Heft 2/2014 - Netzteil


Die „Super Joden“ von Ajax

Zum Dokumentarfilm Superjews von Nirit Peled

Amir Vodka


Superjews (2013) ist ein Dokumentarfilm über die sonderbare Tatsache, dass sich Fans des Fußballklubs Ajax Amsterdam mit Spitznamen „Superjews“, also „Superjuden“, nennen. Die Absonderlichkeit hat viele Folgeerscheinungen. So lassen sich die Mitglieder des Fanclubs Davidsterne tätowieren, sie tragen israelische Fahnen und singen hebräische Lieder. Regisseurin Nirit Peled – eine Israeli, die in Amsterdam lebt und arbeitet – untersucht in ihrem Film die Geschichte dieser „Superjuden“ und das komplizierte Verhältnis der Stadt Amsterdam zu ihrer jüdischen Gemeinde. Parallel dazu macht sie sich Gedanken über ihre eigene Identität als Jüdin/Israeli in der Diaspora.
Superjews ist nicht nur ein Film über jüdische Identität, sondern über Identität im Allgemeinen. Wie hängt das individuelle Identitätsgefühl mit den Symbolen zusammen, die das Gemeinschaftsgefühl stiften? Peleds Film gibt keine Antwort, woraus jüdische Identität besteht, sondern lässt die Frage offen, um so die Widersprüche des jüdischen Daseins von heute aufzuzeigen. Und diese Widersprüche sind für JüdInnen und NichtjüdInnen gleichermaßen interessant.

Peled erzählt, der Anstoß, den Film zu machen, käme von einem Vorfall, den sie mit 20 erlebte. Sie war eben erst nach Amsterdam emigriert. Noch zu Hause in Israel hatte ihr der Vater empfohlen, den Davidstern an der Halskette lieber zu verstecken, um nicht als Jüdin erkennbar zu sein. Nur eine Woche später fuhr sie in einer Straßenbahn, die voller Ajax-Fans war. Sie trugen israelische Fahnen und Davidsterne auf ihren Mützen und T-Shirts und sangen Lieder auf Hebräisch. Peled bekam es mit der Angst zu tun und stieg aus. Während sie ihre jüdische Zugehörigkeit verheimlichte, schrien sie diese Fußballfans in alle Welt hinaus! Und sie nannten sich noch dazu „super Joden“!
Die meisten Amsterdamer Jüdinnen und Juden, die für die Doku interviewt wurden, darunter auch ein paar Ajax-Fans, empfinden die Sache als anstößig. Alle Jüdinnen und Juden, die heute in der Stadt wohnen, neigen dazu, ihre religiösen Symbole zu verbergen, wie es Peleds Vater empfahl. Sie wollen keine Schwierigkeiten. Komischerweise tragen just die nicht-jüdischen Ajax-Anhänger diese Symbole mit Stolz.
Peled erzählt, dass sie sich bei ihrer Ankunft in Amsterdam so gar nicht als „Superjüdin“, sondern als Flüchtling fühlte. Ausgerechnet sie, die von der Politik in Israel genug hatte und vor dem krassen Patriotismus und dem Fahnenkult dort geflohen war, musste mit ansehen, dass in ihrem Exil Menschen diesen Wahnsinn auf bizarre Weise übernahmen.
Der Film versucht, der jüdischen Identität auf den Grund zu gehen. Wer oder was ist eigentlich ein Jude? Peled ist selbst Jüdin, doch wie auch viele ihrer Generation weiß sie nicht, was das genau heißen soll. Während sie also jüdisch ist, obwohl sie sich nicht so fühlt, fühlen sich die von ihr befragten Ajax-Fans jüdisch, obwohl sie es nicht sind.
In Wahrheit gibt es keine wirkliche Antwort, was jüdische Identität ausmacht. Ist es die ethnische Herkunft? Oder die Religion? Ist es die Staatszugehörigkeit? Oder doch die Kultur? All diese Merkmale zusammen können die jüdische Identität ausmachen, aber auch jedes einzelne allein. Keines ist strikt notwendig. So glaubt Peled zum Beispiel nicht an Gott. Sie ist also nur eine Jüdin, weil ihre Mutter eine ist. Jemand, der zum Judentum konvertiert, ist nicht weniger jüdisch als sie. Und was ist mit den Ajax-Fans, die sich als Juden sehen? Sind sie, die ja bloß im Fußballstadion „konvertiert“ sind, echte Juden?

Offenbar scheint es ihnen wesentlich leichter zu fallen, Juden zu sein, als jemandem, der wie Peled in Israel geboren und aufgewachsen ist. Als säkulare Jüdin hat sie Probleme, ihr Judentum zu definieren. In Israel wird die Frage nach der jüdischen Identität kurzerhand mit dem Nationalismus beantwortet. Jüdin oder Jude zu sein bedeutet, Staatsangehörige bzw. Staatsangehöriger Israels und damit wehrpflichtig zu sein. In Israel fallen jüdische und israelische Identität also zusammen. Denn Israel ist ein Staat, der offiziell als jüdisch definiert ist und in dem Religion und Staat nicht getrennt sind. Der Staat benützt die religiösen Symbole des Judentums wie beispielsweise den Davidstern, um die Einheit von Staat und Religion und damit auch den Mythos von der „Rückkehr ins heilige Land“ zu festigen. Fast hat es den Anschein, als wären dieselben Menschen in dasselbe Land zurückgekehrt. Mehr als zwei Jahrtausende jüdischen Lebens in der Diaspora werden damit allerdings verdrängt.
Interessant ist, dass die Verwendung des Davidsterns durch die Ajax-Anhänger dessen offizielle Verwendung in Israel nachäfft. Beide passen das Symbol künstlich an ihre Bedürfnisse an und berauben es damit seiner ursprünglich religiösen Bedeutung.
Jedenfalls gilt Amsterdam als jüdische Stadt. Die Amsterdamer nennen sie seit Langem „mokum“, was auf Hebräisch so viel wie „Ort“ bedeutet, aber mit der religiösen Nebenbedeutung eines Orts, an dem Gott zu Hause ist. Das ist indessen weder der Grund des „Superjuden“-Phänomens noch des Engagements jener Handvoll Juden, die tatsächlich als Spieler oder Manager für Ajax tätig waren. Wie der Film zeigt, wendeten die „Superjuden“ den Ausdruck ironisch um, weil sie seit Langem von den Fans anderer Vereine als „Juden“ beschimpft worden waren. Eines Tages wurde das den Amsterdamer Fans zu viel, und sie begannen, jüdische Symbole affirmativ gegen ihre Feinde einzusetzen.
Nach Jean-Paul Sartre ist ein Jude ein Mensch, „den die anderen Menschen für einen Juden halten“. Der Antisemitismus definiert also, wer Jüdin oder Jude ist, und folglich „existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden“1. Ähnlich ist es mit den Ajax-Fans. Sie wurden zuerst von ihren Feinden „Juden“ genannt und erst dadurch zu „Juden“. Dies erinnert ein wenig an Mr. Klein im gleichnamigen Film von Joseph Losey aus dem Jahr 1976. Darin wird ein Nichtjude zur Zeit der Nazi-Besatzung Frankreichs zu einem „Juden“, weil ihn sein antisemitisches Umfeld fälschlicher Weise als solchen wahrnimmt. Aber wird man allein deshalb Jude, weil man als Jude wahrgenommen wird? Und warum sollte jüdische Zugehörigkeit ausgerechnet von den Feinden des Judentums festgelegt werden?
Durch ihren Namen bekunden die Ajax-Fans, dass sie das reale Judentum bloß als Metapher verstehen. Dies könnte man durchaus als Fortsetzung der christlichen Tradition begreifen, sich selbst zur „wahren Kirche Israels “ zu erklären und Jüdinnen und Juden damit auszuschließen. Obwohl aber die Verwendung der Metapher „Jude“ durch die Ajax-Anhänger laut Daniel und Jonathan Boyarin positiv gemeint ist, bleibt „jede Allegorisierung des Juden, so gut sie gemeint sein mag, extrem problematisch, weil sie jene, die historisch mit ihren materiellen Signifikanten verwurzelt sind, der Möglichkeit beraubt, für sich selbst zu sprechen und sich abzugrenzen“.2

Die materiellen Signifikanten echter Jüdinnen und Juden fungieren indessen auch als Symbole. Sie binden die „imaginäre Gemeinschaft“, wie sie Benedict Anderson nennt, zusammen. Es ist dies jene Gemeinschaft, die von den Menschen imaginiert wird, die sich als ihre Mitglieder wahrnehmen.3 Das Gleiche gilt für die „jüdische Gemeinschaft“ der Ajax-Fans. So meint auch Shayne Cohen im Rückgriff auf das Judentum in der Antike: „Das Judentum ist mehr als vielleicht alle anderen Identitäten imaginär; ihm entspricht keine empirisch nachprüfbare, objektive Wirklichkeit, auf die man mit dem Ausruf ‚das ist sie!‘ deuten könnte; das Judentum ist im Kopf.“4
Wie dem auch sei, die Ajax-Anhänger bestehen darauf, dass ihre Verwendung jüdischer Symbole nichts mit wirklichen Jüdinnen und Juden zu tun habe. Aber kann das Wort „Jude“ überhaupt von dem historisch damit bezeichneten Volk losgelöst werden? Wenn Fans der mit Ajax rivalisierenden Fußballklubs „Hamas! Hamas! Juden – ab ins Gas!“ schreien, sind doch die echten Jüdinnen und Juden auf das Grauenvollste betroffen!

Der Gebrauch jüdischer Symbole durch Ajax-Anhänger hat also einerseits nichts, andererseits alles mit wirklichen Jüdinnen und Juden zu tun. Während vor dem Zweiten Weltkrieg viele Amsterdamer Juden Anhänger von Ajax waren, wurden etwa 80 Prozent von ihnen in die Vernichtungslager der Nazis verschleppt, und der Rest durfte das Fußballstadion nicht mehr betreten.

Für viele Jüdinnen und Juden der älteren Generation symbolisiert die israelische Fahne so wie für Nirit Peleds Vater Schutz vor Verfolgung. Für Peled hingegen symbolisiert dieselbe Fahne nicht nur einen bitteren inneren Konflikt, sondern auch die ungerechte Besetzung der palästinensischen Gebiete. Für die Amsterdamer bedeutet die Fahne schlichtweg Ajax. Die Symbole an sich sind also bedeutungsleer. Doch unterschiedliche Menschen projizieren auf sie unterschiedliche Bedeutungen und sammeln sich um sie. Das trifft auf einen Fußballklub genauso wie auf den Staat zu. Beide erfinden eine imaginäre Identität rund um an sich bedeutungslose Signifikanten.
Im Film gibt es eine Szene, in der sich Nirit Peled während eines Spiels inmitten einer Masse von Ajax-Fans wiederfindet. Plötzlich beginnen die Fans begeistert „Wer nicht springt, der ist kein Jude!“ zu brüllen. Alle fangen an zu springen – außer Peled. Wer ist nun ein echter Jude?
Wenn der Film eine Definition jüdischer Identität anbietet, dann besteht diese in der Selbstentfremdung. Wie sagte Jacques Derrida so schön? „So wäre einer umso jüdischer, je mehr die Selbstidentität aufgelöst würde, je mehr er also sagte, ‚meine Identität besteht darin, nicht mit mir identisch zu sein, fremd zu sein, nicht mit mir übereinzustimmen!‘ Dann aber werden das Wort ‚Jude‘, das Attribut ‚jüdisch‘, die Qualität des ‚Jüdischen‘ und des ‚Judentums‘ in eine endlose Überbietung hineingezogen. Sie erlaubt zu sagen, daß man umso mehr Jude ist, je weniger man das ist, und folglich, dass man umso mehr Jude ist, je weniger man Jude ist“.5

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

1 Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage [1946]. Reinbek 1994.
2 Daniel und Jonathan Boyarin, Diaspora: Generation and the Ground of Jewish Identity, in: Critical Inquiry, 19/4 (Sommer 1993), S. 697.
3 Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983]. London 1991, S. 224.
4 Shaye J. D. Cohen, The Beginnings of Jewishness. Berkeley/Los Angeles/London 1999, S. 5.
5 Jacques Derrida, „Zeugnis, Gabe“, in: Elisabeth Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich: Gespräche. Frankfurt am Main 1994, S. 65.

http://vimeo.com/79442114