Heft 1/2015 - Lektüre



Ilan Pappe / Luca Enoch & Claudio Stassi:

Die ethnische Säuberung Palästinas / Die Stern-Bande

(Haffmans & Tolkemitt / Panini) 2014 , S. 73

Text: Martin Reiterer


„Terrorismus“ wird im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts gewöhnlich unhinterfragt der Seite der Palästinenser zugeordnet. Ein Comic der beiden Italiener Claudio Stassi und Luca Enoch widmet sich nun einer israelischen Terroristengruppe der 1940er-Jahre: Die Stern-Bande, ursprünglich „Lechi“, nachträglich nach ihrem Gründer Avraham „Yair“ Stern benannt, gibt der Comicerzählung auch den Titel. Die militante zionistische Gruppe hat sich 1940 von der Irgun, einer weiteren Untergrundorganisation, abgespaltet, die ihrerseits (1931) aus der Hagana hervorgegangen ist, jener paramilitärischen Untergrundmiliz, die später mit der Gründung Israels 1948 in die offizielle Armee des Landes überführt werden sollte. Derlei Abspaltungen lassen eine zunehmende Radikalisierung zionistischer Aktivitäten zur Zeit des Britischen Mandats in Palästina erkennen.
Entgegen der brachialen Actionästhetik des Covers zeichnet der Comic selbst ein durchaus ernst zu nehmendes, anschauliches Porträt der Stern-Bande und möchte damit auch eine historische „Lücke“ schließen, wie es der Autor Enoch im Nachwort ausdrückt. So wenig diese Geschichte unter Nicht-ExpertInnen heute bekannt sein dürfte, so bemerkenswert und symptomatisch ist sie für den Weg, der in den 1940er-Jahren zur Gründung des Staats Israel führte.
Der Comic ist als Rahmenerzählung angelegt und setzt unmittelbar vor dem Attentat auf den UN-Vermittler, Graf Folke Bernadotte, im September 1948 ein, das aus Sicht der Gruppe einen Höhepunkt ihrer Aktionen darstellt. Dazwischen hält der künftige Mörder des UN-Vermittlers, Yehoshua Cohen, Rückblick, erzählt die Geschichte der Gruppe, ihre Beweggründe und Ziele, die sie kaltblütig verfolgt. Das Fernziel war dabei ein israelischer Staat innerhalb der biblischen Grenzen. Zu erreichen sei dieses so verstandene Eretz Israel nur durch eine gewaltsame Vertreibung der Palästinenser und die Zerstörung ihrer Dörfer – so weit und so eindeutig die terroristische Prämisse.
Das unmittelbare Ziel war es jedoch, die Macht der Briten zu brechen. Diesbezüglich sollte auch der 1944 verübte Anschlag auf den britischen Nahostminister Baron Moyne ein unzweideutiges Signal sein. Den Hintergrund bildete letztlich die Balfour-Deklaration aus dem Jahr 1917, die als eine Art Blankogarantie für die Errichtung eines jüdischen Staats in der Region ausgelegt wurde. In Anbetracht arabischer Einwände, die erst nach und nach ins Sichtfeld rückten, kam es zu Einschränkungen der Zugeständnisse vonseiten der Briten. Insbesondere Baron Moyne stellte sich als Feind der zionistischen Pläne heraus: „Das ist der Mann, der den jüdischen Flüchtlingen die Tore Palästinas vor der Nase zugeschlagen hat …“. Vier Jahre später hatte sich die britische Macht aus der Region zurückgezogen, seit 14. Mai 1948 gibt es den Staat Israel. Inzwischen war eine seit Dezember 1947 gezielt betriebene Vertreibung der Palästinenser – am Ende sind das 531 Dörfer, 11 Stadtviertel, 800.000 Flüchtlinge – bereits nahezu abgeschlossen. Dabei hervorgetan hat sich immer wieder auch die Lechi-Gruppe. Die Mission des schwedischen Grafen Bernadotte, der sich Ende 1945 besonders um die Freilassung jüdischer KZ-Häftlinge verdient gemachte hatte, galt nun der Verteidigung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge. „Mit der Beseitigung Bernadottes zeigen wir der Welt, dass es für die Vereinten Nationen genauso nichtig ist, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, wie es das für die Briten war!“, fasst ein Mitglied die Mission der Stern-Bande zusammen.
Interessant ist, was der Comic ebenfalls thematisiert, nämlich dass die Lechi, die anfänglich isoliert dasteht und vielfach angefeindet wird, allmählich ihr Image auch in der jüdischen Bevölkerung zu verändern vermag. Am Ende des Comics, anno 1960, sitzen Cohen, der Bernadotte-Mörder, und David Ben-Gurion, der ehemalige Premierminister, wie dies historisch auch belegt ist, im engen freundschaftlichen Gespräch zusammen.
Der Schulterschluss des offiziellen Staats mit einer Terroristengruppe aus dessen Gründungszeit, die ihre Missionen mit äußerster Brutalität durchgezogen hat, ist kein Einzelfall, sondern symptomatisch. Das geht auch aus Ilan Pappes Die ethnische Säuberung Palästinas hervor, eine akribische historische Untersuchung zu den Ereignissen in den Jahren 1947/48, die nicht allein in Israel auf heftigen Widerstand gestoßen ist. So ist das Buch, das bereits 2006 auf Deutsch erschienen ist, nun neu aufgelegt worden, was längere Zeit ungewiss war, nachdem der Autor, der selbst Israel verlassen hat und heute in Exeter lehrt, sogar Morddrohungen erhalten haben soll.
Pappe wird zur losen Gruppe Neuer Israelischer Historiker gerechnet, die seit Ende der 1980er-Jahre die offizielle Geschichtsschreibung des Landes einer Neubetrachtung unterzieht. Pappe wendet erstmals den Begriff der „ethnischen Säuberung“ im Abgleich mit der UN-Definition auf die Vertreibung von Palästinenser an, die zwischen Ende 1947 und 1948 stattfanden und von Letzteren als Nakba, die „Katastrophe“, erinnert wird. Mithilfe von überwältigenden Dokumenten aus Militärarchiven, Tagebüchern und Augenzeugenberichten zeichnet er nach, dass diese oftmals von Massakern begleiteten Säuberungen, Plünderungen sowie Zerstörungen nicht allein Methode terroristischer Kleingruppen waren, sondern als gezielter Plan der späteren Staatsgründer Israels, unter Anführung von Ben-Gurion, ausgearbeitet und gezielt umgesetzt wurden. Dieser „Plan Dalet“ (Plan D) verfolgte unzweideutig die „Entarabisierung“ Palästinas, wie die euphemistisch als „Transfer“ bezeichnete Säuberung auch genannt wurde, und die Zerstörung der zurückgelassenen Dörfer. Bezeichnend dafür war auch die instrumentelle Einbindung terroristischer Gruppen wie der „Stern-Bande“, die es erlaubte, nach außen hin Entschuldigungen abzugeben, ohne vom zionistischen Plan der Vertreibung abzurücken. Eine indirekte Bestätigung dieser gezielten Säuberungen kommt ausgerechnet von Benny Morris, der als Neuer Historiker eine überraschende 180-Grad-Wende vollzogen hatte und die Verbrechen als unvermeidlich legitimierte: Geradezu schockierend ist seine Kritik an Ben-Gurions nicht vollendetem Werk: „The non-completion of the transfer was a mistake.“1
Völlig im Gegensatz zu Morris hält Pappe eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern für möglich. Dazu müsste Israel jedoch mit jenen Geschichtsmythen radikal brechen, welche die zynische Ansicht verbreiten, die Zionisten seien in ein „ödes“ Land gekommen, um „die Wüste aufblühen“ zu lassen. Die Leugnung der historischen Realität der kaltblütigen Vertreibungen zeige sich in einer systematischen Auslöschung möglichst aller Spuren und Erinnerungen an die Nakba, in einer „Ökologisierung“ der Verbrechen, indem die zerstörten Dörfer der Palästinenser unter den neuen Freizeitparks und „Wäldern Israels“ begraben wurden. Das Unrecht an den Palästinensern werde durch diese „Politik des Vergessens“ ein zweites Mal an ihnen verübt. Im Übrigen sieht Pappe eine Lösung des Konflikts untrennbar an jenes Rückkehrrecht der Flüchtlinge gekoppelt, das als Vermächtnis des Grafen Bernadotte in die UN-Resolution 194 vom Dezember 1948 aufgenommen wurde.

 

 

1 Vgl. das Interview mit Benny Morris unter: www.deiryassin.org/bennymorris.html