Determinismus
Der Determinismus ist eine philosophische Methodologie, die auf der Annahme beruht, jedes physikalische Ereignis könne auf eine Abfolge von Kausalitäten reduziert werden. Diese Sichtweise hat im letzten Jahrhundert gleichzeitig an Bedeutung gewonnen und verloren.
Gewonnen hat sie durch die stete Verfeinerung der mikrophysikalischen Untersuchungsinstrumente sowie durch die Entdeckung höchst komplexer Kausalitäts- und Determinationsmuster auf dem Gebiet der Biogenomik. Verloren hat sie dagegen sowohl in der Physik als auch in der Biologie, seit Heisenbergs Unschärfetheorie die Verbindung zwischen physikalischem Phänomen und BeobachterInnen verschwimmen hat lassen.
Das Genomprojekt ist im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aus der Annahme hervorgegangen, dass jeder lebende Organismus durch seine Gene determiniert ist, wie ein Code, der die Interpretation einer Botschaft ermöglicht. Die deterministische Reduktion zeigte sich hier vor allem in der Konzeptualisierung des Genomprojekts und deren Grundidee, dass die Ausprägung eines Organismus bereits in der Informationsstruktur des genetischen Codes enthalten ist. Nach der Kartierung des Genoms traten die deterministischen Schlussfolgerungen der biogenetischen Kartierung jedoch in den Hintergrund, weil WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen nunmehr die Bedeutung der Epigenese bei der Bildung lebender Organismen hervorzuheben begannen. Unter Epigenese versteht man die aleatorische und unvorhersehbare Wirkung der Umwelt auf die Entfaltung des biologischen Informationscodes, den Übergang von dimensionslosen Informationen in einen mehrdimensionalen Körper.
Gemäß der Epigenese stellt der Code in der Tat nur die Palette (oder Bandbreite an Möglichkeiten) dar, in deren Rahmen der Entwicklungsprozess stattfindet. Ein lebender Organismus darf nicht als die vorhersehbare Entfaltung der im Code enthaltenen Informationen angesehen werden, sondern vielmehr als Ergebnis einer ungeheuer komplexen Verhandlung zwischen Code und Umwelt, zwischen den im Code enthaltenen Informationen und dem physischen Ereignis. Bei der Epigenese geht es um den genetischen Informationsfluss, der immer auch Schwankungen unterworfen ist und der, wenn er auf seine Umwelt trifft, gemäß den Ereignissen in dieser Umwelt seine Richtung und Form verändert.
Hier zeigt sich die Schwachstelle des Determinismus: Er beruht auf der Annahme, dass Phänomene den vorhersehbaren Einsatz eines kodierten Entstehungsprozesses darstellen, und übersieht dabei den aleatorischen Schwankungsprozess, der zur Umsetzung einer Möglichkeit unter vielen führt. Aus diesem Grund ist der Determinismus letztendlich als Methodologie zur Beschreibung der Wirklichkeit ungeeignet.
Nichtsdestotrotz möchte ich vorschlagen, den Determinismus nicht bloß als Beschreibung, sondern als Projekt zu begreifen. Er kann in der Tat als Strategie angesehen werden, die auf dem Einfügen deterministischer Werkzeuge in einen lebenden Organismus und dessen Gehirn basiert. Die Technologie, mit deren Hilfe der Determinismus in menschliche Lebensbereiche eingefügt wird, nennt man kognitive Automation.
Kognitive Automation
Die Automatisierung kognitiver Aktivitäten wird sich zu einem der wichtigsten Trends der kommenden Jahre entwickeln und kennzeichnet einen Sprung in die posthistorische Dimension. Dem modernen humanistischen Verständnis nach ist „Geschichte“ ein Prozess der bewussten Bejahung freier Projekte im Bereich des politischen Handelns. Die kognitive Mutation, um die es hier geht, wird jedoch die historischen Beziehungen zwischen Bewusstsein, Politik und Freiheit auflösen. Automation wird die politische Entscheidung ersetzen, so dass sich der Begriff „Regierung“ im Wesentlichen auf automatisierte Entscheidungen und die automatisierte Interpretation von Daten beziehen wird: Dies bedeutet das Ende von Politik, Demokratie und bewusster Entscheidungsfindung sowie die Einrichtung einer automatischen Abfolge logischer Prozesse, die darauf abzielen, bewusste und freiwillige Entscheidungen zu ersetzen.
Unter den hyperkomplexen Bedingungen unserer Zeit – unser Gehirn wird mit zunehmender Geschwindigkeit einer wachsenden Flut von Informationsreizen ausgesetzt – ist soziales Handeln immer seltener das Resultat bewusst getroffener Entscheidungen und immer öfter das Ergebnis automatisierter Abfolgen von kognitiver Aktivität und sozialer Interaktion.
Innerhalb des derzeitigen (neohumanen) auf der digitalen Manipulation von Sprache und Leben basierenden Wandels kommt erneut eine Art theologische Abhängigkeit von menschlichem Handeln zum Vorschein. Technologisch-linguistische Automatismen verhalten sich im Grunde wie eine Art posthumanistischer Gott, dessen operative Kraft dem menschlichen Handeln und Willen unbegreiflich und überlegen ist.
Transhumanismus
Nach transhumanistischen Vorstellungen, dem utopischen Projekt der neohumanistischen Zivilisation, wird die Reduktion aller Prozess auf die informationelle binäre Alternative einem neuen lebendigen und bewussten Artefakt weichen, das menschliches Verhalten perfekt replizieren kann.
Die transhumane Vision ist definitiv Teil der deterministischen Strategie. Das transhumane Projekt basiert auf der Automatisierung kognitiver Aktivitäten und dem Upload der automatisierten kognitiven Fähigkeit in ein Artefakt. Allein die Annahme, bewusstes Verhalten sei die Auswirkung einer deterministischen Kausalitätsabfolge, macht es jedoch möglich, sich die Einführung eines technischen Automaten vorzustellen, der als perfekte Replik des Menschen agiert: der Android.
So überrascht es nicht, dass Ray Kurzweil – Philosoph, Technofuturist und Autor des Buchs The Singularity Is Near, in dem das Konzept des Transhumanismus vorgestellt wird – 2012 von Google angeheuert wurde und nun ein Programm namens Google Brain leitet, bei dem es um maschinelles Lernen und Sprachverarbeitung geht. Die Einschreibung deterministischer Automatismen in kognitive Aktivitäten und die konsequente Einschreibung deterministischer Abfolgen in den Bereich des Sozialen ist zentrales Element des Google-Imperiums, das darauf basiert, die Aufmerksamkeit der NutzerInnen zu erfassen und kognitive Handlungen in automatisierte Abfolgen zu übersetzen. Grundsätzlich ist die Einschreibung derartiger Sequenzen in sprachliche und kognitive Bereiche eine von Google praktizierte Methode zur systematischen Erzeugung automatisierter Subjektivität, bei der Kognition durch eine Abfolge automatischer Verbindungen ersetzt wird.
Dieses Projekt beinhaltet die Einfügung deterministischer Abfolgen in den epigenetischen Prozess an sich, während das transhumanistische Projekt darauf abzielt, den Spielraum der Epigenese zu verringern und die epigenetischen Ereignisse der Festlegung von algorithmischen, in Körper und Geist eingeschriebenen Sequenzen unterzuordnen.
Das neuroplastische Dilemma
2013 erklärte US-Präsident Obama das Projekt Brain Activity Map (BAM) zur bedeutendsten Wissenschaftsinvestition der USA im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. BAM oder die Kartierung der Gehirnaktivität ist eine Weiterführung des Genomprojekts, das sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf biotechnische und medizinische Anwendungen eine wichtige Rolle gespielt hat. Ziel dieser Projekte ist im Wesentlichen die Kartierung der unendlichen Kombinationsmöglichkeiten genetischer Informationen und neuraler Verbindungen. Gleichzeitig werfen sie wichtige philosophische Fragen auf: Die Entscheidung zwischen Determinismus und Unbestimmtheit wird im Großen und Ganzen auf dem Gebiet der Biomorphogenese, der Neuromorphogenese und der Entstehung von Ereignissen neu formuliert. Das noch neue Konzept der Neuroplastizität ist hier von entscheidender Bedeutung: Die Veränderung der körperlichen Bedingungen, unter denen kognitive Prozesse stattfinden, wirkt sich nicht nur auf die psycho-kognitive Aktivität aus, sondern auch auf ihr neurologisches Substrat.
In ihrem Buch Les Nouveaux blessés merkt Catherine Malabou an, dass der Schritt, den Freud von der Neurologie hin zur Sprache und Sexualität gemacht hat, heute wieder umgekehrt werden sollte. Wenn wir neuerdings zunehmende Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson erklären wollen, also Erkrankungen, die auf den physischen Abbau der materiellen Konsistenz des Gehirns zurückzuführen sind, müssen wir zu einem neurologischen Ansatz zurückkehren. Das Gleiche gilt für eine ganze Reihe von neuen Krankheitsbildern, die vor allem junge Menschen betreffen, die seit frühester Kindheit Stimulationsströmen aus digitalen Informationen ausgesetzt waren.
Wie das Konzept des Determinismus ist auch das der Neuroplastizität zweischneidig: Es ist zugleich Beschreibung des neuralen Systems als im Wesentlichen plastisch, aber auch die Voraussetzung für die Verfolgung einer bestimmten Strategie. Einerseits ermöglicht die Plastizität des neuralen Systems die Entwicklung eines Projekts der „Neurounterwerfung“ und der kognitiv uniformierten Mutation wie in der Google-Strategie, andererseits die Entwicklung eines Projekts der „Neuroemanzipation“ von der umgebenden Realität.
Die nahe Zukunft wird demnach von einem Dilemma überschattet: dem Dilemma zwischen der Anpassung des neuralen Systems an eine soziale und physische Umgebung, die für das menschliche Empfinden immer unerträglicher wird – und der autonomen Neuorganisation des allgemeinen Wissens (general intellect). Der erste Fall ist bereits weiträumig im derzeitigen Sozialverhalten erkennbar: Dank des globalisierten Mediensystems sind wir jeden Tag Bildern von unaussprechlicher Gewalt, massiver Folter, Erniedrigung, Not, Vertreibung und Deportation von Millionen von Kindern, Frauen und alten Menschen ausgesetzt. Aber wir lernen, unser Mitgefühl so weit herunterzufahren, dass Massenzynismus wie eine Art ethisches Betäubungsmittel wirkt. Als Folge dieser ständigen Konfrontation mit Bildern des Grauens wird das Moralempfinden desaktiviert, und es setzt ein psychologischer Gewöhnungsprozess ein. Die Empathie verkümmert, wenn man ständigen Gräueln ausgesetzt ist. Neuroplastizität kann daher als eine Art apathischer und unempathischer Automatisierung des kognitiven Verhaltens gedeutet werden, losgelöst vom emotionalen Gehirn wie ein Skotom, ein blinder Fleck.
Die Idee der Neuroplastizität lässt sich jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung wenden. Die Plastizität des neuralen Systems kann zur Voraussetzung für die grundlegende Neuprogrammierung des kognitiven Apparats in Bezug auf seine soziale Artikulation werden. Neuroplastizität könnte so der Reaktivierung emotionaler Empathie und politischer Solidarität dienen, beides notwendige Bedingungen für einen Prozess der Selbstorganisation des allgemeinen Wissens, das von ethischen und ästhetischen Empfindungen angetrieben wird und nicht von den unmoralischen Impulsen des wirtschaftlichen Wettbewerbs.
Neurotechnik: Bewusstsein und Evolution
Die kapitalistische Vereinnahmung und Klassifizierung des Gehirns ist ein endloser Prozess, weil der Unterschied zwischen Informationen (dimensions- und zeitlos) und Körper (mehrdimensional und zeitlich) eine unüberbrückbare Kluft darstellt. Das Spiel ist eigentlich aus, aber es bleibt weiterhin offen.
Der aktuelle theoretische Fokus auf Neuroplastizität kann den Weg ebnen für einen Prozess der Anpassung des Gehirns an eine Umgebung, die für einen Geist, der durch das vergangene Zeitalter der menschlichen Zivilisation geprägt wurde, in psychologischer, ästhetischer und moralischer Hinsicht von Tag zu Tag unerträglicher wird. Vielleicht geschieht die neohumane Anpassung, die Anpassung an den „konnektiven“ Modus der Kommunikation, die Anpassung an die Grausamkeit des Wettbewerbs, an die Barbarei und den Horror der Unterwerfung des Lebens sowie die Hinwendung zur finanziellen Abstraktion in Form einer Art sozialer Lobotomie: die pharmakologische oder chirurgische Abtrennung all dessen, was sich in der menschlichen Psychologie nicht mit der abstrakten Beherrschung vereinbaren lässt.
Es ist aber auch ein anderer Ausgang denkbar: Die Alternative liegt in der bewussten Fähigkeit des Gehirns, sich selbst zu formen, die nicht nur im Hinblick auf die Evolution, sondern auch auf das Bewusstsein eine Rolle spielt. Dies impliziert einen Prozess der eigenständigen Neuzusammensetzung der lebendigen Kräfte des allgemeinen Wissens (ein Prozess der gesellschaftlichen Organisation von geistigen ArbeiterInnen), die Neuzusammensetzung des allgemeinen Wissens mit seinem sozialen und erotischen Körper und einen Prozess der epistemologischen Neuverknüpfung der getrennten Bruchstücke des lebendigen Wissens.
Das ethische, ästhetische und psychologische Leiden der kognitiven ArbeiterInnen kann zum Auslöser für eine Neuorientierung des vernetzten Wissens werden, entwirrt und befreit von der krankmachenden Vorherrschaft des Finanzkapitalismus. Die postkapitalistische Neuorientierung des Wissens sollte nicht als Problem des moralischen oder politischen Willens begriffen werden, sondern im Hinblick auf die Anpassung der geistigen Aktivität an die neuroplastische Evolution des Gehirns und auf die bewusste Umwandlung der technologisch-neurologischen Umgebung. Unsere Aufgabe besteht also darin, uns Konzepte auszudenken für eine Abkehr von den ineffektiv gewordenen historischen Formen des politischen Handelns, hin zu einer evolutionären Perspektive neuer Aktionsformen, die derzeit noch nicht sichtbar sind.
Zuvor muss jedoch eine Frage beantwortet werden: Wie ist das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Evolution? Können wir uns eine nicht-deterministische Anpassung an die neuroplastische Evolution vorstellen? Können wir uns bewusstes Handeln vorstellen, das darauf abzielt, dem Evolutionsprozess des Gehirns eine Orientierung zu geben? Können wir die Neuroevolution bewusst steuern?
Die Beantwortung dieser Fragen erfordert, dass wir uns auf das Verhältnis von ästhetischem Empfinden und den erkenntnistheoretischen Grundlagen des sozialen Handelns konzentrieren. Darüber hinaus sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Schaffung einer Plattform (sozial, kulturell, institutionell, künstlerisch, neurotechnisch) für die Selbstorganisation des allgemeinen Wissens und die Neuzusammensetzung der vernetzten Aktivitäten von Millionen von geistigen ArbeiterInnen weltweit mit ihren sozialen, erotischen und poetischen Körpern richten.
Dies eröffnet meiner bescheidenen Meinung nach neues Potenzial für Veränderung und den einzigen Raum für Autonomie und politische Entscheidungsmöglichkeiten: Selbstorganisation des allgemeinen Wissens, Unabhängigkeit von vernetzten Automatismen, bewusste Selbstgestaltung der Neuroevolution.
Juni 2014
Übersetzung aus dem Englischen: Gaby Gehlen