Heft 3/2015


Fluchtpunkt Ethnografie

Editorial


Fluchtpunkt Ethnografie? Das Ethnologische, oder allgemeiner das Anthropologische, als Horizont eines vorwiegend auf sich selbst konzentrierten Kunstgeschehens? KünstlerInnen nicht unbedingt als EthnografInnen, aber in ihrem Tun bewusst oder unbewusst auf ein „ethnos“ (wörtlich „Volk“) hin ausgerichtet? Was auf den ersten Blick vermessen anmuten mag, hat zuletzt als Idee wieder neuen Auftrieb erfahren.
So wird in Ausstellungen seit geraumer Zeit über den Stellenwert alltagskultureller Gegenstände, die per se auf keinen künstlerischen Mehrwert hin angelegt sind, reflektiert. Objekte aus verschiedensten ethnografischen Zusammenhängen sind auf diese Weise wieder stärker in den Mittelpunkt des Weltkunstgeschehens gerückt. Das große globale Durcheinander lässt sich, so scheint es, abseits vom Kapital als universellem Nenner am besten entlang ethnischer Kategorien und Praxisfelder ordnen. Und genau derlei Praxiszusammenhang, so heterogen oder imaginär er auch sein mag, wird im Kunstbetrieb oftmals bemüht, um die Objektwelt mit einer rundum erneuerten Verbindlichkeit auszustatten.
Fluchtpunkt Ethnografie geht der Frage nach, inwiefern in diesem verstärkten Bezug auf nicht-künstlerische Objekte und Praktiken eine größere Diskursverschiebung erkennbar wird. Lässt sich an der Grenze Kunst/Nicht-Kunst, so diese je klar eruierbar ist, ein spezifischer Erkenntnisgewinn, ja vielleicht sogar ein Mehr an ästhetischer Erfahrung ausmachen? Oder tendiert die ethnografische Ausweitung künstlerischer Praxis zu einer immer stärkeren Nivellierung, die im Endeffekt keinem der beiden Bereiche wirklich weiterhilft? Oder, nochmals von der anderen Seite her gefragt: Liegt womöglich im alltagskulturellen oder ethnografischen Detail eine Qualität der Anschaulichkeit und Explizitheit, wie sie in der Kunst sonst mehr und mehr zu schwinden droht?
Susanne Leeb und Pascal Jurt nehmen in ihrem Gespräch Hal Fosters berühmten, inzwischen 20 Jahre alten Aufsatz The Artist as Ethnographer als Ausgangspunkt, um über die Veränderungen des Zusammenhangs von Kunst und Ethnologie zu räsonieren. Hatte Foster primär kritisiert, dass das ethnisch „Andere“ in der Gegenwartskunst häufig als Alibi herhalten muss, um über eigene Defizite hinwegzutäuschen, so stellt sich dieses Szenario (falls es je existiert hat) inzwischen ungleich differenzierter dar. Aktuell lässt sich etwa die Abgrenzung eines Selbst (oder Selbigen/Gleichen) von einem wie immer gearteten „Anderen“ nicht weiter aufrechterhalten – was zu entscheidenden Konsequenzen für eine ethnologisch orientierte Kunst führt. Leeb betont, dass es gegenwärtig mehr denn je um Verstrickung, Überlagerung, Solidarität und darin enthaltene Widerstände geht als um ein tendenziell immer schon suspektes „Othering“.
Derlei Verschränkung und Widerständigkeit kommt konkret in den Arbeiten von Kader Attia zum Ausdruck. Attia zeigt in seiner Collageserie Following the Modern Genealogy, die wir hier auszugsweise abdrucken, die Verflechtungen von „moderner“ französischer und „vormoderner“ maghrebinischer Architektur auf. Wobei auch die soziale Funktion, die etwa vornehmlich für MigrantInnen errichtete Wohnsiedlungen in französischen Vorstädten einnehmen, kritisch in den Blick gerät.
Die „Anderen“ auf ihre Fremdheit und Andersheit festzuschreiben, ist über die Pariser Banlieus hinaus traurige, ja desaströse politische Realität im gegenwärtigen Europa. Edit András nimmt exemplarisch die Situation in Ungarn ins Visier, um anhand des aktuellen Kunstgeschehens nach Auswegen aus dem identitären bzw. nationalistischen Paradigma zu suchen. In András’ Rundschau kommen vielerlei Aktivitäten zur Sprache, die Hoffnung geben, doch nütze dies alles nichts, wenn man nicht bereit ist, die grundlegende „Negativität der Kultur“ anzuerkennen. Diese reflexive, Identitätszwängen entgegenwirkende „Negativität“ geht auf einen Ansatz des Anthropologen Johannes Fabian zurück, der darin eine Grundbedingung ethnischen bzw. gesamtkulturellen (Über-)Lebens sieht.
Auf welche Weise das Ethnische (etwa im Sinne ethnischer Herkunft) in die künstlerische Praxis Eingang findet, oder ob nicht gerade in diesem Einfließen ein Grundproblem ethnografisch orientierter Kunst liegt, reflektiert Süreyyya Evren anhand von Beispielen aus der türkischen Kunstszene. Dass das „Authentische“, egal ob in armenischer oder kurdischer Herkunft begründet, immer auch der Destabilisierung bedarf, um nicht zur Formel zu gerinnen, ist eine von Evrens zentralen Folgerungen.
Nicolas Siepen schließlich rollt den Prozess der Einholung des „Anderen“ von der anderen Seite her auf: Ausgehend von zwei Anlassfällen bei verschiedenen Biennalen beleuchtet er das fortwährende Ansinnen, außerkünstlerische Materien, ja alltagskulturelle „Ethnien“ in den Kunstraum zu holen – wobei stets die Erfahrung einer hartnäckigen Grenze, so sehr diese auch vorübergehend außer Kraft gesetzt sein mag, bestehen bleibt. Ob sich diese Grenze, die nicht zuletzt die generelle Rahmenbedingung von Kunst betrifft, jemals profund infrage stellen lässt, ist auch vor einem erweiterten ethnografischen Horizont nicht einfach zu beantworten.
Im Zuge unserer „20 Jahre springerin“-Aktivitäten ist dieser Ausgabe ein eigenes, kleines Geschenk beigelegt: Auszüge aus Sanja Ivekovićs Lost & Found-Serie fanden sich bereits in der letzten Nummer; leider ist uns dabei ein bedauerlicher Fehler die Datierung betreffend unterlaufen, weshalb wir die erweiterte Serie nun in Form einer eigenständigen Broschüre aufgelegt haben. In Lost & Found sind Straßenansichten aus dem jugoslawischen und postjugoslawischen Alltag einander gegenübergestellt – auch das ein Beispiel, wie der ethnografische Fluchtpunkt der Kunst beschaffen sein könnte.