Istanbul. 1997 debütierte der türkische Künstler Kutlug Ataman mit einem achtstündigen Video über Semiha Berksoy, die erste Opernsängerin der Türkei. Das bemerkenswerte Video nannte sich »Kutlug Ataman’s Semiha B. Unplugged«. Es beeindruckte, wie Semiha Berksoy sich und der türkischen Oper einen Mythos schuf, indem sie die fiktive Geschichte Letzterer inszenierte.
Seitdem arbeitet Ataman immer wieder mit Personen, die über ihr gewöhnliches oder auch ungewöhnliches Leben berichten. Dabei verwenden sie jeweils andere Methoden, um eine persönliche »offizielle Geschichte« zu kreieren. Nun jedoch hat Ataman begonnen, auch nationale Mythen und die »offizielle Geschichtsschreibung« zu kritisieren. Besonders deutlich wird dies in seiner neuen, von Emre Baykal kuratierten Ausstellung »Mesopotamian Dramaturgies«, die von 15. September bis 16. November 2011 im Arter in Istanbul zu sehen war.
Ataman war schon vor dieser Ausstellung ein Meister der Geschichten. Damit meine ich nicht, dass er meisterhafte Geschichten schuf, sondern dass er die Dekonstruktion von Geschichten meisterte. Er schaffte es darzustellen, wie Erzählschemata die Vergangenheit (und somit die Wirklichkeit) prägen und zugleich ihre eigene Wirksamkeit im Verborgenen halten. Seine Frühwerke von »Women Who Wear Wigs« (1999) bis »Küba« (2005) basieren sämtlich auf Erzähltechniken, bei denen Individuen über ihre Vergangenheit berichten. Nun aber, mit »Mesopotamian Dramaturgies«, stellt Ataman mithilfe dieser Privatgeschichten auch die großen modernen Staatsmythen bloß.
Das Hauptwerk in der Ausstellung heißt »Journey to the Moon« und stellt die Geschichte so geschickt als Erzählung dar, dass man die dominante Geschichtsschreibung zu kritisieren vermag. Es handelt sich um die Doppelprojektion eines Zwei-Kanal-Videos. Das erste Video zeigt eine vorgeblich aus gefundenen Schwarz-Weiß-Fotos rekonstruierte Geschichte, die von einer aus einem realen Interview stammenden Stimme kommentiert zu werden scheint. Thema ist die Fantasiegeschichte einer Dorfgemeinschaft in Ostanatolien, die sich zu einem Mondflug anschickt. Die zweite Leinwand zeigt bekannte türkische Intellektuelle, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die diese Geschichte ihrem jeweiligen akademischen Fach entsprechend interpretieren.
Durch diese spöttische Ironisierung einer Mondfahrt kritisiert »Journey to the Moon« die türkische Moderne ganz unmittelbar. Die Pseudodokumentation des angeblichen Ereignisses stellt die gesamte Geschichtsschreibung des türkischen Staats und der türkischen Moderne infrage. Wir erkennen die Fabrikation einer modernen Fiktion, die keinerlei Realitätsbezug mehr aufweist. »Journey to the Moon« bleibt dabei jedoch äußerst sarkastisch: Eine Pseudodoku dokumentiert die Geschichte eines Pseudoexperiments einer Pseudodorfgemeinschaft. ExpertInnen, Intellektuelle, moderne Wissens- und Geschichtsdisplays – sie alle spielen dabei mit. Ataman erinnert uns damit daran, dass jede Geschichte immer schon ein fantastisches Element hat. Jede Geschichte ist Vergangenheit, die von der Primärerfahrung abweicht und sich stattdessen auf Ideologien, Sprache und Hypothesen stürzt. Wir erkennen die Logik, die den Kanon der (in diesem Fall: türkischen) Moderne geprägt hat.
Diese Sichtweise entspricht im Übrigen den historischen Methoden, die sich erst seit den 1960er-Jahren entwickelt haben, wobei das Werk Hayden Whites eine Sonderrolle einnimmt. Wie bei diesem bildet aber auch bei Alun Munslow, Keith Jenkins, F. R. Ankersmit und R. A. Rosenstone die Narration den Kern der Geschichte. Diesem Ansatz, der als Beispiel für eine experimentelle Geschichtsschreibung gelten kann, zufolge ist Geschichte ein narrativer Prozess, den man als solchen analysieren und verstehen kann. Die Hauptnarrative sind mithin dekonstruierbar. Daher wird dieser Ansatz manchmal auch »multiskeptische« Geschichte, »postmoderne« Geschichte oder »dekonstruktive« Geschichte genannt.
In »The Complete Works of William Shakespeare«, einem anderen Werk der Ausstellung, geht Ataman mit der türkischen Moderne noch härter ins Gericht. Die Arbeit besteht aus den handschriftlich abgeschriebenen 14 Komödien, elf Tragödien und zehn Erzählungen Shakespeares und versinnbildlicht damit die totale Imitation der westlichen Kultur und ihrer Grundlagen. Das Ergebnis dieser Imitation ist nicht mehr und nicht weniger als eine unlesbare Textfläche. Der Riesenaufwand des erfolgreichen Abschreibens ist letztlich erfolglos, denn der Text bleibt unleserlich, da die Schrift so schnell über die Leinwand flitzt, dass man ihr nicht folgen kann. Was bleibt, ist eine Verundeutlichung – die Verundeutlichung William Shakespeares. Einmal mehr stehen wir vor dem Nachahmungsproblem der türkischen Moderne. Und diese Nachahmung ist handschriftlich, die Arbeit eines realen Menschen. »The Complete Works of William Shakespeare« inszeniert also eine Kultur, anstatt genuin an ihr Anteil zu nehmen. Ataman nennt die Ausstellung daher auch »Dramaturgien«, begreift er doch alle modernen Bemühungen in dieser Region als »Inszenierungen«.
»Frame« wiederum ist ein Leuchtkasten mit einer vergrößerten Kopie eines Fotos, das Anfang des 20. Jahrhunderts in der Osttürkei aufgenommen wurde. Durch die neue Kontextualisierung enthüllt das Bild indessen mehr als das schiere Bildsujet, das einen damals mächtigen Armeegeneral darstellt. Gesellschaftlicher Status und politische Macht bestimmen Display und Dimensionen der Arbeit. Der General befindet sich als politischer Schwerpunkt und Spitze der Hierarchie in der Bildmitte. Die niedrigeren Chargen um ihn herum werden hingegen vom Rahmen abgeschnitten. Ataman rekontextualisiert also die Kontextmethode, die dieser Modernitätsinszenierung eingeschrieben ist. Generäle und ihr Repräsentationsverständnis sind im Zusammenhang mit der Türkei nämlich so wichtig, weil fortschrittsgläubige Generäle das Fundament der türkischen Moderne sind. Ataman thematisiert, wie diese neue Moderne die Repräsentation beherrscht. Er verweist darauf, dass in dieser Kontextualisierung Machtverhältnisse eingeschrieben sind. So erkennen wir, dass die Hierarchie bereits die schiere Komposition des Fotos beherrscht. Wie immer vermischt Ataman damit Wirklichkeit und Fiktion und stellt jene Narrationen infrage, die Geschichte repräsentieren sollen. Hier wird sehr deutlich, dass jede Erzählung nur eine mögliche Lesart der Geschichte ist. Und dies ist das Hauptthema von Atamans Gesamtwerk – die Kritik an der Geschichtsschreibung.
Ein weiteres Werk in der Ausstellung ist »English as a Second Language«. Es handelt von der Unfähigkeit, »die Sprache der Zivilisation/Moderne« zu erlernen – davon, nicht in die Moderne zu passen. Zwei türkische Jugendliche lesen Nonsensgedichte, die auf dem englischen Alphabet von Edward Lear beruhen – jenem englischen Künstler, Illustrator und Autor also, der nicht nur für solche Nonsenslyrik und Nonsensprosa, sondern besonders für seine Limericks bekannt ist. »English as a Second Language« ist doppelt absurd. Absurd sind die beiden anatolischen Schüler, die einen Text vorzulesen versuchen, den sie nicht verstehen, und absurd sind die Texte selbst. Ataman verhöhnt mit dieser Arbeit den General aus »Frame«, der die Moderne inszeniert, indem er die »Zivilisation« nachäfft und die Jugend auch noch zwingt, es ihm nachzutun. Eben dadurch erst entstehen solch bizarre Szenerien.
Die »Mesopotamian Dramaturgies« stehen insgesamt für eine Wende in Kutlug Atamans Kunst. Zunehmend arbeitet Ataman nun mit der nationalen Mythenfabrikation, besonders jener in Mesopotamien.