Heft 4/2012 - Leben im Archiv


Theoretisch chinesisch

Über die hypothetischen Archive in »Taiping Tianguo – A History of Possible Encounters« – eine Ausstellung, die potenzielle Verbindungen zwischen vier höchst unterschiedlichen Künstlern herstellt

Simon Sheikh


Ein provokantes Romangenre ist das der fiktiven Begegnungen zwischen historischen Persönlichkeiten. Es ermöglicht eine hypothetische Geschichtsschreibung, ja sogar einen alternativen Ausgang der Geschichte als Ganzes. Das Genre findet nicht nur in der Belletristik, sondern auch im Film Verwendung. Man denke zum Beispiel an Ettore Scolas »Flucht nach Varennes« aus dem Jahr 1982, bei dem sich unter anderem Thomas Paine und Casanova eine Kutsche teilen, oder Nicolas Roegs »Die verflixte Nacht« aus 1985, in der Albert Einstein und Marilyn Monroe von J. Edgar Hoover persönlich (!) überwacht werden. Fiktionen dieser Art führen nicht nur zu großartigen Dialogen und Konstellationen, sie werfen auch die Frage auf, was passiert wäre wenn. Hätten sich diese Personen wirklich getroffen, hätte die Geschichte vermutlich einen anderen Verlauf genommen. Das Genre ermöglicht, wenn man so sagen kann, eine Alternativgeschichte auf Grundlage gegebener Tatsachen und Grundtendenzen, aber mit anderen Ereignissen.
Trotz aller Wissenschaftlichkeitsansprüche ist auch der Kern der Kunstgeschichte, und zwar sowohl der geschriebenen als auch der gelebten, fiktiv. Selbstverständlich kann die Kunstgeschichte zwischen zwei KünstlerInnen, die sich nicht gekannt, niemals korrespondiert und nie zusammengearbeitet haben, eine Verbindung und einen fiktiven Dialog behaupten. Ob nun in einer Ausstellung, einer Sammlung oder in einem Text: Diese Methode des Herstellens einer vergleichenden oder kontrastierenden Verbindung ist die Kunstgeschichte. Sie schafft aber kein Fantasiegebilde, sondern kunsthistorische Fakten, die in die Form von Kunstgattungen oder kunstgeschichtlichen Perioden gegossen werden. Das hypothetische Aufeinandertreffen von KünstlerInnen wird durch die materielle und diskursive Präsentation zu einer Wirklichkeit. Damit diese fiktive Wirklichkeit jedoch überzeugen kann, braucht es vor allem eine institutionelle Autorität. Nur befugte Personen wie KuratorInnen und HistorikerInnen dürfen solche Verbindungen herstellen, seien sie nun neu oder betreffen sie KünstlerInnen, die tatsächlich in einem Austausch standen.
Im eben Geschilderten liegt das Augenmerk auf fiktiven Verbindungen, die durch Einschreibung in eine Institution autorisiert werden. Das ist das Ordnungsprinzip der Kunstgeschichte, dem die Museumsmaschinerie jedoch nur im Prinzip folgt. Kunstgeschichte und Museen könnten im Grunde in sich aufnehmen, was sie wollen. Genau diese Offenheit aber unterläuft den Status der Kunstgeschichte als echte, theoriebasierte Wissenschaft. Ihr Ordnungsprinzip muss daher bedeckt gehalten und darf nicht offen ausgesprochen werden. Die Kunstwerke und KünstlerInnen müssen in ihren Verbindungen plausibel erscheinen. Nationale Kunstgeschichten entstehen durch gemeinsame geografische Lokalitäten und typische Stile und werden in einer internationalen Geschichtshierarchie großer Meister verortet. Es scheint, als müsse das spekulativ-hypothetische Element der Kunstgeschichte kontrolliert, sogar unterdrückt werden – wie eine unbewusste Leidenschaft, die nur auf sanktionierte Art zum Ausdruck kommen darf.
Kunsthistorische Verbindungen können aber auch durch eine andere Art der Geschichtsschreibung und Archivierung hergestellt werden. Dabei handelt es sich um die Auswahl und Isolierung einzelner Figuren und deren Œuvres, die hernach vergleichend untersucht werden. Die Kunstgeschichte bleibt immer auf bestimmte Werke und bestimmte UrheberInnen beschränkt. Erst seit Kurzem wird zaghaft über das Fach Kunstgeschichte selbst und seine Politik nachgedacht. Darüber hinaus haben die einzelnen, sorgsam auswählten Werke und KünstlerInnen, welche die Kunstgeschichte ausmachen, einen grundlegenden Doppelcharakter. Sie sind nämlich zugleich Einzelstücke und Typen, speziell und allgemein, wobei noch dazu das eine das andere zu legitimieren hat. Einerseits befinden sich Kunstwerke in Sammlungen und sind daher per se speziell, als Meisterwerke sogar notgedrungen anders als alle zeitgenössischen Werke ähnlichen Typs. Andererseits stehen mysteriöserweise alle Werke zugleich für ihre Zeit und ihren Stil und sind dergestalt für diese Zeit typisch. Kurz, die kanonisierten Werke stehen über der Geschichte und sind zugleich Teil von ihr. Sie sind transzendent und immanent in einem.
Kunstsammlungen unterscheiden sich mithin von anderen Archiven wie zum Beispiel jenen historischer Museen. Sie enthalten immer das Typische und Außergewöhnliche, aber als einzelne Dinge und nie als ein zu einem Objekt zusammengefügtes Ding. Im Gegensatz dazu versucht das historische Archiv, das Alltägliche stellvertretend für seine Zeit zu sammeln. Die dadurch entstehende Typologie bildet den Hintergrund für jene Objekte und Ereignisse, die einen Bruch in der Zeit bewirken. Das kunstgeschichtliche Archiv versucht indes nicht, einen Zeitabschnitt durch seine einfachsten Ausdrucksformen zu charakterisieren, also gleichsam durch einen Querschnitt durch alle Artefakte. Es zeichnet stattdessen das Werk von Individuen nach, denen dadurch genauere Aufmerksamkeit zuteilwird. Bei einem Genie ist schließlich kein Objekt zu klein oder zu unwichtig, um nicht ins Archiv zu kommen, das dann seinerseits die Grundlage der Sammlung und der jeweiligen Ausstellung bildet. Die Kunstgeschichte erzählt uns daher wenig über die Ideen- oder Sozialgeschichte einer bestimmten Zeit, widmen sich Sammlungen doch vorderhand EinzelkünstlerInnen und Einzelwerken. Vielfalt, Kontexte, Ausstellungen, Projekte, Gruppen usw. sind schlicht nicht ihr Thema.
Das Problem dieses Ansatzes ist, dass die Werkkontexte und das soziale Umfeld, in denen die Werke geschaffen wurden, negiert werden. Kunst entsteht immer in Wechselbeziehung von KünstlerInnen innerhalb einer spezifischen Situation, Stadt oder Szene. KünstlerInnen tauchen nicht wie ein Phönix aus der Asche als fertige Individuen und UrheberInnen auf, sondern durch einen Diskurs. Und dieser Diskurs ist wohl kaum jener der Kunstgeschichte und Museen, sondern jener der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Orts. Es ist dieser sozialgeschichtliche Kontext, den man in der Kunstgeschichte und der zeitgenössischen Kunstkritik so schmerzlich vermisst. Darüber hinaus sollte die Sozialgeschichte mit einer Ideengeschichte in Verbindung stehen, das heißt der Diskursgeschichte und dem Auftreten bestimmter Begriffe, ihrer unterschiedlichen Gewichtungen und Konstellationen. Dauernd wird gefragt und evaluiert, wer nun die besten KünstlerInnen oder KuratorInnen der Jetztzeit oder einer bestimmten Generation sind. Bessere Fragen aber wären: Warum beziehen sich so viele KünstlerInnen auf gewisse Positionen der Vergangenheit? Warum lesen sie zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber in unterschiedlichen Städten dieselben Bücher? Wie wirkt sich das auf ihre Kunst aus? Eine Kunstgeschichte bestimmter Ideen wie jener eines »queer space«, der filmischen Zeit, der postkolonialen im Gegensatz zur postkommunistischen Identität usw. wäre sehr vonnöten. Und eine solche Kunstgeschichte würde vielleicht nicht bloß die Museumsindustrie und Kunstmessen mit neuen Waren und neuen Stars versorgen.
Die Methode, Verbindungen durch die Neben- und Aneinanderreihung von Werken herzustellen, enthält in sich bereits ihren Niedergang, ihre Dekonstruktion. Mit derselben Methode können nämlich genauso gut Alternativgeschichten erschaffen werden, die aus anderen ProtagonistInnen und Werken bestehen. Darüber hinaus kann man den imaginär hypothetischen Aspekt der Zusammenstellung betonen und eine wirklich alternative Geschichte, zum Beispiel mit Akzent auf den genannten filmischen Methoden postulieren. Mit anderen Worten kann gleichzeitig mit dem ausgestellten und historisierten Namenskanon auch der Status der kanonisierten Werke infrage gestellt, ja sogar ignoriert werden. Dazu braucht es nur eine neue Praxis des Ausstellungsmachens (und Schreibens), die ihre hypothetischen Verbindungen expliziter und damit diskursiver macht (anstatt sie geheim und dogmatisch zu halten).
Die Konstellation, welche die Ausstellung »Taiping Tianguo« bei Para/Site in Hongkong vorschlägt, ist eine solche hypothetische und undogmatische. Das Publikum wird angeregt, die potenziellen Verbindungen, die sie zwischen vier Künstlern, ihrer nationalen/ethnischen Herkunft, ihrer Schaffenszeit und dem Schaffensort herstellt, nicht blind zu akzeptieren, sondern kritisch infrage zu stellen. Die KuratorInnen bekennen offen, dass diese Verbindungen zwar »tatsächlich und konkret« bestünden, zugleich aber, besonders was die chinesische Herkunft der Künstler beträfe, »dürftig und vielleicht sogar imaginär« seien. Von den vier ist nur einer, namentlich Ai Weiwei, chinesischer Staatsangehöriger. Tehching Hsieh stammt aus Taiwan und Frog King Kwok aus Hongkong. Letztere kommen also aus Gebieten, die vielleicht chinesisch, keinesfalls aber tatsächlich China sind. Der vierte Künstler schließlich, Martin Wong, ist ein chinesischstämmiger Amerikaner aus San Francisco. Kurzum, keinerlei Landesgeschichte oder Kunstszene verbindet alle vier, selbst wenn man ihr »Chinesentum« dreist essentialistisch auffassen würde.
Eine objektive Verbindung besteht jedoch in ihrer Zeitgenossenschaft und einer Örtlichkeit: Alle vier Künstler lebten in den 1980er-Jahren in derselben Stadt, in New York. Die Ausstellung handelt mithin in erster Linie von New York, genauer gesagt, von der damaligen Kunstszene in Downtown Manhattan. Füglich erkennt man in der Fotosammlung Ai Weiweis aus dieser Zeit nicht nur die vier hier ausgestellten Künstler, sondern auch Berühmtheiten wie Allen Ginsberg und darüber hinaus Ereignisse wie die Unruhen auf dem Tompkins Square im Sommer 1988. Der gemeinsame Erfahrungshintergrund bezieht sich also spezifisch auf New York City, das als prägend und entscheidend für ihre künstlerische Entwicklung postuliert wird – Tsieh hat nie anderswo gelebt –, und nicht auf ihre dürftige Beziehung zur Kunst Chinas. Während Ai Weiwei nämlich heute, besonders international, als prägender Kunststar Chinas gilt, weiß man über seine Zeit und seine Arbeit in New York nur wenig. Hier sieht man ihn auf fröhlichen, aber auch berührenden Fotos vor Andy Warhols Selbstporträtsiebdrucken als ebendiesen posieren, und Frog King eine Performance auf der Free-Tibet-Ausstellung machen, die, was erstaunen mag, von Ai Weiwei organisiert wurde.
Die Erlebnisse in New York fanden nichtsdestotrotz im Exil statt, wenn auch einem selbst gewählten und bewusst ersehnten. Betrachtet man Hsiehs legendäre Einjahresperformances vor diesem Hintergrund und nicht als extreme Langzeitaufführungen und somit als End- und Höhepunkt einer kunsthistorischen Gattung, tritt eine ganz neue Lesart in den Vordergrund. »Taiping Tianguo« zeigt die erste dieser Performances von 1978/1979, bei der sich Hsieh ein Jahr lang in einen Käfig sperren ließ, und die dritte von 1981/1982, die er gänzlich im Freien verbrachte. Beide verweisen auf die typischen Probleme illegaler EinwandererInnen. Die eine thematisiert Isolation, Entfremdung und Beengtheit, die andere Obdachlosigkeit im ganz realen Sinn. In beiden Fällen verschwindet das Subjekt aus der Öffentlichkeit, wird buchstäblich unsichtbar. Das eine Mal durch Einkerkerung, eine fast ultimative selbst auferlegte Verbannung aus der Gesellschaft, das andere Mal durch die Verkörperung eines unerwünscht umherziehenden Obdachlosen, dem die meisten Menschen aus dem Weg gehen und der vor allem auch selbst jeden Kontakt und jedes Gesehenwerden vermeidet (und damit ironischerweise in eine ähnliche Situation gerät wie bei der ersten Performance), um nicht wegen Landstreicherei festgenommen zu werden.
Obwohl alle vier Künstler nicht aus New York stammen, hatten sie wohl alle das Gefühl, dass dies damals der beste Ort für KünstlerInnen war. Damit standen sie offenkundig nicht allein da. Tausende andere hoffnungsfrohe junge KünstlerInnen und KulturproduzentInnen strömten in den späten 1970er- und frühen 80-Jahren in die Stadt und erlebten ebenso wie sie Anerkennung, Indifferenz oder Ablehnung. Am deutlichsten wird dies anhand der Biografie von Martin Wong, dem einzigen Amerikaner in der Ausstellung. Immer schon hatte er von New York geträumt. 1978 endlich zog er von San Francisco dorthin. Dies ist ein besonderer Zeitpunkt, der mehr Spekulationen nährt, als in der Ausstellung gezeigt werden. 1978 stellte nämlich einen Höhepunkt in der Geschichte der schwulen Kunst- und Aktivismusszene dar, in der sich Wong mit seiner Mischung aus Kunst, Performance und Punk engagierte. Die Schwulenszene war außerdem ethnisch vielfältiger als die Kunstszene Manhattans, und in just demselben Jahr wurde auch Harvey Milk Stadtrat von San Francisco. Allerdings ist dies auch genau das Jahr, in dem Milk einem Attentat zum Opfer fiel, was die Frage aufwirft, wann genau Wong San Francisco in diesem Jahr verlassen hat.
Die so gezogenen und nicht gezogenen Verbindungen weisen mithin weit über das wesenlose Zentrum New York, weit über die Geschichte und die Situation der Kunst und das Konstrukt einer chinesischen Identität hinaus. Es ist offenkundig kein Zufall, dass die Ausstellung in Hongkong stattfindet und von einer Gruppe kuratiert wird, die sich A Future Museum of China nennt. Denn die Linien, die diese Ausstellung spannt, fordern uns auf nachzudenken, über welches China wir eigentlich sprechen und welche Geschichte eine solche Kategorie haben könnte. Der listige Titel »Taiping Tianguo« bedeutet »himmlisches Königreich ewigen Friedens«. Er verweist einerseits auf die Revolte in Südchina im 19. Jahrhundert und andererseits auf das Werk Martin Wongs, der nur dem Namen nach Chinese ist. Vielleicht sollten wir aber alle vier Künstler als nur dem Namen nach chinesisch oder, frei nach einem großartigen Albumtitel von Winston Tong aus dem Jahr 1985, als »theoretisch chinesisch« begreifen. Winston Tong lebte wie Martin Wong zu der Zeit, als das Album erschien, in San Francisco, wo er als Performancekünstler und später als Sänger der Gruppe Tuxedomoon wirkte. Tong war also seinerseits ein Grenzgänger zwischen Kunst und Musik, zwischen jener Mischung aus »queer culture« und Punk, die sich aus der Gruppe Angels of Light entwickelte, für die Wong wiederum Kostüme entwarf.
Es sind solche plausiblen oder unplausiblen Parallelen zwischen vier ansonsten so verschiedenen Zeitgenossen und ihren Tausenden Kontexten, die in der Ausstellung inszeniert werden. Dies zeigt sich auch an den ausgestellten Materialien. Die Werke werden nicht einfach aneinandergereiht, sondern erscheinen eingebettet in Kontexte und Diskurse, wobei Dokumentation, Berichten und Nebensächlichkeiten dieselbe Wichtigkeit wie der Kunst beigemessen wird. Dies offenbart auch einen neuen Umgang mit dem Archiv, das hier spekulativ eingesetzt wird und nicht bloß als Hintergrund der ausgestellten Werke. So werden zugleich die Herstellung und die Zerstörung von Bedeutung möglich. Es gibt nicht zu wenig, sondern zu viel Geschichte. »Taiping Tianguo« beweist, dass sie dennoch neu geschrieben und gelesen werden kann. Aus den Bausteinen der Hegemonie können neue Gebäude errichtet werden.

Taiping Tianguo – A History of Possible Encounters: Ai Weiwei, Frog King Kwok, Tehching Hsieh, and Martin Wong in New York; 12. Mai bis 28. August 2012, PARA/SITE, Hongkong; http://www.para-site.org.hk.

 

Übersetzt von Thomas Raab