Heft 4/2012


Leben im Archiv

Editorial


Die künstlerische Produktion der Gegenwart ist zu einem beträchtlichen Teil von Archivbezügen geprägt. Vielgestaltig nimmt dieser Rückbezug seinen Lauf – sei es im rekonstruierenden oder transformierenden Umgang mit historischen Referenzen, in der Einschreibung in bestimmte Genealogien oder in der expliziten Aufbereitung bislang unzugänglicher oder in Vergessenheit geratener Einzelarchive. Archivarbeit, könnte man behaupten, ist zur unabdingbaren Voraussetzung gegenwärtigen Schaffens, aber zugleich auch zu dessen größtem Hemmschuh geworden.
Denn das »Leben im Archiv«, so der Titel dieser Ausgabe, ist höchst zweischneidig: Nicht nur stellt das ständige wachsende Archivkonglomerat, über dessen Überblick niemand mehr verfügt, einen sich wandelnden Horizont dar, innerhalb dessen sich auch unser Verständnis von Kunst unablässig verändert. Darüber hinaus wirft dies aber eine noch grundlegendere Frage auf: Könnte es sein, dass dieser Horizont aufgrund seiner Dichte und Lückenlosigkeit nicht immer weiter, sondern immer enger wird? Lässt die Fülle des Archivierten womöglich immer weniger Raum, um sich individuell im historisch Überlieferten einzurichten? Ist es denkbar, dass das Überborden der Archive eine Artikulation in der Gegenwart mehr und mehr zu ersticken droht?
»Leben im Archiv« bezeichnet demnach jene ambivalente Aufgabe, die sich heute jeder und jedem stellt: einerseits einen Operationsmodus zu finden, um mit diesem Überborden zurande zu kommen; andererseits diesen Modus so weit produktiv zu machen, dass er nicht in eine seltsam obsessive »Retromanie« verfällt. Die Beiträge dieses Hefts nähern sich dieser Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Nataša Petrešin-Bachelez, Kuratorin und selbst Betreiberin eines Kunstraums, macht im Gespräch zwei widerstreitende Impulse in der Archivarbeit geltend: einen nostalgischen, häufig auch verklärenden Zugang und, mehr im Sinne einer historisch-kritischen Gedächtniskultur, das Ankämpfen gegen Verdrängung und Vergessen. Um der Gefahr eines verdinglichenden, die Geschichte gleichsam mumifizierenden Ansatzes entgegenzuwirken, sei es laut Petrešin-Bachelez unerlässlich, von RezipientInnenseite aus immer wieder den Versuch einer aktivierenden Vergegenwärtigung zu unternehmen.
Der »mal d’archive«, die Archivkrankheit, die der Philosoph Jacques Derrida einst als (psycho-)analytisches Moment benannt hat, zeichnet sich anhand vielfacher Symptome ab: Eines davon betrifft die Definitions- und Deutungshoheit darüber, was überhaupt als legitimer Archivbestand gelten darf. Simon Sheikh nimmt exemplarisch den Diskurs der Kunstgeschichte her, die lange Zeit darüber gewacht hat, welche Selektion, welche Querverbindungen und welche potenzielle Erweiterung ihrer ureigensten Diskurseinheiten, nämlich den für wertvoll erachteten Kunstwerken, erlaubt waren. Anhand des Beispiels möglicher (aber nicht wirklich stattgefundener) Begegnungen verschiedener Künstler versucht Sheikh das Verdienst einer fiktiv konstruierten Geschichte zu ermessen, für die das Archiv eine weiterhin zu bearbeitende, ständig neu zu konstruierende Ausgangsmaterie darstellt. Ähnliches formuliert Cédric Vincent im Hinblick auf die Geschichte des »panafrikanischen Festivals«, das zwischen 1966 und 1977 dreimal stattfand. Die offiziellen Dokumente dazu, so Vincent, reichen nicht aus, um den lebendigen Impuls dieser bahnbrechenden Zusammenkommen weiterzutragen – es müssten dafür auch inoffizielle, außerinstitutionelle und vor allem persönliche Quellen genutzt und aktiviert werden.
Einzelne Fallstudien ergänzen den allgemeineren Problemaufriss dieses Hefts. Nanna Lüth benennt in ihrer Auseinandersetzung mit der peruanischen Künstlerin Teresa Burga einen wichtigen Aspekt des grassierenden Archivfiebers: Dieses sei weitgehend westlich orientiert und lasse es nur bedingt zu, dass auch nicht-westliche, ja subalterne Archive gleichwertig zur Geltung kommen. Teresa Burga habe demgegenüber in ihrer künstlerischen Arbeit ihr lebensweltliches Archiv ständig aktualisiert und exemplifiziere mit ihrer gesamten Praxis, inwiefern sich das hegemoniale Archivdenken konterkarieren lässt. Vergleichbares gilt für die historische Rekonstruktionsarbeit. So streicht Jochen Becker in seinem Beitrag über zwei Projekte zur jugoslawischen Moderne heraus, dass deren Aufarbeitung weit über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus bis in die Gegenwart reicht; und dass das Projekt der »unvollendeten Modernisierung«, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Ausgang nahm und seither die Archive füllt, vielleicht per definitionem unabschließbar bleibt. Derlei Fallstudien belegen ebenso wie die übrigen Beiträge dieser Ausgabe, dass die Archivproblematik heute in einer Reihe unterschiedlichster Felder virulent ist und zu keiner vorschnellen Klärung (»closure«) gebracht werden kann.
Ausgehend von der allseitigen Verfügbarkeit, welche die weltweiten elektronischen Speicher heute für uns bereithalten, stellt sich folgende, weiterhin drängende Frage: Wie leben inmitten einer durch und durch archivarischen, zugleich aber auch immer stärker geschichtsvergessenen Welt, in der immer schon alles vorweggenommen und von historischer Dichte besetzt zu sein scheint? Und wie dieser Fülle neues Leben einhauchen – eines, das imstande wäre, dynamisch auf die Gegenwart zurückzuwirken?