: 6,9 Mrd.; Jordanien: 5 Mill.; Ägypten: 4,15 Mrd.; Saudi Arabien: 2,7 Mrd.; Syrien: 5 Mill.; Türkei: 5 bis 10 Mrd.; Indien: 5 Mrd.; Pakistan: 2,4 Mrd., Indonesien: »Multibillion Dollar Project«
Quatari Diar: Marrokko: 6 Mill.; Ägypten: ?; Sudan ?; Syrien: ?; Oman: ?
Sama Dubai: Marrokko: 2,5 Mrd.; Oman: 1 Mrd.; Türkei: 5 Mrd.;
Damac: Ägypten: 16 Mrd.; China: 2,7 Mrd.

Nach der Krise
Die Finanzkrise hat auch in Dubai einen Verfall der Immobilienpreise und eine Liquiditätskrise verursachte. Nach Schätzungen von Moody’s beliefen sich die Schulden Dubais 2009 auf 80 Milliarden Dollar, etwa 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Ab 2010 wurden neben der finanziellen Unterstützung durch das Nachbaremirat Abu Dhabi die staatlichen Bauunternehmen Dubais privatisiert. Die Eigentumsvorschriften, die bei Firmen vorsahen, dass 51 Prozent einem Emirati gehören müssen, sind gelockert worden. »Die Wirtschaft Dubais hat im ersten Halbjahr 2010 um 2,3 Prozent zugelegt – dank des wieder anziehenden Handels, der wachsenden Industrieproduktion und der zurückkehrenden Touristen. Für das kommende Jahr rechne das Emirat mit drei bis 3,5 Prozent Wachstum.«6
Dieser Aufschwung soll von Demokratiebewegungen und Arbeiterunruhen nicht behindert werden. »The United Arab Emirates has confirmed hiring a company headed by Erik Prince, the billionaire founder of the military firm Blackwater. According to the New York Times, the UAE secretly signed a $ 529 million contract with Prince’s new company, Reflex Responses, to put together an 800-member battalion of foreign mercenaries. The troops could be deployed if foreign guest workers stage revolts in labor camps, or if the UAE regime were challenged by pro-democracy protests like those sweeping the Arab world. Prince has one rule about the new force: no Muslims.«7

Der Text ist eine gekürzte und teilweise aktualisierte Fassung der Kommentarblätter zum Blatt 69, vgl. Islands and Ghettos, Heidelberger Kunstverein, 2008.

 

 

1 Ulf Wuggenig im Reader zum Kongress »Pläne zum Verlassen der Übersicht«, im Rahmen des Projekts »ExArgentina«, Hebbel Theater Berlin, November 2003.
2 Gerd Arntz, Bewegung in Kunst und Statistik, in: a bis z, theoretisches Organ der »Gruppe Progressiver Künstler«, Köln 1931.
3 Die Kartenvorlagen für 1971 und 1980 sind aus: National Atlas of The United Arab Emirates, UASE University, Al Ain, 1993. 2000 ist aus: Dubai Major Projects/www.gis.gov.ae. 2010 ist aus: www.squidoo.com/dubai-real-estate-dubai-property, Latest Dubai Map.
4 Building Towers, Cheating Workers, Exploitation of Migrant Construction Worker in the United Arab Emirates, Human Rights Watch Report, 12. November 2006, vgl. auch Island of Happiness, Bericht zur Lage der Arbeiter im Saadiyat Island Projekt, Human Rights Watch Report, 2008.
5 Volume/Al Manakh, Dubai 2007.
6 www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/laenderanalysen/zurueck-auf-dem-boden-der-tatsachen/3659858.html
7 www.democracynow.org/2011/5/18/jeremy_scahill_on_blackwater_founder_erik