Heft 4/2011


Ware Freundschaft

Editorial


»Gefällt mir«. Dieses rasant sich verbreitende Etikett ist zum Inbegriff einer neuen Freundschafts- und Freundlichkeitskultur geworden. Gefallen an etwas finden oder haben verliert mehr und mehr den Charakter subjektiven ästhetischen Geschmacks und wird stattdessen zu einer zentralen Schnittstelle medial vermittelter Gemeinschaftlichkeit. »Freundschaft« markiert in diesem Zusammenhang weniger die Verlängerung des individuellen Ichs in den sozialen Raum, als dass sie umgekehrt zu einer Art Relais mutiert, mittels dessen das Kulturelle (und Kulturindustrielle) seine Subjekte miteinander verschaltet. Die Anzahl von mehr als 800 Millionen aktiven BenutzerInnen des Netzwerkdiensts Facebook spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache – auch wenn nach wie vor gerätselt wird, welche Art von Freundschaft hier gerade dabei ist, weltweit implementiert zu werden.

Jedenfalls scheint sich das besagte Syndrom quer durch unterschiedlichste soziale Felder auszubreiten, und das in einer Zeit, die von mehr Differenzen und Unvereinbarkeiten als je zuvor gekennzeichnet ist. Die Verbreitung medial verlinkter Peer-to-Peer-Netzwerke, gleichzeitig aber auch die damit einhergehende Herausbildung abgeschotteter Interessenzirkel, schließlich die Ausprägung intensivierter Fan- und »Sharity«-Aktivitäten – all dies lässt zumindest ansatzweise auf das Entstehen neuer kommunitärer Strukturen schließen. Aber wie ist es um den Charakter von Freundschaftlichkeit innerhalb dieser Netze wirklich bestellt? In welchem Bezug stehen sie zur Zerrissenheit der globalen Multikultur? Welcher Art von Verdinglichung oder »Kommodifizierung« ist diese Form der Gesellschaftlichkeit ausgesetzt? Und schließlich: Welche Spuren hinterlässt die Netzwerkkulturalität im aktuellen Kunstgeschehen?

Fragen wie diese bilden den Kern der Herbst-Ausgabe, die der Thematik anhand verschiedenster Schauplätze nachgeht. Der Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han trifft im Gespräch eine Unterscheidung zwischen inflationär im Mund geführter Freundschaft und »Freundlichkeit«, die diesen Namen auch verdient. Nur in Letzterer sieht er eine tragfähige Basis, um Phänomenen des Anderen und Fremden in einer global zusammenrückenden Kultur gerecht werden zu können. Komplementär dazu verhält sich der Ansatz von Jan Verwoert: In seinem Plädoyer bricht er eine Lanze für einen Begriff von Freundschaft, der sich jeder Form von Ausbeutung und Vereinnahmung verweigert. Wie ein Horizont, der sich um ein Gemeinsames herum auftut, funktioniere Freundschaftlichkeit, so Verwoert, und nicht wie ein Produkt, das sich technisch, medial oder sonst wie intentional herstellen und in Folge einer Wertschöpfung zuführen ließe.

Die Beiträge von Alessandro Ludovico und Daphne Dragona befassen sich mit sozialen Netzwerken im engeren Sinne: Ludovico geht der Frage nach, wie Identität in diesen Netzen neu formatiert wird, ja wie die dort praktizierten Formen der Selbstdarstellung – sei es stärkend, unterwandernd oder korrumpierend – auf Identität zurückwirken. Daphne Dragona nimmt wie Ludovico verschiedene Facebook kritische Kunstprojekte als Ausgangspunkt, um ein grassierendes Phänomen zu umreißen, das dem Kapitalschlagen aus Freundschaft zuarbeitet: Es geht um den Prozess der »Gamifizierung«, sprich das immer stärkere »Zum-Spiel-Werden« (oder »Spielcharakter-Annehmen«) von gesellschaftlichen Beziehungen, wie sie in medialen Netzwerken gepflogen werden. Dass durchaus auch Alternativen zur Praxis der großen Social-Media-Dienstleister vorstellbar sind, unterstreicht Jana Herwig in ihrem Beitrag, der unter anderem den Aspekt der Verwaltbarkeit von Subjektivität und Persönlichkeitsprofilen aufgreift. Diesem häufig erhobenen Vorwurf lässt sich am besten so entgegentreten, dass den UserInnen – wie immer dies zu bewerkstelligen ist – die Kontrolle über ihre persönlichen Daten zurückgegeben wird.
Einen erweiterten Fokus setzt das Gespräch mit Ulf Wuggenig, der das Aufkommen und die Relevanz des Netzwerkbegriffs im Kunstfeld rekapituliert. Nicht nur verbergen sich hinter Euphemismen wie »Networking« und »Connecting« bis heute geradezu neofeudale Verhältnisse, sondern es ist dies auch ein Paradefall dafür, wie sich die Sozialbeziehungen innerhalb eines gemeinsamen Felds kapitalisieren lassen. Umgekehrt belegt der Fall des polnischen Kunst- und Theoriekollektivs Krytyka Polityczna, den Herwig G. Höller aufrollt, welche produktiven Effekte ein geballter, in kurzer Zeit expandierender Interessenverbund über das künstlerische Feld hinaus zeitigen kann.

Zusammen mit weiteren Features, etwa über ein norwegisches Archivprojekt, das sich Aspekten der Freundlichkeit und Nahbarkeit von Archiven widmet, sowie einem Gastbeitrag des Medienprojekts Conzepte zielt dieses Heft vorwiegend auf eines: jene Residuen nicht-warenförmiger Freundschafts- und Gemeinschaftsmodelle aufzuzeigen, an denen sich über jede Funktionalisierbarkeit hinaus Gefallen finden lässt.