Heft 1/2013 - Netzteil


Porträts im 21. Jahrhundert

Was macht die Kunst mit Gesichts(v)erkennungssoftware?

Bronac Ferran, Alessandro Ludovico


Dass unsere Gesichter auf den Bildschirmen anderer Leute erscheinen, ist heute Alltag geworden. Grund dafür sind normale Tags, Google-Suchläufe, die Indexierung von Websites oder die wahllose Verknüpfung mit Profilbildern von „Freunden“ in sozialen Medien. Auch lagern unzählige Fotos von uns in Archiven, in Reisepässen und auf Behördenservern. Wie oft werden wir nicht geistlos von Überwachungskameras aufgenommen? Aber das gesamte Konzept des digitalen Porträts steht infrage. In den Online-Netzwerken sieht man fast täglich neue Techniken, die unsere Auffassung eines kohärenten, individuellen Ichs oder die Idee des Zustandekommens unseres Bilds und Selbstbilds erschüttern. Die massenhafte Digitalisierung von Porträtfotos steht auch mit der immer größeren Verbreitung von Bildbearbeitungsprogrammen in Verbindung, mit denen diese retuschiert werden können. Diese Programme beeinflussen jenen Teil unseres Gesichtsfelds, der von einem eigenen Teil in unserem Großhirn verarbeitet wird, nämlich vom Schläfenlappen, in dem Gesichter erkannt werden. Die Mischung aus der rasanten Vervielfachung unserer Fotos und ihrer simplen Manipulierbarkeit ermöglicht indes auch neue und ungewöhnliche Kunstwerke und Medieninterventionen.

Gesichtserkennungssoftware
Überall in der entwickelten Welt sprießen Überwachungskameras gleichsam wie Pilze aus dem Boden.1 Allein in Großbritannien sind es schon jetzt geschätzte 1,85 Millionen. Der ironische Aktivismus von KünstlerInnen gegen solche obrigkeitlichen Methoden kann bis zu den ersten Performances der Surveillance Camera Players2, aber auch auf erste Experimente mit privaten Closed-Circuit-Netzwerken in den 1970er-Jahren zurückverfolgt werden. Mit der Weiterentwicklung der Technik entstanden in der Folge auch neue künstlerische Ansätze. Ein aktuelles Projekt ist ein Blog mit dem Namen Nick Clegg Looking Algorithmically Sad3, der das Dasein öffentlicher Personen im Internet thematisiert. Der Autor postet Analysen von veröffentlichten Fotos und Screenshots des britischen Vizepremiers Nick Clegg, die „wissenschaftlich“ zeigen, dass sein Gesicht meistens als „traurig“ klassifiziert werden muss.
Andere KünstlerInnen der neuen Generation haben es fertiggebracht, ihre Person so zu tarnen, dass wenigstens ein Rest ihrer Privatsphäre gewahrt bleibt. Adam Harveys CV Dazzle4 zum Beispiel ist ein krasses Beispiel für die Anpassung des Menschen an die Logik der Maschine. Zusammen mit anderen KünstlerInnen entwickelte Harvey modische Gesichtstarnungen, die erfolgreich dazu dienen können, Gesichtserkennungsalgorithmen zu täuschen. Digitaler „Noise“ wird vortrefflich in Make-ups oder Postpunkfrisuren umgesetzt. Dadurch werden die Proportionen und Abstände zwischen den Gesichtsmerkmalen so verändert, dass die Erkennungssoftware kein Gesicht mehr registriert.
Pixelhead von Martin Backes5 verfolgt eine ähnliche, wenn auch leicht verschobene Strategie. Es handelt sich um eine grob gepixelte Maske aus elastischem Stoff, die oberflächlich einer Maske der Stadtguerilla ähnelt. In Wahrheit täuscht sie aber elegant Überwachungskameras, weil sie dasselbe Farbspektrum wie Gesichter nutzt und daher auf Aufnahmen nicht identifiziert werden kann.
Sowohl das Projekt von Harvey als auch jenes von Backes beschäftigen sich mit automatischer Gesichtserkennung und der „Konstruktion“ der biometrischen Identität. Julian Wolkensteins Echoism.org6 dagegen befasst sich mit dem durch Maschinen hervorgerufenen Narzissmus. Die Website ist eine Plattform, auf welche die UserInnen ihre Porträtfotos hochladen und dann durch eine einfache Splitting- und Spiegeltechnik auf ihre symmetrische Perfektion prüfen können. Die Theorie oder vielmehr, wie Wolkenstein ätzt, „der Mythos“, dass Schönheit in der Symmetrie liegt und Menschen mit symmetrischen Gesichtern daher „attraktiver“ sind, wird hier 1:1 umgesetzt.
Unsere Besessenheit von Selbstporträts, die auf Facebook ja höchstens sublimiert wird, ist der Ausgangpunkt von Rina Dwecks Project Face7. Mit Cindy Sherman als explizitem Vorbild postete sie ein ganzes Jahr lang täglich ein Foto von sich auf ihre Webpage. Die wohldurchdachten Porträts zeigen eine große Bandbreite unterschiedlicher Stile, und die BetrachterInnen fragen sich zu Recht, ob sie manipuliert wurden. Hat die Bearbeitung von Gesichtsfotos bereits eine Stufe erreicht, auf der man sogar dokumentarische Abbildungen anzweifeln muss? Man denke an Lalage Snows dramatische Fotoserie We Are The Not Dead von britischen Soldaten vor, während und nach ihrem Einsatz in Afghanistan.8 Ist die Bildbearbeitung inzwischen so normal, dass wir taub geworden sind gegenüber jedem Anzeichen von Schmerz, das auf den Triptycha von Soldatengesichtern kenntlich wird? Schreiben wir diese Anzeichen bereits unbewusst der Bildmanipulation oder überhaupt einer schnöden Retusche zu?

Erkennung, Droge der Nation
Seit jeher war es die Aufgabe des Porträts, den Charakter einer Person durch deren Körpermerkmale darzustellen. Wir erkennen die langsame Veränderung dieser Merkmale, wenn wir Familienfotos betrachten oder das Leben von Stars verfolgen. Hoch entwickelte „Merkmalserkennungstechniken“ gehören zu den modernsten Spielzeugen von Staat und Industrie. Facebook hat nach einer EU-Untersuchung seine Gesichtserkennung in Europa zwar abgestellt,9 doch ist diese als Standardtechnik schon in normalen Smartphone-Kameras und Bildbearbeitungsprogrammen allgegenwärtig. Wie die neuesten Trends in der Industrie beweisen, wird die Gesichtserkennung dabei als reine Marketingtechnik gewertet. So hat NEC einen Marketingdienst entwickelt, bei dem Gesichtserkennung zur Schätzung von Alter und Geschlechtsdaten benutzt wird, die dann, verknüpft mit den Besuchszeiten der jeweiligen Person, gesammelt werden.10 Das Vorführvideo der Firma erinnert – und zwar sinister – an das legendäre Kunstvideo The Catalogue von Chris Oakley11, das schon 2004 die Angst vor der totalen Überwachung und Erkennung in Einkaufszentren thematisierte. Je länger das Video dauert, desto präziser und auch intimer wird die Identifizierung der Menschen, die bereits beim Eintritt ins Gebäude erkannt werden. Das Video ist also mehr als nur „visionär“ oder „vorausblickend“. Könnten wir solche Kunstwerke nicht genauso gut als „Industrial Research and Redevelopment“ begreifen? Mit den neuen Überwachungs- und Aufzeichnungstechniken, die unser Leben im 21. Jahrhundert bestimmen, werden jedenfalls auch KünstlerInnen, die mit digitalen Techniken vertraut sind, neue Arbeitsfelder finden, in denen sie die Themen Privatsphäre, Öffentlichkeit und Individuum radikal ethisch erforschen können.

 

Übersetzt von Thomas Raab