Heft 2/2013 - Unruhe der Form


Living Room

Über Gastlichkeit, Plastizität und Form

Catherine Malabou


Sprachgeschichtlich steht „Plastizität“ in der nominalen Form in direktem Zusammenhang mit zwei älteren Wörtern, dem Substantiv „Plastik“ und dem Adjektiv „plastisch“. Alle drei gehen auf das griechische „plássein“ zurück, das „bilden“ oder „formen“ heißt. „Plastisch“ hat zwei Bedeutungen: Einerseits bedeutet es, „empfänglich zu sein für Veränderungen der Form“ oder „formbar“. So ist Ton aufgrund seiner Fähigkeit, Form anzunehmen, „plastisch“. Andererseits bedeutet „plastisch“ auch, „die Macht zu besitzen, Form zu verleihen“. In Ausdrücken wie „plastische Chirurgie“ oder „plastische Kunst“, die auch die skulpturale und die Töpferkunst umfasst, bezieht sich „plastisch“ auf die Fähigkeit, Form zu verleihen. Der Begriff „Plastizität“ beschreibt das Wesen des Plastischen, seine Fähigkeit, sowohl Form anzunehmen als auch Form zu geben.
Sicherlich ist die Bedeutungsvielfalt von Plastizität damit noch nicht ausgeschöpft, entwickelt sich diese doch mit und in der Sprache ständig weiter. Denken wir nur einmal an all die unterschiedlichen Formen von „Plastik“ in unserer Welt, beispielsweise Plastikholz, Plastikgeld (daher auch der Ausdruck „mit Plastik bezahlen“), Plastikfarbe, Plastiksprengstoff („le plastic“), jenes gefährliche kittartige Material, das man mit den Händen formen kann. Die Bedeutung von Plastizität selbst erscheint plastisch, angesiedelt zwischen zwei Extremen. Einerseits beschreibt Plastizität das Auskristallisieren von Form (dies legt sowohl der substantivische Gebrauch des Worts als auch der Ausdruck „plastische Kunst“ nahe). Andererseits scheint Plastizität das genaue Gegenteil von Form zu sein, denn sie beschreibt die Auslöschung der konkreten Form (angedeutet im instabilen und destruktiven Wesen des „Plastiksprengstoffs“).
Ich werde im Folgenden versuchen, die Idee des Kosmopolitismus näher zu beleuchten, indem ich mich des Konzepts der Plastizität bediene, sowie zu einem kritischen Umgang mit den drei Begriffen „Kosmopolitismus“, „Globalisierung“ und „Nationalismus“ und den sich daran anschließenden Fragen nach Ort und Ausstattung des Raums anzuregen. Schließlich werde ich dem Konzept der Plastizität in erster Linie Lévinas und Derridas Vorstellungen zum Thema „Gastlichkeit“ gegenüberstellen.
In der Idee der Gastlichkeit wird der Unterschied zwischen Kosmopolitismus und Globalisierung sofort deutlich. Kosmopolitismus, von Kant als Möglichkeit des Menschen definiert, zum Weltbürger zu werden, beinhaltet eine Ethik des bedingungslosen Empfangs des Anderen. Im Gegensatz zu einer solchen Struktur der Offenheit für das Andere steht Globalisierung für die Herrschaft des Gleichen und die Gleichwerdung der Welt. So gesehen, und gemäß eines nur zu augenscheinlichen Paradoxons, verweisen sowohl Globalisierung als auch Nationalismus gewissermaßen auf die Logik einer identitären Hegemonie, das Aufzwingen eines identischen Modells oder Idioms. Lassen wir die Frage nach den Unterschieden im Verständnis des Worts „Kosmopolitismus“ bei Kant, Lévinas und Derrida beiseite und begnügen wir uns damit, die Äquivalenz zwischen der universellen Gastlichkeit und dem Widerstand gegen die Herrschaft des Identischen herauszustellen. Anders als die Globalisierung bezieht sich Kosmopolitismus auf die Logik einer „unmöglichen“ identitären Hegemonie, das unmögliche Eindringen auf das Selbst oder – anders gesagt – die Logik einer gastlichen Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen.
Von Gastlichkeit zu reden impliziert, dass wir „(das) Wohnen“ („l’habitation“) in Begriffe fassen. Zwar findet man in den Werken der Philosophen nur schwerlich Überlegungen und Äußerungen über Design im engeren Sinne, dennoch berühren sie Themen wie die Ausstattung des Raums und die Organisation des Hauses. Auf diese Weise können wir aus Lévinas’ Werk eine Reihe von Überlegungen zur Aufteilung von Räumen und der Anordnung von Gegenständen ableiten, zur Idee des „Innenbereichs“ und der Möblierung – Kommentare zu so vielen Themen, dass ich sie unter der Bezeichnung „Wohnzimmer“ („living room“) bzw. „Lebensraum“ auflisten werde. Dem ethischen und politischen Konzept der Gastlichkeit entspricht fast schon selbstredend eine kosmopolitische Form des Lebensraums, eine gastliche Anordnung von Alltagsgegenständen, ein Grundriss, der weder mit der globalen Standardisierung von Design noch mit dem als Mikrokosmos des nationalistischen Raums geltenden Raum der Hausfrau verwechselt werden sollte.
Wenn wir also die Frage des Kosmopolitismus als den zweifachen Widerstand gegen die Globalisierung auf der einen und den Provinzialismus auf der anderen Seite in der Idee der Gastlichkeit hinreichend abgedeckt sehen und wenn dasselbe Konzept uns gleichzeitig dabei hilft, uns den Lebensraum als konkreten Ort dieses Widerstands vorzustellen, dann sind wir mit unserem Thema auf gewisse Weise bereits durch.
Nichtsdestotrotz möchte ich zeigen, dass dieser Betrachtung von Widerstand etwas im Wege steht und dass nicht der Gastlichkeit an sich etwas im Wege steht, sondern ihrer von zeitgenössischen PhilosophInnen definierten Struktur. Diese Struktur hält, wenn man so will, das „transzendentale“ Prinzip der Gastlichkeit sowie seine „empirische“ Umsetzung in der Ausstattung des Heims bzw. Ausgestaltung des Lebensraums zusammen.
Wie ich zeigen werde, beruht dieser Widerstand gegen den Widerstand, etwas, das beide Teile dieser Struktur betrifft, auf Fragen der Plastizität. Um das Thema kurz einzuführen, möchte ich zunächst etwas genauer darauf eingehen, wie die Philosophie das unmögliche Eindringen auf das Selbst des Kosmopolitismus charakterisiert.

Subjekt – Gast – Geisel
Für Lévinas ist, wie wir wissen, die Subjektivität in ihrer Gesamtheit als der bzw. durch den Empfang des Anderen definiert. Die/der Andere ist mir selbst anfänglich präsenter als mein eigenes Selbst, und aus diesem Grund beleuchtet die Gastlichkeit vor allem die ontologische Realität eines Andersseins, das älter ist als Identität, eine Realität, die jedes Verschließen („clôture“) der fraglichen Identität in sich selbst verhindert. Derrida sagt in Adieu: Nachruf auf Emmanuel Lévinas: „Das Subjekt ist ein Gastgeber.“1 Das französische Wort für Gastgeber, „hôte“, heißt auch „Geisel“, somit wird das Subjekt gleichzeitig zur „Geisel“2: Das Subjekt kommt nach dem Anderen, es legt dem Anderen gegenüber Rechenschaft ab, es bürgt für den Anderen. Derrida fährt fort: „Der Gastgeber ist Geisel, insofern er ein in Frage gestelltes, besessenes (also belagertes), verfolgtes Subjekt ist, und zwar an der Stätte, wo er statthat, wo er, der Emigrant, Exilant, Fremde, Gast von jeher, zum Wohnort auserwählt wurde, noch bevor er seinen Wohnort auserwählt“.3 Indem er mit der Doppelbedeutung des französischen Wortes „hôte“ spielt, betont Derrida einmal mehr: „Andererseits würden wir so an jenes unerbittliche Gesetz der Gastlichkeit erinnert: der Gastgeber, derjenige also, der den Gast empfängt und glaubt, Besitzer des Ortes zu sein, ist in Wirklichkeit ein Gast, der in seinem eigenen Haus empfangen wird.“4
Wenn Kosmopolitismus nicht mit Globalisierung verschmelzen kann, dann nur deshalb nicht, weil der Kosmopolitismus keineswegs auf eine substanzielle Selbstgenügsamkeit zurückgeht, sondern ganz im Gegenteil in seiner Organisation einem Besuch entspricht, dem allerersten Besuch der anderen Person. Der Kosmopolitismus empfängt Besuch, und es ist eben diese transzendentale Erinnerung an einen solchen ersten Besuch, die ihn für eine unbegrenzte Öffnung prädestiniert. Für Lévinas wie für Derrida trägt diese Markierung den Namen „Spur“. Der Kosmopolitismus reagiert in seiner Struktur auf die ethische Aufforderung, die Vergangenheit als Realität der Durchreise des Anderen („passage“), d.h. als „Spur“ zu betrachten.
Und auf genau diesem Aspekt möchte ich bestehen: Die Gastlichkeit, die auch eine Gestaltung der „Spur“ impliziert, wird sowohl von Lévinas als auch von Derrida eindeutig als „Gegenstück“ zur Plastizität begriffen. Sowohl in ihrer Idee als auch in ihrer konkreten Umsetzung ist Gastlichkeit, wie Lévinas sie versteht, nicht plastisch. Das heißt, Gastlichkeit gehorcht keineswegs dem Werk der Form, worunter wir das Annehmen und Geben von Form bzw. ihr Zunichtemachen verstehen. In ihrem Erscheinen wie auch in ihrer Zerstörung scheint Form Anderssein stets auszuschließen. Form ist immer die Form desselben, Zeichen der Ablehnung des Empfangs. Im Prinzip kann eine Form nicht gastlich sein; sie verbleibt immer im Bereich der Selbstidentität, selbst wenn sie explodiert: Auch der Terrorismus ist stets identitär.
Es geht also darum, die Gastlichkeit als etwas zu definieren, das außerhalb der Opposition von Form und Formlosigkeit steht. Derrida definiert dies als einen Schwelleneffekt („effet de seuil“). Die Schwelle wurde immer übertreten, überwunden von dem Anderen, dessen unvordenkliche Passivität keine Form annehmen, nicht in einem Bild zusammengefasst werden kann. Die Schwelle ist die Markierung der Nicht-Plastizität des Haushalts, ein Vorwort, welches das Buch einführt, ohne es komplett zusammenzufassen.
Dem Schwelleneffekt entspricht seine materielle Organisation. Im Haus ist es der Wohnraum in seiner Gänze, der gesamte Lebensraum, der als Schwelle gedacht werden muss, als Ort („lieu“) des Durch- bzw. Übergangs, an dem jeder Gegenstand, jeder Raum („pièce“) als Spur eines anderen Raums bzw. eines anderen Gegenstands erscheint. In Lévinas’ Werk gehorchen die beiden konstituierenden Achsen des Gastlichkeitsgefüges, die transzendentale und die empirische, einem Prinzip der Stellvertretung. Wenn es wahr ist, dass das Subjekt immer sowohl Gast als auch Geisel ist, trifft diese Wahrheit auf jeden Anderen bzw. jede Andere zu, und dann hat die/der Andere auch das Recht, den Platz jedes möglichen Anderen einzunehmen („est toujours substituable, en droit, à n’importe quel autre“). „Niederlegung oder Niederlage der Identität des Ich“, nennt es Lévinas. „Stellvertretung für den Anderen – der Eine an der Stelle des Anderen“.5 Diesem Stellvertreterprinzip entspricht der konkrete Grundriss des Lebensraums, ein Grundriss, der die Fähigkeit zu ersetzen und ersetzt zu werden („cette substituabilité“) in der Anordnung der Möbel und anderer Objekte reflektiert. Im Haushalt korrespondiert die ökonomische Stellvertretung mit der ethischen Stellvertretung: Gast und Möbel („meubles“) haben gleichermaßen die Fähigkeit, ausgetauscht zu werden; was dem Umstand zu verdanken ist, dass beide keinerlei essenziellen Wert besitzen. Das Wort „Möbel“ bezeichnet nicht nur den Gegenstand, es impliziert auch dessen „Mobilität“, es kann also weggetragen, weggefegt, wegbewegt werden. Haushaltsmöbel („les meubles“) setzen das Prinzip der Wandelbarkeit konkret um, sie werden ausgetauscht, gekauft, verkauft und repariert.
Den Lebensraum strukturiert folglich eine doppelte Stellvertreterdynamik, eine ethische und eine materielle, die so funktioniert, dass nichts an seinem Platz bleibt und sich alles immer an der Schwelle zu seinem Verschwinden befindet („se tient“). Die beiden Wandelbarkeiten, ethische wie materielle, sind nicht antithetisch. Sie widersprechen sich nicht, weil sie eigentlich auf dem gleichen Gesetz beruhen: der Unwandelbarkeit der Spur in Form.
Auf den ersten Blick bemerken wir die Gemeinsamkeiten von ethischer Substitution und wirtschaftlicher Substitution bzw. Austauschbarkeit gar nicht. Dennoch beharrt Lévinas auf deren Komplizenschaft, die ihm zufolge in der Unmöglichkeit besteht, sich in eine Form zu fügen. „Unter der Form“, so Lévinas, „verbergen sie [die Dinge] sich.“6 Ebenso wie das Antlitz („visage“) des Anderen weder auf seine Miene oder seinen Ausdruck („figure“) noch auch auf sein Abbild („figure“)7 reduziert werden kann, kann das Wesen der Dinge nicht auf ihre plastische Erscheinung reduziert werden. Ebenso widersetzen sich Gegenstände den formalen Regeln des Identischen auf ihre Art.
Mir scheint, als habe diese Ablehnung der Form im Namen der Spur die Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollständig beherrscht, die Malerei, die Architektur und vor allem das Design. Wenn ich etwas finden müsste, was dieses Prinzip veranschaulicht, würde ich in der Kategorie Horror und Karikatur (auch damit wir etwas zu lachen haben) Stanley Kubricks Film Shining (1980) auswählen. Für mich zeigt dieser Film einen Krieg zwischen dem Hang zur hegemonialen Dominanz (dem Vater, der ständig das Gleiche schreibt) und dem Widerstand des vollkommen Anderen (dem Sohn, der das „shining“, die Gabe der Hellsichtigkeit, besitzt und der eine Stimme in seinem Kopf hört). Bemerkenswert ist, wie jede räumliche Anordnung, in der der Krieg zwischen Paranoia und Schizophrenie sich entfaltet, aus Schwelleneffekten, aber nie aus Formeffekten besteht: Zimmer, Flure, Labyrinthe, Spuren im Schnee. Ist es nicht so, dass Schauplätze bzw. Orte der Gastlichkeit heutzutage eigentlich immer Hotels sind?
Shining ist vielleicht eine extreme Inszenierung dessen, was wir „grafische Ästhetik“ nennen können, die sich in zahlreichen künstlerischen Aktivitäten wiederfindet. Überquerungen und Transite, Reisen und Umwege („déplacement“), Linien und Markierungen, Auslöschungen, formelle Annullierungen; von der figurativen Reaktion stets abgelehnt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass das Vokabular der Differenz – „différence“ oder „différance“ – die Dynamik bildlicher Markierungen und Verräumlichung stets der Dynamik der Verwandlung, der Metamorphose oder der formalen Gestaltung vorzieht. Dekonstruktion ist zuallererst die Dekonstruktion der Form.
Allerdings hätte die Dekonstruktion in Plastik ihre loyalste Ausdrucksform gefunden, quasi einen materiellen „hôte“ – sowohl Gastgeber als auch Gast –, welcher sich der Idee der Gastlichkeit am ehesten als würdig erweist. Ist Plastik nicht sogar das Stellvertretermaterial schlechthin? Kann es nicht alles ersetzen, kann es nicht jede Vorstellung von Authentizität dekonstruieren, ist es nicht stets mit dem Prozess seines eigenen Verschwindens beschäftigt? Befindet es sich aufgrund seiner Wandelbarkeit nicht immer jenseits oder kurz vor seiner eigenen Formwerdung?
Allerdings müssen wir auf die Tatsache hinweisen, dass sich die Philosophie noch nie für Plastik interessiert hat. Einzig Roland Barthes hat ihm in Mythen des Alltags ein kurzes Kapitel gewidmet. Für ihn verkörpert Plastik „weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung“8. Mit seiner proteusartigen Fähigkeit, jede vorstellbare Form anzunehmen, birgt es schier unbegrenzte Möglichkeiten, gibt „angesichts der Wucherungen der Materie“9 immer wieder Anlass zum Staunen. Barthes warnt jedoch, dass die Fähigkeit des Plastiks, alles Mögliche zu werden, auch alles zunichtemachen könnte, indem es alle Unterschiede auflöst. Die Erfindung des Plastiks als Universalwerkstoff bringt ihn zu folgendem Schluss: „Die Hierarchie der Substanzen ist zerstört, eine einzige ersetzt sie alle: die ganze Welt kann plastifiziert werden.“10 Meiner Ansicht nach lässt sich Barthes’ Besorgnis hinsichtlich der Fähigkeit von Plastik, Unterschiede aufzulösen, generell auch auf die Gastlichkeit übertragen. Schließlich tritt Plastik nie ohne Form auf, Plastik gilt immer als Identifikations-, Standardisierungs-, Globalisierungsfaktor und nie als möglicher Empfang des Anderen.
Bei Kubrick sehen wir, wie Plastikdesign zum Todesboten wird. In Uhrwerk Orange (1971) ist die Mordwaffe meist ein Plastikgegenstand, sei es der weiße Plastikspazierstock mit seinem versteckten Dolch oder die Penisplastik.

Gastlichkeit und Plastizität
All dies legt den Schluss nahe, dass Gastlichkeit zwangsläufig und eindeutig ein Prinzip des Schutzes vor Plastik umfasst, das es ihr ermöglicht, Anderheit für die Form unerreichbar zu machen. Die Form würde Gefahr laufen, die Transzendenz zu zerstören, indem sie sie in ein synthetisches Ganzes integriert.
Aber was bedeutet „unerreichbar“? Was ist es, das intakt bleiben muss? Lévinas spricht vom unantastbaren, noch jungfräulichen Wesen der Alterität. Er unterstreicht den „absoluten Überschuß des Anderen im Verhältnis zum Selben“11 in seiner „unerschöpflichen“ („inépuisable“) Energie. In Verbindung mit der Frage nach dem Unerschöpflichen, nach dem Intakten und der Jungfräulichkeit möchte ich auf das Problem des Widerstands gegen den Widerstand zurückkommen und dabei auch die Unwandelbarkeit der Spur in eine Form infrage stellen.
Die Existenz von etwas zu bestätigen, das unwandelbar bleibt, was immer es auch sein mag, heißt zu bestätigen, das dieses Etwas in dem Stellvertreterspiel nicht mitmacht, im Kreis außen vor bleibt, sich selbst von der Ökonomie abtrennt. Das Unwandelbare reagiert auf eine Logik, die Derrida „An-Ökonomie“ nennt. Stellvertretung, als Gesetz der Gastlichkeit, auf etwas zu begründen, das unwandelbar bleibt, auf eine nicht ersetzbare Größe, ist folglich ein unhaltbares Paradoxon, das in meinen Augen die Idee der Gastlichkeit an sich von innen untergräbt.
Tatsächlich wird die Spur dann substanziell, wenn sie als absolut unwandelbar gilt, als vollkommen resistent gegen das Spiel des Austauschs, der Zirkulation, der Ökonomie der Gegenwart. Dann ist sie nicht länger eine Spur, sondern eine Substanz. Wenn die Spur nicht ihrer eigenen Wandlung in die Hände spielt, d.h. wenn sie gewissermaßen ihrer eigenen Auslöschung standhält, wenn sie nicht plastisch ist, dann ist sie, genau genommen, nicht länger eine Spur. Ich halte nichts von der Idee der Unwandelbarkeit der Spur. Es gibt nichts Unwandelbares.
Die Beteuerung der Unwandelbarkeit ist, für Marx, das Herzstück des Fetischismus. Allem Anschein nach taucht der Fetisch immer außerhalb einer Tauschoperation auf, außerhalb des Markts. In dem Moment, wo Anderheit durch den Widerstand gegen die Plastizität fetischisiert wird, wo man sich Gastlichkeit weiterhin als „Gegenstück“ zur Plastizität vorstellt oder – mit anderen Worten – als konträr zur Form, lässt sich Kosmopolitismus nicht länger streng vom Hyperkapitalismus unterscheiden.
Denkt man das Verhältnis zwischen Kosmopolitismus und Ort zu Ende, muss es eine andere Art der Beziehung zwischen Gastlichkeit auf der einen und Form und Wandelbarkeit auf der anderen geben, eine Beziehung, in der nichts der Transformation bzw. der Tauschoperation entgeht. Im Zuge der Dekonstruktion müssen wir die Spur auf den neuesten Stand bringen. Wir müssen uns die Beziehung zwischen Spur und Form mit mehr Bedacht vorstellen, genauer gesagt, das Wesen der erforderlichen Wandelbarkeit der Spur in eine Form, und zwar so, dass die nicht dekonstruierte Heiligung der Spur verhindert wird.
Es geht nicht darum, das unerschöpfliche und grenzenlose Wesen der Alterität zu verneinen. Jede Form des Widerstands setzt das Grenzenlose voraus, das seinen Ursprung woanders hat, die exotische Energie eines Übermaßes an Kraft. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass die Ökonomie des Unerschöpflichen das Wirkungsfeld der Plastizität keineswegs negiert, sondern es im Grunde definiert.
Das dreifache Spiel der Form – das Geben, das Annehmen und das Auslöschen von Form – bezieht sich letztendlich gar nicht auf drei separate Operationen, bei denen es einmal um die Auferlegung einer Form auf ein Material geht, dann um die Definition des Materials durch den Abdruck und schließlich um den nicht zu rechtfertigenden und unverständlichen terroristischen Akt der kompletten Auslöschung der Form. Im Grunde geht es nur um eine einzige Bewegung, die Formwerdung und Zerstörung verbindet, und diese Bewegung ist eben jene der Regeneration des Unerschöpflichen oder Grenzenlosen. In der Biologie bezieht sich „plastisch“ auch auf die Fähigkeit einiger Lebewesen, zum Beispiel des Salamanders, amputierte Körperteile zu regenerieren. (So kann der in Australien vorkommende Gemeine Blauzungenskink bei Gefahr seinen Schwanz abwerfen. Der Schwanzstumpf heilt sehr schnell ab, und nach einer Weile wächst der Schwanz nach.) Plastizität bezeichnet die Fähigkeit, Form an sich regenerieren zu können. Wir wissen heute, dass diese regenerativen Fähigkeiten kraft der Stammzellen in allen Organismen existieren. Regeneration, die Entstehung von Form – die Form neuer Gliedmaße, eines neuen Organismus oder einer neuen Zelle – kongruiert mit dem Auslöschen der Spur: der Spur der Wunde, der Spur des vormaligen zellulären Zustands. Diese regenerierende Bewegung vereint sowohl Formwerdung als auch Zerstörung, die Geburt einer neuen Form und den Niedergang einer anderen.
In Japan gibt es einen Park, den Yoro Park, der von den KünstlerInnen Arakawa und Madeline Gins konzipiert wurde. Dieser Park wird auch „Ort des umkehrbaren Schicksals“ genannt. Er besteht aus zahlreichen von den KünstlerInnen sogenannten „Landestellen“. Jede dieser Landestellen kennzeichnen zwei Schrägen, von denen eine in die Vergangenheit führt und die andere in die Zukunft. Es steht den BesucherInnen frei, diese Strukturen entsprechend der eigenen Erfahrungen zu interpretieren. Die BetrachterInnen können ihrem Schicksal eine Wendung geben, indem sie in ihre Kindheit zurückkehren oder altersmäßig voranschreiten oder beides gleichzeitig tun und sich dabei quasi regenerieren. In ihrem Buch Architectural Body schreiben die KünstlerInnen, der Park präsentiere sich als „eine offene Herausforderung an unsere Spezies, sich selbst neu zu erfinden“.12 Es handelt sich um die Umsetzung einer Architektonik der Regeneration durch unterschiedliche Arten von Formen und Einrichtungsgegenständen, die gewissermaßen wie Architekturstammzellen funktionieren.

Flexibilität und Widerstand
Abschließend möchte ich auf Lévinas’ doppeltes Prinzip der Gastlichkeit zurückkommen, ein transzendentales Prinzip und eine empirische Blaupause für die Ausstattung des „Living Rooms“. Ein Layout für plastische Gastlichkeit würde erneut die Artikulation der zwei Ebenen der Stellvertretung aufgreifen, die erste ethisch, die zweite materiell, doch würde sich dieses Layout auf die Wandlungsfähigkeit der Spur in eine Form gründen und nicht gegen sie stellen. Der Widerstand gegen den Kapitalismus besteht niemals in einer Bekräftigung der Existenz von etwas, das unwandelbar bleibt. Ganz im Gegenteil, wir stimmen in diesem Punkt mit Marx überein: Alles ist ersetzbar, alles ist austauschbar.
Der Widerstand besteht demnach in dem Versuch, in der Wandelbarkeit zwei Prozesse zu unterscheiden, die nach außen hin sehr ähnlich erscheinen: Plastizität und Flexibilität. Flexibilität bezieht sich ausschließlich auf das Erhalten von Form und vermischt sich mit reiner und simpler Anpassungsfähigkeit. Plastizität bezieht sich aufgrund ihrer Fähigkeit der Formgebung auf eine Anpassungsfähigkeit, die ihren eigenen Regeln gehorcht, eine Geschmeidigkeit, die sich gleichzeitig jeder Fügsamkeit erwehrt. Flexibel zu sein, heißt Form anzunehmen, einen Abdruck zuzulassen, verbogen zu werden, ohne zu brechen. Flexibilität heißt nachzugeben und nicht zu geben, fügsam zu sein, nicht zu explodieren. Der Flexibilität mangelt es im Grunde an den entscheidenden Mitteln der Formgebung; es mangelt ihr an Schaffenskraft, an Erfindungsgabe und somit an der Fähigkeit, einen Abdruck wieder auszulöschen. Flexibilität ist Plastizität, aber ohne deren Genie.
Somit betrachten wir Spur und Form nicht länger als Gegenstücke. Wir stellen der Plastizität ihren ideologischen Avatar gegenüber, ihr verkörpertes Missgeschick, und räumen gleichzeitig ein, dass wir niemals genau wissen werden, ob gastlich zu sein auch bedeutet, plastisch zu sein oder lediglich anpassungsfähig bzw. flexibel. Aber warum sollte man nicht versuchen, diesem Zögern dennoch eine Form zu geben?

Übersetzung aus dem Englischen: Gaby Gehlen

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Jaques Derrida, Adieu: Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Aus dem Franz. von Reinold Werner. München 1999, S. 77.
2 Ebd., S. 55.
3 Ebd., S. 79.
4 Ebd., S. 62.
5 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Aus dem Franz. von Thomas Wiemer. Freiburg/München 2011, S. 50.
6 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Aus dem Franz. von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München 1993, S. 275.
7 Das französische Wort „figure“ bedeutet hier 1. „Gesicht, Antlitz, Mimik, Aussehen“ und 2. „Abbild, Illustration, Bild, Diagramm“. Im Deutschen gibt es keinen Begriff, der beides umfasst [Anm. d. Übersetzerin].
8 Roland Barthes, Mythen des Alltags. Aus dem Franz. von Helmut Scheffel. Berlin 2008, S. 79.
9 Ebd., S. 80.
10 Ebd., S. 81.
11 Lévinas, Totalität und Endlichkeit, S. 136.
12 Madeline Gins/Arakawa, Architectural Body, University of Alabama Press 2002; Zitat übersetzt von Gaby Gehlen.