Heft 2/2014 - Lektüre



Jonathan Crary:

24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep

London (Verso)) 2013 , S. 72

Text: Thomas Raab


Die Frage der politischen Bewertung des technischen Fortschritts ist alleine deswegen interessant, weil die Bewertungen selbst seit jeher quer durch die politischen Lager verlaufen. Nehmen wir, grob vereinfachend, zwei mal zwei politische Lager in westlichen Staaten an. Legalisten seien jene, die im Großen und Ganzen auf die Integrität der derzeitigen – durch Eigentums- und Erbrecht ausgezeichneten – Verfassung beharren. Revolutionär nennen wir im Gegensatz dazu jene, die diesen Verfassungskern, das heißt den Kapitalismus, entfernen oder wenigstens abwandeln wollten. Der technische Fortschritt wiederum wird optimistisch oder pessimistisch bewertet. Es ergeben sich folgende Gruppen: optimistische Legalisten, pessimistische Legalisten, optimistische Revolutionäre und pessimistische Revolutionäre.
Jonathan Crary stellt unmissverständlich klar, der zuletzt genannten Kategorie anzugehören. Die von ihm mit 24/7 vorgelegte politische Technikgeschichte, vor deren Hintergrund er das massive Eindringen elektronischer Geräte in die einstige „Freizeit“ deutet, konstatiert eine kontinuierliche Dienstbarmachung sämtlicher Innovationen allein für die Interessen der herrschenden EigentümerInnen. Diese politischen Gegner werden etwas schamhaft hinter dem Abstraktum „Kapitalismus“ versteckt, wodurch die politische Zugkraft von Crarys Buch verschwommen bleibt.
Der Slogan „24/7“ bedeutet 24 Stunden an allen sieben Tagen der Woche im Einsatz, dienstbar zu sein. Zu Werbezwecken prangen diese Ziffern an vielen, auch kleinsten Unternehmen in den USA – an Lebensmittel- und Kopierläden, Telefonshops, allerlei Dienstleistern. Crary verwendet das Schlagwort indessen auch als Metapher, als eine Art Joker, um die kontinuierliche zwangsmäßige Aufblähung der Warenproduktion und Warenkonsumption inmitten der „Freizeit“ der arbeitenden Bevölkerung zu beschreiben.
Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg sei, so der Autor, eine immer stärker werdende Kontrolle der Arbeitenden durch elektronische Produkte wie das Fernsehen und – laut Crary nicht zufällig seit 1989 – das Internet und seine immer billigeren Endgeräte zu beobachten. Dies führe zu einem, bereits um 1990 von Guy Debord und Gilles Deleuze postulierten „integrierten“ Staat, in dem neben den Unterhaltungsmöglichkeiten auch die technische Überwachung von fälschlich affirmierenden, weil entfremdeten Arbeitenden als „Verbesserung“ hingenommen wird. Trotz immer umfassenderer Kontrolle verstehe es der Staat, der Bevölkerung ihre Zwangslage als „selbst gewählt“ erscheinen zu lassen. Zugleich werde der Sozialstaat ausgehöhlt und das durch Technik gleichgeschaltete Pseudoindividuum der Hölle der immer weiter zu steigernden Produktivität preisgegeben.
Doch der „reaktionäre Fortschritt“ durch Kannibalisierung der Körper stoße an biologische Grenzen. Crary ortet, darin der Romantik seiner Vorbilder aus der Frankfurter Schule ähnlich, im vorderhand unproduktiven Schlaf das allerletzte Widerstandspotenzial, dem allerdings nunmehr durch die Naturwissenschaft ein Ende bereitet wird. Die wissenschaftliche Kriegswissenschaft arbeitet bereits daran, unseren Stoffwechsel so zu verändern, dass Schlaf fürderhin zu einem Auslaufmodell werde.
Crarys leider recht ungeordneter Langessay ist insofern nicht nur den Frankfurtern, sondern auch deren Vorgängern Marx und Rousseau verpflichtet, als er implizit die These eines deterministischen Geschichtsablaufs übernimmt. Die technische Entwicklung verbessere zwar vielleicht die Grundversorgung, die medizinische Pflege etc., führe jedoch zugleich zu einer allgemeinen „Entfremdung“, die im elektronischen 24/7-Kapitalismus von heute ihre Vollendung fände.
Nun ist es, meine ich, unbestreitbar, dass sich gerade die neue, „immersive“ Mobiltelefontechnik auf die Psyche der UserInnen auswirkt, und zwar hauptsächlich durch das Erzeugen neuer Süchte. Auch dass vor allem Kinder und Jugendliche durch diese Süchte betroffen sind und in Zukunft betroffen sein werden, ist bereits deutlich zu erkennen. Crary indessen hält es nicht der Mühe wert, empirische Belege, geschweige denn Statistiken als Belege seiner Thesen zu nennen. Sein Text macht daher den Eindruck einer dystopischen Phantasmagorie, die sich an zweifellos verdächtigen Entwicklungen im „Innovationsbereich entzündet.
Warum aber gibt es überhaupt die große Nachfrage nach diesen Gadgets? Hier hat Crary nur den üblichen Zirkelschluss anzubieten: Die Nachfrage gäbe es, weil die – an sich „guten“, „revolutionären“ – Menschen entfremdet seien, und die Entfremdung gäbe es wegen der Manipulation, die wiederum durch die Entfremdung nicht als Manipulation usw. usf. Statt also – was für seine politischen Zwecke, sind sie ernst gemeint, doch so wertvoll wäre – Belege zu sammeln, zum Beispiel für rechtlich objektive Verwicklungen zwischen Wissenschafts-, Regierungs- und großen Wirtschaftsunternehmen und deren Interessenüberschneidungen, verirrt sich Crary in schnittigen, aber weder beweis- noch widerlegbaren Wortkaskaden, ohne je seine Begriffe zu definieren.
Hinter den Wortkaskaden schimmert den gesamten Text hindurch der wohlbekannte Fels der „Entfremdung“ durch die „instrumentelle Vernunft“, also der Technikpessimismus durch. Aber ist nicht jedes Denken „instrumentell“? Hat nicht jedes Denken notgedrungen ein Ziel? Und warum legt Crary seines nicht offen?