Die Kultur der Angst, die Erfahrung der Krise, der paranoische Krieg gegen den Terror als angeblicher »Ausnahmezustand in Permanenz« und die Skandale der Legitimierung und Normalisierung von Folter: All diese Symptombeschreibungen deuten auf brutalisierte gesellschaftliche Verhältnisse und systemische Gewalt hin. Zugleich hätte es eine Phänomenologie der Gewalt in den westlichen Demokratien heute gar nicht mehr so leicht, ihr Objekt dingfest zu machen. Es scheint, als wäre die Gewalt in ihrer materiellen Form im Verschwinden oder zumindest kaum mehr sichtbar. Der ohrfeigende Vater, der prügelnde Lehrer, der herrische Polizist, das massenmordende Militär – diese exemplarischen Figuren der gewalttätigen Disziplinargesellschaft sterben allmählich aus. An ihre Stelle treten die Abwesenheit des Gesetzes des Vaters, der kollegiale oder überforderte Lehrer, der beamtete Sozialarbeiter und ein Militär, das sich und den betroffenen Bevölkerungen mit »Smart Bombs« den schmutzigen Krieg so weit wie möglich vom Leib zu halten versucht und seine Arbeit als polizeilich-humanitäre Mission verkauft. Die Gewalt, schreibt Byung-Chul Han, ist eine »Gegenfigur der Freiheit«; als solche gilt sie heute als »verwerflich«, was aber nicht heißt, dass sie verschwindet, sondern bloß, dass sie ihre Erscheinungsformen verändert.
Han versucht, diesen Wandel nicht in erster Linie phänomenologisch zu belegen, sondern topologisch, als diskursives Feld, zu deuten. Historisch zeichnet er die Entwicklung von den archaischen, noch nicht individualisierten Formen der Rache zur strafenden Figur der tyrannischen Souveräns bzw. von den Subjektdeformationen der das Leben verwaltenden und regulierenden, modernen Biomacht zu den Selbstausbeutungsformen der Gegenwart nach. Die Gewalt, verstanden als destruktiver Angriff auf ein Inneres, so Han, habe sich von ihren konstitutiven Voraussetzungen emanzipiert. Sie geht weder in Macht noch in Herrschaft auf und unterhält ein sich wandelndes Verhältnis zum Recht. Die »mikrophysische« Gewalt benötige im Gegensatz zur ehemaligen »makrophysischen« Gewalt kein äußerliches Machtverhältnis des Herrn über den Knecht und keine Morgenappelle des Über-Ich mehr, weil der innere Polizist die freiwillige Unterwerfung viel besser kontrolliert. Zudem sei in einer Kultur, die Negation durch Integration zu leugnen trachtet und zu einem »Terror des Gleichen« neige, die Politik der Feind- oder Gegnerschaft anachronistisch. Kurz: Der Gewalt fehle heute der Stachel der Fremdheit des Anderen, gegen den man sich wappnen, panzern oder immunisieren kann. Die Unterschlagung dieses Aspekts der Inkorporierung des Nein bringt Han auch in Stellung, um seine Gewalttheorie gegen die Rede von der »strukturellen« (Galtung), »symbolischen« (Bourdieu), »objektiven« (Žižek) und »viralen« (Baudrillard) Gewalt als systemische Gewalt abzugrenzen. Deren Druck führe, und hier lehnt sich Han eng an die Diagnosen Alain Ehrenbergs über die Ablösung des neurotischen Leids am Ver- und Gebot durch das narzisstische Leid am Unvermögen an, zu nach innen gerichteten Gewaltausbrüchen. Auf den Übersprung der Negativität nach außen, den Infekt, folge die Überlastung der Positivität im Inneren, der Infarkt. Diese pathologische Metaphorik wendet Han nicht nur auf die von Burn-out und Depressionen geplagten Individuen an, welche die Freiheit der Lebensgestaltung als Zwang zur Optimierung erleben und am Scheitern des Selbstbilds leiden. Er sieht auch die spätkapitalistische Gesellschaft als Ganzes vom Zusammenbruch ohne äußere Feindeinwirkung bedroht.
Spätestens hier zeigt sich, dass auch Hans Unternehmung an einer Überlastung leidet. Im essayistischen Modus der (sich des Öfteren fast wortident wiederholenden) Behauptung verwebt er durchaus stimmige Beobachtungen zu einer totalisierenden Weltsicht im apokalyptischen Baudrillard-Remix-Sound, die den Unterschieden und Ungleichzeitigkeiten innerhalb der globalisierten »Leistungsgesellschaft« (die Han auch schon als »Müdigkeitsgesellschaft« identifiziert hat) nicht gerecht werden kann. Die Gewalt in den zerfallenden Staaten von Exjugoslawien bis Nigeria, die verkultete und nicht von allen als verwerflich benannte Gewalt der Drogenbosse in Nordmexiko, die Persistenz der strukturellen Gewalt in den Fremdausbeutungsknasten der Billiglohnfabriken, die explosive und nicht implosive Gewalt der organisierten Kriminalität, die erbitterte Politik der Feindschaft der Taliban und die Gewalt der Negation in den arabischen Umstürzen sind nur einige Beispiele für die eingeschränkte Reichweite von Hans Gewaltbegriff.
Die widerspenstige Praxis ist es auch, die Sand ins Getriebe der an sich bissigen und hellsichtigen Kritik jener »Transparenzgesellschaft« streut, die auch im Gewaltessay geäußert wird. Die Transparenzsucht wird in diesem aktuellen Buch vom Fetisch der Mediendemokratie zum bösen, alles beherrschenden Popanz der (Selbst-)Ausleuchtung. Sie negiere das Spielerische und das Andere, sie sei distanzlos, obszön, pornografisch, inhuman und manifestiere sich in einer Facebook-Welt von dauerbeobachteten BeobachterInnen. Han insistiert in klaren, apodiktischen Sätzen auf diese Verschärfung des Sennett’schen Terrors der Intimität und plädiert für das Recht auf Entzug und gegen die Blindheit der additiven Information. Ein schönes Beispiel dafür wäre übrigens die US-Serie »Homeland«, in der gerade die 24-Stunden-Überwachungslust dazu führt, keinen eindeutigen Sinn herausschälen zu können.